Fabian Link | Rezension |

Wissen kompakt

Bernhard Schäfers präsentiert eine bündige Sozialgeschichte der Soziologie

Bernhard Schäfers:
Sozialgeschichte der Soziologie. Die Entwicklung der soziologischen Theorie seit der Doppelrevolution
Deutschland
Wiesbaden 2016: Springer VS
XX, 194 S., EUR 29,99
ISBN 978-3-658-12419-9

Soziologiegeschichte hat seit einiger Zeit Konjunktur.[1] Dabei wird im deutschsprachigen Raum vornehmlich Fachgeschichte betrieben, während angloamerikanische Autorinnen und Autoren eher Intellektuellen- und Wissenschaftsgeschichten der Sozialwissenschaften schreiben. Das Buch von Bernhard Schäfers, ehemaliger Leiter des Instituts für Soziologie an der Universität Karlsruhe und ausgewiesener Architektursoziologe, ist ein weiterer Beitrag zur Soziologiegeschichte als Fachgeschichte. Das Buch möchte gleichzeitig breit angelegte Geschichte der Soziologie und Einführungswerk für Studierende und Lehrende der Soziologie in die grundlegenden Ansätze des Faches sein. Der Untertitel Die Entwicklung der soziologischen Theorie seit der Doppelrevolution ist nicht ganz zutreffend, denn Schäfers behandelt nicht nur Theoretiker der Soziologie, sondern auch empirisch arbeitende Akteursgruppen und Akteure, so etwa die Chicago School of Sociology oder Helmut Schelsky.

Schäfers möchte die historischen Umstände der Entstehung der wichtigsten soziologischen Forschungsansätze darlegen und die allgemeine historische Entwicklung der Soziologie seit der „Doppelrevolution“ nachzeichnen. Unter „Doppelrevolution“ versteht der Autor die um 1770 zuerst in England einsetzende Industrielle Revolution und die Französische Revolution von 1789. Beide Ereignisse und ihre Wirkungsgeschichten sind für Schäfers die entscheidenden Momente für die Entwicklung der westlichen modernen Gesellschaften und für die damit zusammenhängende Entstehung der Soziologie.

Diese Doppelperspektive, mäandrierend zwischen Sozialgeschichte und Technikgeschichte auf der einen Seite und Soziologieschichte auf der anderen, ist methodisch richtungsweisend für Schäfers’ Buch. Der Autor leitet die einzelnen Kapitel jeweils durch einen sozial- und technikgeschichtlichen Überblick ein, danach folgt die Abhandlung der soziologischen Ansätze, die im entsprechenden Zeitraum entstanden sind. Schäfers‘ Anspruch, mit diesem Ansatz eine „Sozialgeschichte der Soziologie“ zu schreiben, wird allerdings nur teilweise erfüllt. Schäfers rezipiert fast ausschließlich Hans-Ulrich Wehlers drei Bände aus dessen fünfbändiger „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“.[2] Weshalb der Autor ausgerechnet Wehler folgt, wird an keiner Stelle begründet, genauso gut hätte er für seine historischen Überblicke auf wegweisende Arbeiten anderer Historikerinnen und Historiker, etwa David Blackbourn, Ulrich Herbert, Konrad H. Jarausch oder Thomas Nipperdey,[3] verweisen können. Offenbar versteht Schäfers unter einer „Sozialgeschichte der Soziologie“ die Verbindung von Wehlers Verständnis von Sozialgeschichte im Sinne der „Bielefelder Schule“ mit einer relativ konventionellen ideengeschichtlichen Darstellung von Gruppen großer Männer und einiger großer Frauen der Soziologie. Methodisch gesehen ist das Buch daher wenig innovativ und rezipiert, was detaillierter bei Wehler für die Sozialhistorie und bei vielen anderen Überblicks- und Einführungswerken für die soziologische Fachgeschichte nachzulesen ist.[4]

Ein weiteres Problem des Buchs stellt die an keiner Stelle begründete Auswahl der als zentral einzustufenden soziologischen Akteure und Ansätze dar. Immerhin fehlen für die heutige Forschung wichtige Soziologen wie Bruno Latour und dessen Akteur-Netzwerk-Theorie oder Anthony Giddens und dessen Theorie der Strukturation. Soziologien von Osteuropäern, etwa von den durchaus bedeutenden polnischen Soziologen Florian W. Znaniecki und Zygmunt Bauman oder des für die Frühzeit der Soziologie wichtigen, in Graz wirkenden Juristen und Soziologen Ludwig Gumplowicz, finden keine Erwähnung, und auch die sogenannte „Frankfurter Schule“ und René König werden nicht angeführt.[5]

Das Buch ist in sechs Teile gegliedert (A–F), beginnend bei der Aufklärung und der Industriellen Revolution und endend bei neuen „Determinanten der Sozialstruktur“, die den Wandel der Geschlechterverhältnisse und die Globalisierung thematisieren. Dazwischen geht Schäfers chronologisch vor und setzt die wichtigsten Ansätze vornehmlich französischer, deutscher und angloamerikanischer Soziologinnen und Soziologen in den Kontext historischer Abschnitte des 19. und 20. Jahrhunderts, wie der „bürgerlich-industriellen Gesellschaft“ (Teil B), der „Industrialisierung und Urbanisierung“ (Teil C), der „Modernisierung der Lebenswelt“ nach 1945 (Teil D) und der sich im Rahmen der digitalen Revolution etablierenden „Informations- und Netzwerkgesellschaft“ (Teil E). Schäfers sieht den Kern der Soziologie in ihrem Selbstbild als eine Wissenschaft, die theoretisches und empirisches Wissen zur Verwirklichung der „guten Gesellschaft“ bereitstellt. Diesen Anspruch sieht Schäfers als richtungweisend für alle von ihm behandelten Soziologen, von Auguste Comte über Herbert Spencer und Émile Durkheim bis hin zu Niklas Luhmann, denn auf die eine oder andere Weise bezogen sich alle diese Akteure auf die Aufklärung, auch wenn gerade Luhmann versuchte, der „Aufklärung ihre Grenzen zu zeigen“ (Zitat Luhmann, S. 148). Die mit der Französischen Revolution erhobenen Forderungen nach Freiheit und Gleichheit gelten Schäfers als Grundvoraussetzungen für die Entwicklung der modernen Soziologie. Diese Forderungen hätten „nichts von ihrer Dynamik und verändernden Kraft verloren“, sie „führen zu immer neuen Ansprüchen aus dem gesellschaftlichen Bereich und zu entsprechenden politischen Aktivitäten“ (S. 183). Diese sozialphilosophische Ansicht ist reichlich subjektiv und lässt die in der Soziologie zeitweise heftig debattierte Frage nach deren Zielen, ob Sozialtechnologie im Dienste des Status Quo oder kritische Gesellschaftstheorie zur Schaffung einer gerechteren Gesellschaft,[6] undiskutiert.

Positiv an Schäfers’ Buch ist die, wenn auch weitgehend unbegründete, Auswahl der von ihm behandelten Soziologien und deren Vertreter. Schäfers folgt nicht der gängigen Struktur bisheriger Einführungen in die Geschichte der Soziologie.[7] So erhält Manuel Castells’ hierzulande nicht allzu intensiv rezipiertes Konzept der „Netzwerkgesellschaft“ einen angemessenen Platz (S. 141–145). Castells‘ Ansatz ist deshalb wichtig, weil er Daniel Bells ältere Vorstellung von der postindustriellen Informationsgesellschaft mit der sich in der Folge der Globalisierung entwickelten weitgehenden Deregulierung der Finanzmärkte und der Liberalisierung der grenzüberschreitenden Transaktionen verbindet. Er liefert dadurch eine adäquate und problemorientierte Beschreibung der heutigen, auf wissenschaftlich-technischem Wissen und neoliberaler Ökonomie gleichermaßen beruhenden Weltgesellschaft.

Ungeachtet der angeführten kritischen Einwände ist die Lektüre des Buchs kurzweilig und lehrreich. Schäfers hat auf nur 189 Seiten eine in ihren Grundzügen schlüssige, kompakte und konzise Geschichte wichtiger soziologischer Ansätze vom späten 18. Jahrhundert bis heute vorgelegt, die sowohl im Unterricht Verwendung finden als auch als Nachschlagewerk dienen kann.

  1. Vgl. stellvertretend: Roger E. Backhouse/Philippe Fontaine (Hg.), The History of the Social Sciences since 1945, Cambridge 2010; Roger E. Backhouse/Philippe Fontaine (Hg.), A Historiography of the Modern Social Sciences, Cambridge 2014; Christian Dayé/Stephan Moebius (Hg.), Soziologiegeschichte. Wege und Ziele, Berlin 2015.
  2. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 5 Bde., München 1995.
  3. David Blackbourn, The Long Nineteenth Century. History of Germany, 1780–1918, Oxford 1998; Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014; Konrad H. Jarausch, Out of Ashes. A New History of Europe in the Twentieth Century, Princeton 2015; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1918, 3 Bde., München 2013 [1983, 1990, 1992].
  4. So etwa bei Dirk Kaesler (Hg.), Klassiker der Soziologie, 2 Bde., München 1999.
  5. Zu Latour: Henning Schmidgen, Bruno Latour zur Einführung, Hamburg 2010. Zu Giddens: Jörg Lamla, Anthony Giddens, Frankfurt am Main 2003. Zur sogenannten „Frankfurter Schule“ stellvertretend: Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte – Theoretische Entwicklung – Politische Bedeutung, 7. Aufl., München 2008 [1986]. Zu René König: Stephan Moebius, René König und die „Kölner Schule“. Eine soziologiegeschichtliche Annäherung, Wiesbaden 2015; Stephan Moebius, René König. Wegbereiter der bundesrepublikanischen Soziologie, Wiesbaden 2016.
  6. Etwa zwischen Jürgen Habermas und Niklas Luhmann in der Habermas-Luhmann-Debatte um 1970. Vgl. Manfred Füllsack, Die Habermas-Luhmann-Debatte, in: Georg Kneer/Stephan Moebius (Hg.), Soziologische Kontroversen. Beiträge zu einer anderen Geschichte der Wissenschaft vom Sozialen, Berlin 2010, S. 154–181.
  7. Vgl. z.B. Volker Kruse, Geschichte der Soziologie, 2. Aufl., Konstanz 2012 [2008].

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Gleb J. Albert.

Kategorien: Geschichte der Sozialwissenschaften Sozialgeschichte

Fabian Link

PD Dr. Fabian Link ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bergischen Universität Wuppertal und hält seine Titularlehre an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert, transnationale Geschichte des Faschismus sowie nationalsozialistische Wissenschafts-, Kunst- und Kulturpolitik.

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