Oliver Römer | Rezension |

Wozu und weshalb Soziologiegeschichte?

Ein Sammelband zur ungeklärten Situation einer Teildisziplin

Stephan Moebius / Christian Dayé (Hrsg.):
Soziologiegeschichte. Wege und Ziele
Deutschland
Berlin 2015: Suhrkamp
575 S., EUR 22,00
ISBN 9783518297445

Die Soziologiegeschichte befindet sich gegenwärtig in einer ungeklärten Situation. Sie fügt sich nicht in das gängige Schema der Bindestrichsoziologien, ist also keine spezielle Soziologie im üblichen Sinne, der ein bestimmter Ort oder eine bestimmte Funktion innerhalb des Faches zugewiesen werden könnte. Trotz aller Professionalisierungsbemühungen ist es bis heute auch nicht gelungen, Soziologiegeschichte beispielsweise als eine Teildisziplin der Wissenschaftssoziologie zu etablieren.[1] Die disziplinäre Unbestimmtheit erklärt zumindest teilweise ihre stiefmütterliche Handhabung innerhalb der universitären Soziologie: Lehrstühle, die zumeist in Kombination mit allgemeiner Soziologie oder soziologischer Theorie die Bezeichnung ‚Geschichte der Soziologie‘ tragen, werden im Zuge von Neubesetzungen oft umgewidmet (so zuletzt in Dresden). Qualifikationsarbeiten über soziologiehistorische Themen eilt auch deshalb der Ruf voraus, tendenziell karrierehinderlich zu sein. Monographien über ‚klassische‘ soziologische Autoren wie zuletzt über Max Weber gehören vorrangig zum Repertoire von Historikern (Joachim Radkau), Publizisten (Jürgen Kaube) oder emeritierten Soziologieprofessoren (Dirk Kaesler). Im universitären Lehralltag vieler bundesdeutscher Soziologieinstitute bleibt die Soziologiegeschichte zumeist auf eine kursorische Einführung zu den bis heute wirksamen ‚Klassikern‘ des Faches beschränkt. Vermeintlich wird Soziologiegeschichte so in die soziologische Theoriebildung integriert, die fortan ihre eigene von der Ideen-, Wissenschafts- und Sozialgeschichte losgelöste Fachgeschichtsschreibung betreibt – also einen nach wechselnden ‚Bezugsproblemen‘ jeweils variierenden „soziologischen Diskurs der Moderne“[2] fortschreibt, in dem auch dann immer wieder vergessene Namen aus der Vor- und Frühzeit der Disziplin auftauchen können (so zuletzt Gabriel Tarde[3]). Die Elastizität dieses modernen soziologischen ‚Klassikerdiskurses‘ ist bemerkenswert, wirft jedoch zugleich Fragen und Probleme auf. Ohne eine adäquate Rückbettung in sozial-, wissenschafts- und ideengeschichtliche Kontexte jedenfalls droht die Soziologie ihre eigene Fachgeschichte von ihren jeweiligen sozialen Entstehungsbedingungen loszulösen. Sie verzichtet also als eine erklärtermaßen empirische Wissenschaft auf ein gutes Stück Empirie, das Aufschluss über den genuinen Ort und die historische Bedingtheit ihrer eigenen, heute noch fruchtbaren Traditionsbestände geben könnte.

Dass diese Fragen in der jüngeren Vergangenheit bereits Gegenstand der wissenschaftsgeschichtlichen Diskussion gewesen sind und dass sich weitgehend losgelöst von der rein theoriegeschichtlichen Auseinandersetzung ein weitgehend eigenständiger soziologiehistorischer Forschungsstrang herausgebildet hat, dokumentiert der von den beiden Grazer Soziologen Christian Dayé und Stephan Moebius im Suhrkamp-Verlag herausgegebene Band Soziologiegeschichte. Wege und Ziele. Auch wenn dieses Buch dabei grundsätzlich als ein Plädoyer für eine stärkere disziplinäre Anbindung der Soziologiegeschichte gelesen werden muss, verzichtet es auf eindeutige programmatische Zuspitzungen. Statt eines abschließenden Fazits versucht der Band, auf der Grundlage einer Sammlung von neueren internationalen und deutschsprachigen Debattenbeiträgen eine weiterführende Diskussion über den Stellenwert der Soziologiegeschichte anzuregen. Dies verdeutlicht bereits sein Untertitel Wege und Ziele, der angesichts der Heterogenität der hier versammelten Positionen streng genommen mit einem Fragezeichen zu versehen wäre. Angesichts der gegenwärtigen Situation der Soziologiegeschichte muss diese Unentschiedenheit allerdings kein Nachteil sein. Vielmehr schließt das Buch eine Lücke, denn erstmals seit Jahrzehnten wird die Frage der grundsätzlichen Verortung der Soziologiegeschichte ins Zentrum gerückt und in gebündelter Form aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Zuletzt war dies in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft mit der von Wolf Lepenies im Jahre 1981 herausgegebenen Sammlung Geschichte der Soziologie der Fall.

Dass sich die Situation der Soziologie und der Soziologiegeschichte seither grundlegend verändert hat, wird bei einem Vergleich der Geleitworte der beiden Sammlungen deutlich. Lepenies formulierte einleitend noch explizite Rahmenrichtlinien für die soziologiegeschichtliche Forschung, spitzte die Aufgabe Soziologiegeschichte auf eine wissenschaftshistorisch informierte Suche nach der kognitiven, sozialen und historischen Identität der Disziplin zu und versuchte sie offensiv in Richtung einer „Institutionengeschichte des Faches“[4] zu verlagern. Diese Überlegungen aufgreifend bemerken Dayé und Moebius hingegen über drei Jahrzehnte später, dass es nicht zuletzt angesichts der „fortgeschrittenen Fragmentierung der Soziologie“ (8) problematisch sei, der Soziologiegeschichtsschreibung von vornherein eine identitätsstabilisierende Funktion für eine ganze wissenschaftliche Disziplin zuzumuten. Lepenies selbst schrieb in einer Zeit, in der die Soziologie in Westdeutschland von ihren wissenschaftspolitischen Institutionalisierungserfolgen zehren und auf paradigmatische ‚Schließungseffekte‘ hoffen konnte. Sein Kompendium erschien bezeichnenderweise zwischen dem 1974 unter der Überschrift Theorienvergleich abgehaltenen Kasseler Soziologiekongress und der Veröffentlichung der beiden großen Theorieentwürfe von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, die jeweils auf unterschiedliche Weise paradigmatische Rahmungen für eine hochgradig differenzierte und empirisch-orientierte Einzelwissenschaft versprachen. Dayé und Moebius wissen hingegen, dass diese Erwartungen an eine fortschreitende ‚Verwissenschaftlichung‘ der Soziologie weitgehend enttäuscht wurden – nicht zuletzt, weil sie bis heute kein integratives Entgegenkommen auf der Ebene der facheinheitlichen Theoriebildung fanden.

Diese Ausgangssituation verunmöglicht es, das von Lepenies avisierte identitätsstabilisierende Gespräch zwischen soziologischer Theoriebildung und Disziplingeschichte ungebrochen fortzusetzen. Da aber Soziologiegeschichte nicht zum bloßen Selbstzweck ohne konkrete Anbindung an die Fachwissenschaft werden soll, bieten sich für Dayé und Moebius zunächst zwei alternative Selbstverortungen an: Soziologiegeschichte könnte erstens mit dem amerikanischen Soziologen Richard Swedberg als ein in spezifische Forschungszusammenhänge eingebettetes „Arbeitsgedächtnis“ (9) begriffen werden. Sie wäre dann gerade nicht mehr auf eine die Facheinheit sichernde allgemeine Soziologie zu beschränken. Zweitens sei auch eine soziologische Form der Geschichtsschreibung ausgehend von der Wissenssoziologie „als Reflexionsgeschichte der Gesellschaft und ihrer Selbstbeobachtung“ (ebd.) denkbar. Die Soziologie wäre dann als eine jeweils variierende Form der Selbstbeschreibung von Gesellschaft neben anderen zu verstehen, und von diesem Verständnis ausgehend wären ihre historischen Besonderheiten zu erarbeiten.

Diese offene Frage gebietet es, anstelle von paradigmatischen Vorentscheidungen unterschiedliche Positionen anhand von ausgewählten Texten miteinander ins Gespräch zu bringen. Der erste Teil des Buches ist allgemein der Frage nach der Methodologie der Soziologiegeschichte gewidmet, insbesondere dem Problem, wie die Soziologiegeschichte vor und jenseits konkreter Anbindungen an die Fachdisziplin auf ein solides wissenschaftstheoretisches und -historisches Fundament gestellt werden könnte. Neben einem bereits publizierten Beitrag des Bremer Soziologen Lothar Peter, der kritisch an die Überlegungen von Lepenies anschließt, finden sich in dieser Rubrik ein Ausschnitt aus einem zuvor unveröffentlichten Vortrag von Friedrich Tenbruck und ein Originalbeitrag des Grazer Soziologen Christian Fleck.

Beide Texte können bereits als Ausdruck der das gesamte Buch durchziehenden Unentschiedenheit bezüglich der Rolle der Soziologiegeschichtsschreibung gelesen werden. Diese Unentschiedenheit manifestiert sich hier in den Bestimmungen der historischen und wissenschaftlichen Grenzen der Soziologie. Tenbrucks Überlegungen tendieren dazu, die Soziologiegeschichtsschreibung auf die Erfordernisse einer geisteswissenschaftlich orientierten Sozialwissenschaft einzustellen und gegenüber einer Geschichte der gesetzesorientierten Naturwissenschaften abzugrenzen.

Hingegen plädiert Fleck in seinem langen, durch forschungspraktische Beispiele angereicherten Beitrag für eine soziologische Geschichtsschreibung der Soziologie, die die Soziologiegeschichtsschreibung aus ihren geisteswissenschaftlichen Fundamenten löst. Die Fachgeschichte soll unter Einbeziehung empirischer Mess- und Erhebungsverfahren verfasst und damit typische Verzerrungen historiographischer Einzelfallstudien vermieden werden. Tenbrucks idiosynkratrischem Soziologiebegriff wird zugleich auf diese indirekte Weise von Fleck ein pragmatisch anmutender ‚Arbeitsbegriff‘ entgegengesetzt, der sich per Definition auf „die sich entfaltende wissenschaftliche Disziplin dieses Namens mit all ihren Facetten“ (42) bezieht.

Die zweite Rubrik Historiographische Ansätze widmet sich zeitgenössischen Ansätzen einer Soziologiegeschichtsschreibung. Auffällig ist, dass sich in diesem Teil – mit Ausnahme eines kleinen Beitrages von Dirk Kaesler über den Status von Klassikern für die Soziologiegeschichte – ausschließlich Texte nichtdeutscher AutorInnen finden. Dieser Umstand macht darauf aufmerksam, dass eine Debatte über methodische Zugänge zur Soziologiegeschichtsschreibung hierzulande bislang weitgehend ausgeblieben ist. Kaeslers Überlegungen können dabei einerseits als eine Weiterführung der bereits bei Lepenies diskutierten Probleme der Identitätsstabilisierung der Soziologie gelesen werden. Die historische Entstehung der Soziologie aus einer Vielzahl von Einzelwissenschaften rückt die Frage nach den spezifischen „Standards einer wissenschaftlichen Disziplin“ (196) in den Mittelpunkt. Eine Beantwortung findet diese Frage in einer Klassikergeschichte, die anhand relevanter klassischer Positionen ein Niveau wissenschaftlicher Praxis sichtbar zu machen habe, das zwar einerseits historisch entstanden sei, andererseits jedoch „zum eigenen heutigen Nutzen der Soziologie“ (ebd.) nicht mehr unterschritten werden sollte. Kaeslers anschließendes engagiertes Plädoyer für eine offensive gesellschaftliche Rolle der Soziologie, das etwa an die Position des späten Karl Mannheim erinnert[5], stellt überdies einen engen Zusammenhang zwischen den wissenschaftlichen Fortschritten der Soziologie und den Fortschritten der Gesellschaft her. Das „Haus der Soziologie soll vor allem ein Schulhaus für engagierte Intellektuelle“ (207) sein.

Ebenfalls an der Relevanz der Klassikergeschichtsschreibung orientiert sich Donald N. Levines Beitrag. Allerdings fragt Levine nicht nach einer über die Fachgeschichte hinausgreifenden allgemeinen intellektuellen Orientierungsfunktion der Klassiker, sondern beleuchtet am Beispiel Emile Durkheims unterschiedliche soziologiehistorische Narrative der Klassikerinterpretation. Die so konstruierten Vergangenheiten der Soziologie werden als Rechtfertigungsstrategien „für bestimmte Zukunftsorientierungen rekonstruiert“ (231), sodass ein nur selten explizit thematisierter Zusammenhang von Klassikergeschichtsschreibung und soziologischer Theoriediskussion konstatiert wird. Unterschiedliche Klassikerrekonstruktionen können als soziologiegeschichtliche Indikatoren für wechselnde Konjunkturen in der soziologischen Theoriebildung interpretiert werden.

Jennifer Platt hingegen wendet sich in ihrem Beitrag gegen einen biographischen „Verherrlichungsansatz“ in der Soziologiegeschichtsschreibung, „in dem die soziologischen Bauern und Arbeiter keine Rolle spielen“ (150). Dieser Punkt macht damit auf ein Kardinalproblem einer Klassikergeschichtsschreibung aufmerksam, die dazu neigt, wissenschaftliche Innovationen auf das Wirken einzelner großer Männer zu reduzieren. Eine Schwierigkeit einer auf Klassikerdarstellungen beschränkten Soziologiegeschichte besteht darin, dass sie den zunehmend arbeitsteiligen Prozessen des zeitgenössischen Forschungsbetriebs nicht gerecht werden kann. Deswegen besteht die Gefahr, dass die Geschichte der Soziologie nachträglich historisierend von der Wirklichkeit des wissenschaftlichen Betriebes entkoppelt wird. Platts Beitrag kann vor diesem Hintergrund als ein Plädoyer für eine tiefergreifende Erforschung der vor allem in den USA sehr ausgeprägten Kultur des autobiographischen Schreibens interpretiert werden. Neben dem Versuch einer grundlegenden methodischen Einordnung von individuellen Lebensgeschichten in die Soziologiegeschichte versäumt es die Autorin jedoch leider, sich kritisch mit den Möglichkeiten des autobiographischen Schreibens insgesamt auseinanderzusetzen. Wichtig wäre in diesem Zusammenhang nämlich auch eine Reflexion der beispielsweise in den Literaturwissenschaften geführten Diskussion über unterschiedliche Modi der Selbstdarstellung von Lebensgeschichten, die neben der Autobiographie allemal das davon zu unterscheidende Genre der Lebenserinnerungen umfasst.[6]

Die drei aufeinanderfolgenden Beiträge von Randall Collins, Andrew Abbott und Charles Camic stellen im Gegensatz zu den anderen Texten des Bandes eine direkt zusammenhängende Kontroverse über soziologische Zugriffe auf die Soziologiegeschichtsschreibung dar. Als erster und ausgehend von einer mikrosoziologischen Theorie der Interaktionsrituale diskutiert Collins die Soziologiegeschichte als Geschichte sich verselbständigender Intellektuellengruppen, in der bestimmte wissenschaftliche Lehrmeinungen den Status quasi-religiöser Dogmen erhalten.

Den von Collins behaupteten Diskontinuitäten in der sozialwissenschaftlichen Wissensproduktion stellt Abbott in einem Selbstkommentar zu seinem 2001 erschienen Buch Chaos of Disciplines einen Beitrag gegenüber, der auf „Selbstähnlichkeiten“ in wissenschaftlichen Disziplinentwicklungen fokussiert. Statt radikaler paradigmatischer Brüche in der Entwicklung des Wissens gelte es „Wiederentdeckungen“ zu thematisieren, die „oftmals in neuen Zusammenhängen [...] die alte Bedeutung subtil modifizieren“ (291). Abbott will „die Geschichte der ‚Wellen‘ und ‚Turns‘“ (ebd.) in eine langfristige Entwicklungstheorie einpassen, die er beispielhaft an einer nichtlinearen Theorie der fraktalen Unterscheidung zu erläutern versucht. Der Umstand, dass Abbott diese Überlegungen in die Richtung einer allgemeinen Sozialtheorie auszubauen gedenkt, lässt die Prognose zu, dass sich die Theorie der fraktalen Unterscheidung bald selbst – möglicherweise in Erweiterung zeitgenössischer soziologischer Differenzierungstheorien – als günstig für einen weiteren sozialtheoretischen ‚Turn‘ (‚fraktale Differenzierung‘?) erweisen könnte.

Charles Camic, der sich in den letzten Jahren gemeinsam mit Neil Gross um die methodischen Grundlagen einer New Sociology of Ideas verdient gemacht hat, wirft Collins und Abbott schließlich vor, in ihrer Geschichtsschreibung nur das wissenschaftliche Feld im Blick zu haben, gleich ob nun auf „Spezialistennetzwerke“ (Collins) oder „dichotome intellektuelle Positionen“ (Abbott) fokussiert werde. Ein Wandel sozialwissenschaftlicher Forschungskonjunkturen ließe sich dagegen nur hinreichend erklären, wenn außerwissenschaftliche Einflüsse über das Feld hinaus berücksichtigt würden. Exemplarisch versucht Camic dies am Verschwinden des Charakterbegriffes aus der amerikanischen Soziologie seit den 1930er-Jahren zu verdeutlichen. Dieser Prozess sei nur dann erklärbar, wenn man um die nachlassende soziale Bedeutung der „Charaktererziehungsbewegung“ an amerikanischen Grund- und Mittelschulen wisse.

In eine ähnliche Richtung, nämlich darauf, innerhalb der Disziplingeschichte einen Bezug auf außerwissenschaftlichen Bedingungen herzustellen, zielt der Beitrag von George Steinmetz. Im Rahmen einer „Neo-Bourdieuschen Theorie“ geht er der Verknüpfung von sozialwissenschaftlicher Wissensproduktion und der Imperialpolitik im Deutschen Kaiserreich, der Weimarer Zeit und in der Zeit des Dritten Reiches nach. Referenzpunkte dieser Auseinandersetzung sind die wissenschaftlichen und politischen Positionen Max Webers und Richard Thurnwalds. Da Weber neben dem Deutschen Kaiserreich nur den Beginn der Weimarer Republik erlebte, musste er sich anders als Thurnwald nie persönlich zum Nationalsozialismus verhalten. Trotz dieses Unterschieds überzeugt Steinmetz‘ Vergleich insbesondere durch den Kontrast zwischen der ökonomisch und akademisch weitgehend autonomen Position Webers und dem dauerhaft wirtschaftlich abhängigen Privatdozentendasein Thurnwalds. Die wissenschaftliche und persönliche Anpassungsfähigkeit Thurnwalds an unterschiedliche politische Regime wird als Hinweis interpretiert, dass eine jede „engagierte, militante Soziologie [...] eine Ausgangsposition der relativen Autonomie [benötigt]“ (388).

Ein weiteres wichtiges Feld berührt der Aufsatz von Johan Heilbron, Nicolas Guilhot und Laurent Jeanpierre, der die Frage nach einer transnationalen Geschichte der Sozialwissenschaften aufwirft. Die bereits in der zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Kosmopolitismusdebatte bemerkte historische Gleichzeitigkeit der Entstehung der Soziologie und der Durchsetzung des modernen Nationalstaates wird in diesem Beitrag auf die Disziplingeschichtsschreibung bezogen. Die Autoren verdeutlichen so, dass die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts von einer Herausbildung nationaler Soziologietraditionen geprägt war, die aber insbesondere durch die vom Nationalsozialismus erzwungene intellektuelle Migration aufgebrochen und mit einander in Kontakt gebracht wurden. Die bis heute fortschreitende Institutionalisierung des internationalen Austauschs ist so auch ein Produkt dieser Migrationsbewegungen und die Entwicklung der Sozialwissenschaften als ein „eigenständiger transnationaler Prozess“ (422) zu verstehen. Zugleich sei jedoch zunehmende Abhängigkeit der Sozialwissenschaften von jenen „administrativen und politischen Apparaten“ zu beobachten, „die zur Erhaltung dieser asymmetrischen Weltordnung beitragen“ (423). Für eine reflexive Soziologie gelte es deshalb zu bemerken, dass auch die „transnationalen Austauschräume“ in den Sozialwissenschaften „eine stark asymmetrische Struktur aus[weisen], in der westliche Länder, an erster Stelle die Vereinigten Staaten, eine Hegemonieposition innehaben“ (422).

Während der zweite Teil des Buches unterschiedliche Wege der Soziologiegeschichtsschreibung dokumentiert, befasst sich der dritte Teil dem Untertitel des Bandes gemäß mit ihren Zielen – also der Frage nach dem Sinn und Zweck soziologiegeschichtlicher Forschung.

Den Anfang macht ein Beitrag von Karl-Siegbert Rehberg. Unter dem Titel Die Unverzichtbarkeit historischer Selbstreflexion der Soziologie plädiert Rehberg für einen integrativen Zusammenhang von soziologischer Theoriebildung und Soziologiegeschichte. Dabei wird die Geschichte der Soziologie gerade nicht als ein die Theorie nur äußerlich bereicherndes Spezialforschungsgebiet, sondern als integraler Bestandteil der Disziplin verstanden. Der Sinn der Soziologie sei nämlich wiederum historisch zu erschließen, „da die Bedingtheit des Denkens und dessen Abhängigkeit von bestimmten Lebenswelten eines ihrer Hauptthemen ist“ (434). Rehberg plädiert abschließend für die „Erarbeitung einer wissenssoziologischen Syntheseebene“ (456) und leitet damit zu den nächsten Beiträgen über.

Die Texte von Ilja Srubar und Martin Endreß sind deutlich an der Wissenssoziologie Karl Mannheims orientiert, weisen aber dennoch bedeutende Unterschiede auf. Während Srubar vorschlägt, paradigmatische Theorien der Soziologie soziologiehistorisch als Zeitdiagnosen zu lesen und durch „die Analyse soziologischer Zeitdiagnosen sowie der aus ihnen jeweils resultierenden Prognosen und Zukunftserwartungen [...] Bestandteile ‚gepflegte Semantiken‘“ (467) im Sinne Luhmanns herauszuarbeiten, sieht Endreß in einer wissenssoziologisch fundierten Soziologiegeschichte insbesondere die Möglichkeit, einen „reflexiven, historisch gebundenen Sinnbegriff“ sichtbar zu machen, der erklären kann, „warum die Soziologie sich nicht nur empirisch fortwährend selbst zum Thema macht, sondern dies auch strukturell tun muss“ (488). Beide Ansätze sehen anschließend an Mannheim die Funktion der Soziologiegeschichte unter anderem darin, Orientierungs- und Deutungswissen für die soziologische Disziplin zur Verfügung zu stellen, das „als Reservoir von Warnschildern vor intellektuellen Kurzschlüssen dienen kann“ (514).

Der Beitrag von Gerhard Mozetič, der den Band beschließt, befasst sich mit der Frage nach Erkenntnisfortschritten in der Soziologiegeschichte. Mozetič lotet anhand des Werkes von Ludwig Gumplowicz aus, welchen Wert die Wiederentdeckung eines ‚vergessenen Klassikers‘ für die Soziologie haben kann, aber auch wie dieser Wert aufgrund von problematischen Rezeptionslinien im historischen Rückblick geschmälert werden kann. Diese Überlegungen weisen im Ansatz auf eine notwendige Selbsthistorisierung der Soziologiegeschichte hin – ein Punkt, der in allen anderen Beiträgen leider vernachlässigt wird, aber für eine Soziologiegeschichte, die sich als ein reflexiver Bestandteil der Soziologie zu begreifen versucht, unverzichtbar wäre.

Ein Stück weit erklärbar wird diese Leerstelle, wenn man die generelle Stoßrichtung des Buches bedenkt, die auf eine Kontextualisierung der Soziologiegeschichte innerhalb der Soziologie zielt. Neben der Frage nach möglichen Verwendungen sozialwissenschaftlicher und historiographischer Methoden wird insgesamt sehr stark ihr wissenschaftlicher Beitrag für das Fach Soziologie akzentuiert. Soziologiegeschichte soll also – wie Karl-Siegbert Rehberg treffend bemerkt – „Quelle der Förderung heutiger Erkenntnisse“ (454) werden. Sie muss dabei allerdings vermeiden, sich „in den (scholastischen) Dienst einer Hagiographie von ‚Kirchenvätern‘ des eigenen Faches zu stellen“ (ebd.). Treibt man diese Forderung nach kritischer Selbstverortung weiter, könnte man einen ebenso berühmten wie wissenschaftshistorisch folgenreichen Text paraphrasierend ergänzen: Auch der Soziologie sei der „stolze Anspruch“ darauf einzuräumen, dass die Soziologiegeschichte „ihre Magd sei, [...] (wobei doch immer noch die Frage bleibt: ob diese ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt)“.[7] Während einer zum identitätsstabilisierenden Dogma verhärteten Soziologiegeschichte eine bloß sakrale Rechtfertigungsfunktion für den historisch gewordenen Zustand einer Disziplin zukäme, sie der Soziologie also nur die ‚Schleppe nachtragen‘ würde, könnte in ihrer an gegenwärtigen Fragen, Aufgaben und Problemen orientierten sowie zugleich historisch informierten Suche nach Vergangenheit eine auf die Zukunft gerichtete, ‚erhellende‘ Aufgabe liegen. Diese Aufgabe bestünde unter anderem in der Suche nach alternativen Wegen der disziplinären Konstitution der Soziologie, einer Thematisierung von abgeschnittenen Traditionen oder einer historischen Kontextualisierung von Klassikern. Indem die Soziologiegeschichte einerseits die faktische Gestalt der Soziologie hinterfragt, macht sie diese also „zum Gegenstande ihrer Prüfung und Kritik“.[8] Andererseits könnte sie auf diesem Wege jenen „objektiven Möglichkeitsraum“ (Martin Endreß, 497) eröffnen, der es der Soziologie erlaubt, ihre gegenwärtige Gestalt selbst zu hinterfragen und auf sich verändernde historisch-gesellschaftliche Lagen zu reagieren.

Die Soziologiegeschichte wäre – wie die Beiträge des Sammelbandes verdeutlichen – in diesem Unternehmen durchaus auf die bestehenden Methoden und Verfahren der Sozialwissenschaften angewiesen und würde gerade keine bloß externe Wissenschaftsgeschichtsschreibung betreiben – also die Entwicklung der Sozialwissenschaften nicht einfach nur historisch-rekonstruierend nachvollziehen, sondern einen eigenständigen fachlichen Beitrag leisten. Dieser Beitrag wäre jedoch gerade nicht mehr ‚Identitätsstabilisierung‘, sondern eine Weiterentwicklung des Faches unter Einbeziehung der historischen Eigenprobleme der Soziologie. Die Soziologiegeschichtsschreibung wäre dann aber auch als Teil eben jener Geschichte zu begreifen, die sie behandelt. Konsequenterweise müsste sie sich damit selbst zum Gegenstand der soziologiehistorischen Auseinandersetzung machen. Eine solche, über das Buch von Dayé und Moebius hinausweisende Selbstthematisierung der Soziologiegeschichte könnte sich als ein nächster wichtiger Schritt zur Klärung ihrer Situation erweisen.

  1. Vgl. hierzu etwa den klassischen Aufsatz von Robert K. Merton, Zur Geschichte und Systematik der soziologischen Theorie, in: Wolf Lepenies (Hrsg.), Geschichte der Soziologie, Frankfurt am Main 1981, S. 15–74.
  2. Vgl. Armin Nassehi, Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 2009.
  3. Vgl. Christian Borch / Urs Stäheli, Soziologie der Nachahmung und des Begehrens. Materialien zu Gabriel Tarde, Frankfurt am Main 2009.
  4. Wolf Lepenies, Einleitung. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität der Soziologie, in: ders., Geschichte der Soziologie, S. I–XXXV, hier S. XXVII.
  5. Vgl. Karl Mannheim, Diagnose unserer Zeit. Gedanken eines Soziologen, Zürich 1951.
  6. Vgl. hierzu u.a. Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Lebenserinnerungen, Frankfurt am Main 1984, Bd. 1–2.
  7. Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, in: ders., Werke. Sammlung in zwölf Bänden. Bd. XI, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 2001, S. 265–347, hier S. 290f.
  8. Ebd., S. 291.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Frithjof Nungesser.

Kategorien: Geschichte der Sozialwissenschaften

Oliver Römer

Dr. Oliver Römer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Georg-August-Universität Göttingen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind soziologische Theorie, Geschichte und Wissenschaftstheorie der Soziologie sowie politische Philosophie.

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