Unterscheidet man in der Beschäftigung mit der Geschichte des politischen Denkens idealtypisch zwischen der eher staubigen Arbeit der Archivierung und der staub-aufwirbelnden Munitionierung für zeitgenössische Auseinandersetzungen, so ist Geoffroy de Lagasneries Ambition vor allem letzterer zuzuordnen. Worum es dem französischen Philosophen und Soziologen in Michel Foucaults letzte Lektion, seiner jüngsten deutschsprachigen Publikation, insbesondere geht, ist die Mobilisierung eines Denkens, das er als „libertäre Tradition der Linken“ (S. 15) benennt und wertschätzt. Damit will de Lagasnerie gegenwärtige Tendenzen korrigieren, welche „Gemeinschaft“ gegenüber allem Individuellen und Partikularen vorziehen und „gemeinsame Institutionen“ wie Recht oder Moral zuungunsten jeder Art devianten Verhaltens aufwerten (S. 12). Vor allem aber geht es ihm um die Korrektur eines dominierenden Etatismus, das heißt darum, der „staatlichen Logik“ in die Speichen zu greifen (S. 99). Zumal für die Linke, die de Lagasnerie adressiert, stellt dieser Antikollektivismus und -etatismus eine harsche Herausforderung dar, beruft sich de Lagasnerie doch nicht zuletzt auf Säulenheilige des Neoliberalismus, wie etwa Friedrich August von Hayek oder Gary Becker. Die von diesen Sozialtheoretikern und Ökonomen entworfene Gesellschaft, so de Lagasnerie euphorisch, „setzt sich […] nicht das Ziel, die Individuen zu normieren und sie zu kontrollieren. Sie ist eine Gesellschaft der Pluralität. Sie ist von etwas wie ‚Toleranz‘ gegenüber Individuen, die Gesetze brechen und Wege abseits der Gesellschaft gehen, gekennzeichnet“ (S. 138). Und damit nicht genug. Als Zeugen für die provokante These, gerade neoliberale Denker lieferten die Munition für eine anstehende, libertäre Erneuerung der in ihrem Etatismus erstarrten Linken, stützt sich de Lagasnerie ausgerechnet auf Foucault. Bekanntlich gehören dessen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität mit ihrem Die Geburt der Biopolitik betitelten zweiten Teil zu den nicht nur frühesten, sondern auch umfassendsten Auseinandersetzungen mit der Geschichte neoliberalen Denkens. De Lagasnerie meint nun, in diesen Analysen Foucaults reich bestückte „Werkzeugkisten“ vor sich zu haben, denen die Instrumente zu entnehmen sind, die er für seine Attacke auf die etatistischen Kollektivismen der Gegenwart braucht. [1]
Dass die Teile der Linken, die sich über das Feindbild des Neoliberalismus definieren, de Lagasneries Vorgehen anstößig und provozierend finden werden, wird niemanden überraschen. Dass sich große Teile der Foucault-Forschung ebenfalls irritiert zeigen dürften, ist auch nicht verwunderlich. Denn nach dem Selbstverständnis dieser Forschung galten Foucaults entsprechende Analysen doch der Kritik der Machteffekte eines spezifisch neoliberalen Regierungswissens, das heißt der Kritik jener neoliberalen „Gouvernementalität“, die auf einer unternehmerischen Selbstregierung der Individuen fußt.[2] Stattdessen erscheint Foucault in de Lagasneries Deutung nun als Advokat einer libertär-anarchistischen Freiheitskonzeption, die gewisse Strategien nicht nur mit staatskritischen Positionen des Neoliberalismus teilt, sondern in der Tat auch normativ gut heißt (S. 139). In der Debatte, die sich jüngst um Foucaults Verhältnis zum Neoliberalismus entsponnen hat, nimmt de Lagasnerie damit eine spezielle Position ein. Während etwa die meisten Autoren des aktuellen Sammelbandes Foucault and Neoliberalism[3] aus hegemonietheoretischer Perspektive dieses titelgebende Verhältnis als skandalösen Flirt bezeichnen, der zum Verfall der fordistischen Linken beigetragen habe, stellt es für de Lagasnerie eine ausgesprochen glückliche Verbindung dar. Ganz auf dieser Interpretationslinie thematisiert de Lagasnerie gleich zu Beginn eine seiner Überzeugung nach problematische Form der Kritik am Neoliberalismus, die in der Linken, wie er glaubt, weit verbreitet sei. Diese Kritik beruhe auf einer romantisch-kollektivistischen Furcht, die im Neoliberalismus eine Bedrohung homogener Gemeinschaft, kollektiver Sittlichkeit und der sie verbürgenden, starken Hand des Staates ausmacht. Im Lichte dieser Kritik einer durch den Neoliberalismus kontaminierten Gegenwart erscheine der Linken die Vergangenheit als verlorener Hort einer guten Ordnung (S. 32). Angesichts eines solchen Fazits erweist sich Michel Foucaults letzte Lektion als ein Versuch de Lagasneries, der Linken eine Lektion zu erteilen, indem er ihr ein anderes, nämlich positiv eingefärbtes Bild des Liberalismus vor Augen hält, dessen Vergangenheit und Gegenwart Foucault beschäftigt hatte.
Da de Lagasnerie primär gegenwärtige Kollektivismen zu korrigieren sucht, hält er sich nicht mit einer philologisch akribischen Rekonstruktion jener Passagen aus Foucaults Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität auf, die dem Neoliberalismus gewidmet sind. Eine solche, durchaus auch systematisch argumentierende Rekonstruktion hat Lars Gertenbach schon vor einiger Zeit unter dem Titel Die Kultivierung des Marktes vorgelegt.[4] Vielmehr lässt sich de Lagasneries Vorgehen als Rekonstruktion verstehen, die, wie bereits angedeutet, von einer bestimmten normativen Überzeugung ausgeht. Ein nicht zu unterschätzender Verdienst dieser Herangehensweise besteht darin, neben den Gouvernementalitätsvorlesungen noch weitere, zeitlich angrenzende Texte aus Foucaults Werkstatt in der Absicht einzubeziehen, diese normative Einstellung zu plausibilisieren. So versucht er etwa durch Rückgriff auf die von Foucault 1975/76 gehaltene Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft zu belegen, Foucaults zentrale Intention zur Beschäftigung mit dem Neoliberalismus sei der Absicht geschuldet, eine neue Kritik des Staates artikulieren zu wollen. Im Fokus seiner Aufmerksamkeit stünde eine Kritik, die nicht mehr im klassisch liberalen Paradigma befangen bleibe, also nicht mehr die subjektiven Rechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber staatlichen Institutionen betone, ohne zu sehen, dass diese Rechte die Legitimität staatlicher Souveränität immer schon voraussetzen (S. 101–110). Ein Streitgespräch, das Foucault mit Noam Chomsky Anfang der 1970er-Jahre Über die Natur des Menschen führte, liefert de Lagasnerie eine weitere Bestätigung seiner Behauptung, Foucault verfolge anti-staatliche Absichten. Mit Bezug auf Widerstandsrechte betreffende Fragen habe sich Foucault explizit gegen eine Berufung auf Konzepte wie Legitimität oder Gerechtigkeit ausgesprochen, weil diese „in verschiedenen Typen von Gesellschaften erfunden und angewendet wurde[n] als ein Instrument einer bestimmten politischen und wirtschaftlichen Macht.“[5] Die Haltung, die de Lagasnerie zufolge Foucaults Beschäftigung mit dem Neoliberalismus motivierte, ist also eine radikal-kritische, für die bürgerrechtlicher Schutz, demokratische Legitimität und soziale Gerechtigkeit letztlich Ausdruck einer bestimmten repressiven (national)staatlichen Ordnung und Einheit sind.
Wer seine Interpretationen auf vermeintlich greifbare Intentionen von Autorinnen und Autoren stützt, kann sich im Zweifelsfall die trockene Arbeit im grauen Staub der Archive ersparen, läuft allerdings zugleich Gefahr, eigenen Projektionen aufzusitzen. Das gilt wohl auch für de Lagasnerie. Sein politisches Programm einer libertären Neuausrichtung der Linken färbt unübersehbar nicht nur die Art und Weise ein, in der er Foucault deutet, sondern auch sein Verständnis des Neoliberalismus. Deutlich wird diese Präformierung der Wahrnehmung bereits an der Auswahl des Materials, in dem sich die von de Lagasnerie favorisierte libertäre Einstellung niederschlägt. Während Foucaults Analyse zwischen einer kontinentalen und einer anglo-amerikanischen Strömung des Neoliberalismus unterscheidet, richtet de Lagasnerie seine Aufmerksamkeit vornehmlich auf die anglophone Tradition, insbesondere aber auf das Denken Hayeks. Damit gerät jedoch bereits auf der Ebene der Materialauswahl die noch heute einflussreiche deutsch-kontinentale Variante des Neoliberalismus aus dem Blickfeld, das heißt eben jener Ordo-Liberalismus, der sich – wie bereits sein Name verrät – auf eine wohlgeformte Ordnung beruft, die als solche schon erste Zweifel an de Lagasneries rein libertärer Lesart des Neoliberalismus wecken müsste.[6]
Doch der Reihe nach. Zu den wichtigsten Ergebnissen, die de Lagasnerie aus seiner Würdigung der Quellen gewinnt, gehört zunächst der Umriss einer neoliberalen Utopie, in der sich eine Gesellschaft größtmöglicher Individualität, sozialer Heterogenität und hoher Flexibilität skizziert findet. Die Nachtseite dieser Utopie sei die Vorstellung einer kollektiven Ordnung, in der sich die Individuen im Namen so uneinlöslicher Versprechen wie Autonomie oder Gerechtigkeit vergemeinschaften, sich also einer bestimmten Moral oder einem bestimmten Mehrheitswillen unterwerfen (S. 59 f.). Hayek habe diesen Begriff vom Sozialen mit dem Fundamentaleinwand attackiert, hinter jeder vermeintlich höheren kollektiven Zweck- oder Zielsetzung verberge sich stets nur individuelle Willkür (S. 74). Deshalb sei die einzige Ordnung, in der die partikularen, sich verändernden und mitunter durchaus konträren Zwecke von Individuen miteinander koexistieren könnten, diejenige des Marktes, die den Vorzug habe, sich spontan einzustellen (S. 55 f.). In der Verbindung dieses utopischen Versprechens einer konfliktentlasteten Pluralität mit einer Marktordnung, die größte Leistungsfähigkeit gewährleiste, macht de Lagasnerie – wie auch Foucault –den zentralen Unterschied zum klassischen Liberalismus aus. Sei diesem noch an der scharfen Abgrenzung einer Sphäre gelegen, die jeden Einzelnen vor etwaigen staatlichen Ein- und Übergriffen schützte, so betreibe der Neoliberalismus die ausnahmslose Vermarktlichung aller gesellschaftlichen Sphären, inklusive aller Staatlichkeit (S. 46).[7] Thatchers berühmten Ausspruch zitierend, so etwas wie Gesellschaft gäbe es gar nicht, akzentuiert de Lagasnerie den Neoliberalismus als die libertär-utopische Absage an jede Form sozialer, politischer oder moralischer Ordnung. Als hätten die Sex Pistols mit ihrer Forderung nach „Anarchy in the UK“ den Soundtrack zu Thatchers Machtübernahme geliefert.
So prägnant und provozierend de Lagasneries Porträt des Neoliberalismus ausfällt, so einseitig und verkürzt, also letztlich irreführend, stellt es sich dar. „Man muss“, so lautet de Lagasneries fragwürdige Aufforderung, „mit der Gewohnheit brechen, den Neoliberalismus als eine konservative oder reaktionäre Ideologie zu betrachten.“ (S. 37). Muss man das wirklich? Und wenn ja, warum eigentlich? Tatsächlich reicht ein etwas genauerer Blick in das Werk Hayeks oder in entsprechende ideologietheoretische Sekundärliteratur, um den Verdacht zu schöpfen, der Neoliberalismus sei bei Weitem konservativer als gemeinhin angenommen.[8] So ist es kein Zufall, wenn Hayek in seinem Hauptwerk Die Verfassung der Freiheit den Begriff „libertär“ als mögliche Selbstbeschreibung ausdrücklich ablehnt, weil eine solche Bezeichnung „zu sehr den Stempel des erfundenen Wortes“ trage. Stattdessen zieht er es vor, sich als „old whig“ im Geiste Edmund Burkes zu bezeichnen.[9]
Die in der Tat ausgesprochen konservative Stoßrichtung, die Hayeks Theorie spontaner Ordnung charakterisiert, ist mit Händen zu greifen: Ordnung ist für ihn ja nicht nur ein Synonym für den Markt, sondern Begriff eines Sozialen, das nach Hayek nicht das Resultat intentionaler Entwicklung ist. Hayeks Theorie dieses Sozialen reklamiert für sich, auf einer „anti-rationalistischen Einsicht in das historische Geschehen“ zu beruhen, die beweist, dass „Institutionen und Moral, Sprache und Recht sich durch einen Prozeß kumulativen Wachstums entwickeln“.[10] Was Hayek gegenüber jeder intentional angesteuerten, also etwa auch in emanzipatorischer Absicht gestalteten Sozialordnung vorzieht, ist folglich keineswegs Anarchie. Was ihm vorschwebt, ist vielmehr eine zutiefst de-politisierte und gewissermaßen schicksalhaft überkommene Ordnung, die nicht nur den Markt, sondern auch alle anderen gesellschaftlichen Sphären unter die Autorität gewachsener Hierarchien und Traditionen stellt.[11] Gerade vor dem Hintergrund eines derartigen Konservatismus, der im Übrigen nicht bloß für das politische Denken Hayeks konstitutiv ist, sondern für den frühen Neoliberalismus insgesamt, erstaunt es wenig, dass die Hayek nahe stehende britische Premierministerin ihrem bereits zitierten Diktum einen unüberhörbar konservativen Zungenschlag verlieh: „There is no such thing [as society]! There are individual men and women and there are families.“[12] Von Leidenschaften der Eisernen Lady für Punk und anarchistische Umtriebe ist nichts überliefert.
Mit seiner steilen These über die Intentionen Foucaults verstellt sich de Lagasnerie in Wahrheit den Blick auf dessen bedeutsamen analytischen Beitrag zur Funktion des Staates gerade im Denken des Neoliberalismus. Greifbar wird dieser blinde Fleck im Kontext von de Lagasneries Ausführungen zum Begriff der „Staatsphobie“, mit dem Foucault nach Auskunft seines Interpreten unterschiedliche Strömungen des Neoliberalismus auf einen gemeinsamen – eher affektiv-emotionalen denn rationalen – Nenner zu bringen versuche (S. 99). Freilich charakterisiert „Staatsphobie“ Foucault zufolge den neoliberalen Diskurs bestenfalls auf der Oberfläche, geht es dem Neoliberalismus doch keineswegs oder zumindest nur in Ausnahmefällen um eine grundsätzliche Abwehr des Staates, sondern lediglich um eine Ablehnung des ökonomisch und sozial intervenierenden Staates. So lehnt auch Hayek staatliche Steuern nicht per se ab, sondern ihre Ausgestaltung und Verwendung mit dem Ziel, soziale Verhältnisse entgegen ihrer spontanen Dynamik zu lenken.[13] Auch am deutschen Ordoliberalismus weist Foucault nach, dass dem Staat – im Sinne eines unverzichtbaren Hüters der Funktionsfähigkeit des Marktes – im neoliberalen Denken eine außerordentlich gewichtige Rolle zukommt. Diese Rolle beruhe auf der Vorstellung, „daß die Wirtschaft ein Spiel ist, daß es Spielregeln gibt, die vom Staat garantiert werden, und daß der einzige Berührungspunkt zwischen der Wirtschaft und dem Sozialen die Sicherheitsregel ist, daß kein Spieler ausgeschlossen wird“[14]. So obliegt es dem Staat, im Ordoliberalismus eine marktliberale Rechtsordnung auch gegen interventionistische und sozialpolitische Interessen durchzusetzen, um einen möglichst umfassenden Wettbewerb zu gewährleisten.
Last but not least wäre noch eine letzte Pointe Foucaults herauszustellen, die de Lagasnerie mit seiner These über Foucaults libertär-anarchistische Affinitäten zum Neoliberalismus verpasst. Gerade gegenüber dem für jede Variante des Neoliberalismus zentralen Wert der sogenannten Wirtschaftsfreiheit hegt Foucault massive Bedenken: Zu meinen, der im Neoliberalismus propagierte schlanke Staat, das heißt die geforderte massive Rücknahme von Staatstätigkeiten welcher Art auch immer, führe zu einer Limitierung der Macht, stellt für Foucault eine fatale Illusion dar. Vielmehr verbindet er mit dem Begriff der „Gouvernementalität“ eine Analyse, die den Zusammenhang herstellt zwischen einer Regierungskunst, die sich einerseits um die Durchsetzung marktliberaler „Spielregeln“ kümmert, und andererseits den Praktiken einer Regierung des „unternehmerischen Selbst“ Geltung verschafft, die der Mobilisierung und Pflege des eigenen Humankapitals gewidmet ist.[15] Diese von de Lagasnerie komplett ignorierte, subjektivierte Form der Macht, in der sich neoliberale Freiheit als ökonomische Selbstregierung äußert, sei „viel subtiler und geschickter“[16] als jede bloß repressive Gestalt von Machtausübung.
Die von de Lagasnerie eindringlich angemahnte Neuerfindung der Linken (S. 14) durch eine Reorientierung an den libertären Ressourcen des Neoliberalismus übersieht also letztlich seinen Zusammenhang mit einer konservativen Gesellschaftskonzeption, in der dem Staat als Hüter des Wettbewerbs weiterhin eine starke Rolle vorbehalten bleibt. Eine solche „Neuerfindung“ droht damit gerade jenen Machtkomplex zu reproduzieren, in dem sich eine aus der politischen Gestaltung weitestgehend gelöste spontane Ordnung der Marktgesellschaft mit einer Selbstregierung unter nun schicksalshaft erscheinenden ökonomischen Imperativen kreuzt.