Philipp Lepenies | Rezension |

Liebe, Fritz und Liberalismus

Rezension zu „Hayek. A Life. 1899–1950” von Bruce Caldwell und Hansjoerg Klausinger

Bruce Caldwell und Hansjoerg Klausinger:
Hayek. A Life, 1899–1950
USA
Chicago 2022: The University of Chicago Press
824 S., 50 USD
ISBN 978-0226816821

Liberale, wie sie sich selbst nennen, oder Neoliberale, wie alle anderen sie nennen, kennzeichnet ein neo-römisches Freiheitsverständnis. Frei ist demnach, wer nicht der Willkür anderer ausgesetzt ist. Oder einfacher gesagt: Frei ist, wer machen kann, was er will – ohne dabei von seinen Mitmenschen oder dem Staat (was und wer auch immer darunter zu verstehen ist) in irgendeiner Weise eingeschränkt zu werden. Auch Friedrich August von Hayek (1899–1992) war ein Anhänger dieses im Digest des weströmischen Kaisers Justinian[1] prägnant kodifizierten Freiheitsbegriffs. Dass Hayek ein Verfechter eines bestimmten Freiheitsverständnisses war und gleichzeitig Vordenker, Organisator und Zeremonienmeister des Neoliberalismus, ist hinlänglich bekannt. Dennoch schienen sowohl die Verleger des Chicagoer Universitätsverlages am Lake Michigan als auch die Autoren Bruce Caldwell und Hansjörg Klausinger der Meinung, dass es sinnvoll und notwendig sei, das Leben Hayeks zum Gegenstand einer umfassenden Biografie zu machen (von denen es allerdings schon unzählige gibt).

Der große Werner Sombart publizierte 1912 eine Studie unter dem Titel Liebe, Luxus und Kapitalismus. Nach Sombarts Auffassung war nicht der frugale und sparsame Calvinismus Max Weberscher Lesart die Triebfeder unserer heutigen Wirtschaftswelt, sondern die Macht der Liebe. Die Institutionalisierung von Mätressen im absolutistischen Frankreich sowie die damit verbundenen Ausgaben für Luxusgüter, so die durch umfangreiche Empirie gestützte These, hatten maßgeblich zur Entwicklung der modernen Wirtschafts- und Sozialstrukturen beigetragen. Dass die Liebe Berge versetzen kann, daran glaubt sicherlich jede:r auch heute noch (zumindest in den schönsten Momenten des Lebens). Der Clou bei Sombart war jedoch, dass er die Macht der illegitimen Liebe beschrieb.

Die vorliegende Biografie Hayeks behandelt nur die erste Hälfte seines recht langen Lebens und endet in dem Moment, als Hayek nach Chicago übersiedelt, um dort – zumindest dem Anschein nach – Teil der sich herausbildenden Chicago School of Economics zu werden (it‘s complicated!). Man muss Hayek sehr bewundern, um als Autor den Mut aufzubringen, die ersten 50 Jahre eines fast ein Jahrhundert währenden Lebens auf über 800 Seiten auszubreiten. Es gibt etliche andere Sozialwissenschaftler seiner Generation, deren Leben weitaus abenteuerlicher, ja spektakulärer war; das Leben Hayeks verlief dafür, dass wir es mit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu tun haben, vergleichsweise ereignisarm. Darüber hinaus ist es ist bestens dokumentiert. Es gibt keine weißen Flecken, die es noch auszumalen gilt und die in einem Buch erstmalig zu beschreiben wären. Folgerichtig müsste die Familiengeschichte, müsste der Mensch Friedrich August von Hayek mit seinen Gedanken, Taten und Wünschen in einer Biografie auf neue Art und Weise zur Geltung gebracht werden, um einen wirklichen Mehrwert für Leser:innen zu generieren. Und womöglich liegt hierin das größte Verdienst der Autoren dieser neuen Biografie, dass Leser:innen zu einer ganz wunderbaren Spekulation angeregt werden:

Der Eindruck, der nach abgeschlossener Lektüre von Hayek bleibt, ist der eines Mannes, der sich irgendwann entschließt, nur noch seinem Herzen zu folgen, der jahrzehntelang damit hadert, eine andere Frau geheiratet zu haben als die, die er wirklich liebt. Sein Herz gehört Lenerl, seiner Cousine dritten Grades – ein Verwandtschaftsgrad, der wahrscheinlich nur dann wirklich relevant wird, wenn wir uns im Wien des Siegmund Freud bewegen (zugegeben: das tun wir im Buch zwar lange, nur hält Hayek von Freuds Theorien nicht besonders viel, was eher für als gegen Hayek spricht). Zu einem Zeitpunkt, an dem das alles andere als gesellschaftlich akzeptiert ist, lässt Hayek sich mit 50 Jahren scheiden. Er lässt seine Ehefrau (die er den Autoren zufolge wohl auch deswegen geheiratet hatte, weil sie seiner eigentlichen Herzensdame ähnlich sah) und seine zwei Kinder buchstäblich im Stich, um kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf der anderen Seite des Atlantiks ein neues Leben zu beginnen. Und hier kommt die fantastische Spekulation: Könnte es sein, dass Amors Pfeile der Grund dafür sind, dass Fritz, wie er im Buch durchgehend und beinahe zärtlich genannt wird, die (neo-römische) Freiheit zeitlebens und in allen Belangen vehement verteidigte? Könnte es dann nicht sogar sein, dass der gesamte Neoliberalismus gar nicht auf einer theoriebasierten urliberalen Ideologie beruht, sondern schlicht ein „legitimes Kind der illegitimen Liebe“ (Sombart) war? Da kann einem der Neoliberalismus plötzlich herzwärmend sympathisch werden. Sollte das das Ziel der Autoren gewesen sein, so haben sie es erreicht.

Aber nicht doch. Ganz so weit würden die Autoren dieser Biografie wohl nicht gehen. Sie haben zu viel Arbeit in dieses Werk gesteckt, als dass man ihren Aufwand auf derart banale Art und Weise zusammenfassen könnte. Und dazu kennen sie Hayek und sein Oeuvre auch zu genau. Bruce Caldwell ist Forschungsprofessor an der Duke University und seit Jahren Herausgeber Hayeks Gesammelter Werke, Hansjörg Klausinger ist emeritierter Professor für ökonomische Theoriegeschichte der Wirtschaftsuniversität Wien. Beide haben bereits vorher hinlänglich zu Hayek, seinem Leben und seinen Ideen publiziert. Ziel ihrer gemeinsamen Arbeit war es, die für Hayek so entscheidenden prägenden frühen Jahre darzustellen.

Im Englischen gibt es eine Bezeichnung, die den Anspruch eines solchen Unterfangens unmissverständlich und selbstbewusst zum Ausdruck bringt und die auch im Klappentext dieses Buches vorkommt. Es handle sich, so der Verlag, um einen „definitive account“ – die endgültige Darstellung, die alles bis dato Geschriebene und Gesagte in den Schatten stellt, aus der sich auch niemals wieder ein alternatives Narrativ wird ins Licht schieben können. Wer dieses gewichtige Buch in Händen hält und durchblättert, fragt sich zwangläufig: Wer sollte sich auch jemals erneut so viel Arbeit machen?

Die gesammelten Werke Hayeks umfassen mittlerweile 19 Bände. Bruce Caldwell ist bereits der dritte Herausgeber dieses Projekts, das sich über 34 Jahre lang hingezogen hat. Noch zu Lebzeiten Hayeks war geplant, aus dessen privaten Unterlagen und Aufzeichnungen eine umfangreiche Biografie entstehen zu lassen. Das vorliegende Buch versucht, dieses vor Jahrzehnten begonnene Projekt endlich zu Ende zu führen.

Hayeks persönlicher Nachlass befindet sich noch nicht allzu lange in 200 Kisten verpackt an der Hoover Institution in Standford und wurde von den Autoren minutiös ausgewertet. Allerdings konnten sie auch auf bislang ungesichtete Dokumente und Korrespondenz zurückgreifen, die sich teilweile noch in Familienbesitz befanden. Hayek selbst war gerade in den letzten Jahrzehnten seines Lebens sehr daran interessiert, das Projekt „Biografie“ in seinem Sinne zu beeinflussen. Dabei hatte er festgelegt, dass an seiner Lebensgeschichte immer mindestens ein Forscher mitarbeiten musste, der des Deutschen mächtig war. Aus dieser Bedingung ergab sich die Zusammenarbeit zwischen Caldwell und Klausinger.

Auch die Autoren selbst behaupten, dass es ihnen um die „definitive“ Biografie Hayeks geht. Dabei unterstreichen sie ihren Anspruch nicht nur durch den Hinweis auf bislang ungenutzte Quellen, sondern dadurch, dass sie im Gegensatz zu anderen, bereits existierenden Büchern über Hayek „vollständig“, „exakt“ und „präzise“ vorgehen wollten. An dem Anspruch der Vollständigkeit gibt es schon beim ersten Durchsehen des Bandes wenig Zweifel. Es scheint, als sei beinahe jede Woche im Leben Hayeks dokumentiert. Das ist insofern denkbar, als Hayek von 1911 an durchgehend Kalender führte, in denen er minutiös eintrug, was er wann und mit wem tat. Seine Mutter führte sogar schon seit seiner Geburt „Fritzerls Tagebuch“, für den damals noch Schreibunkundigen in Ich-Form. Von 1944 an stellte Hayek immer wieder autobiografische Text- und Materialsammlungen zusammen. Nach dem er 1974 den Nobelpreis gewonnen hatte, nahm das Interesse an seiner Person deutlich zu. Ein Interview-Projekt aus dieser Zeit über ihn und sein Leben umfasst über 500 (!) transkribierte Seiten. Die Autoren behaupten außerdem, dass sie sich die Mühe gemacht haben, die über Hayek und von Hayek selbst gemachten Behauptungen wann immer möglich durch Dokumente oder andere „Beweise“ zu stützen oder zu widerlegen. Hayek, so die Autoren, ist und bleibe wohl immer eine umstrittene Figur. „We wanted to get his story right“, lautet ihr erklärtes Ziel.

Ein Beispiel. Zur Folklore der ökonomischen Ideengeschichte gehört nicht nur die Erzählung, dass Hayek lange der große Gegenspieler von Keynes war (was zweifelhaft ist) und sich beide Männer schätzten (was unzweifelhaft ist), sondern dass beide während des Kampfes um England in Cambridge gemeinsam nachts auf dem Dach ihres Collegegebäudes Luftschutzdienst verrichtet und sich über monetäre Ökonomie unterhalten hätten, während sich am Himmel Messerschmitts und Spitfires jagten. Die London School of Economics (LSE), an der Hayek seit den frühen 1930er-Jahren lehrte, war damals nach Cambridge ausgelagert worden. Zumindest für diese Dächer-Episode, von Hayeks Tochter in Umlauf gebracht und in fast jeder Hayek-Lebensgeschichte kolportiert, fanden die Autoren keinerlei Belege.

Ein weiteres Beispiel. Um seine Liberalität unter Beweis zu stellen, verwies Hayek immer wieder darauf, dass er den Titel „von“ in dem Moment konsequent nicht länger führte, als die Adelstitel im Österreich der Nachkriegszeit verboten wurden. Er betonte dabei immer, dass er sich für einen gesetzestreuen Bürger halte. Dass in manchen Publikationen dennoch der Titel „von“ vorkommt, erklärte Hayek immer damit, dass die englische Einbürgerungsbehörde sein Geburtszeugnis zugrunde legen musste, als er die britische Staatsbürgerschaft erhielt. Allerdings, so der Eindruck des Buches, war es Hayek oft im Leben dennoch wichtig, seine adlige Herkunft nicht zu verhehlen.

Dank des umfangreichen Quellen- und Originalmaterials zu Hayek mussten die Autoren weder selbst Zusammenhänge herstellen, noch investigativ unbekannte Aspekte in Hayeks Leben aufdecken. Folglich waren revolutionär neue Erkenntnisse von vornherein nicht zu erwarten. Und dennoch leisten die Autoren einen bedeutsamen Beitrag: Aber anhand umfangreichen Quellenstudiums erläutern sie die genauen Umstände vieler Ereignisse, die dank des Buches viel klarere Konturen erhalten. Zudem erläutern Caldwell und Klausinger den jeweiligen Kontext allgemeinverständlich– sei es nun auf soziokultureller, historischer, philosophischer oder wirtschaftstheoretischer Ebene.

Das Buch folgt einer strikten Chronologie. So widmet sich der erste Teil Hayeks Kindheit und Jugend in Wien sowie seinem Einsatz als Soldat im Ersten Weltkrieg. Der zweite Teil behandelt seine Studienzeit sowie den Einfluss Ludwig von Mises auf Hayek, der dritte die ersten Schritte als Ökonom, vorrangig am Österreichischen Institut für Konjunkturforschung, dem Hayek später als Direktor vorstand. Im vierten Teil geht es um die Zeit Hayeks an der London School of Economics in den 1930er-Jahren und während des Zweiten Weltkrieges. Der fünfte und sechste Teil sind zweifelsohne die Entscheidenden, wird hier doch zunächst der Entstehungskontext von Hayeks Urtext zum Neoliberalismus erläutert, dem „Weg in die Knechtschaft“ (The Road to Serfdom). Dieser Abschnitt ist mit Fighting the Spirit of an Age überschrieben und unterstreicht das Verdikt der Autoren, dass Hayek oftmals zum richtigen Zeitpunkt an wichtigen Orten intellektueller Debatten präsent war, mit vielen relevanten Akteuren bekannt war, sich aber dennoch immer die Freiheit nahm, eine andere, eine eigene Meinung zu vertreten. Im letzten Abschnitt geht es um die Entstehung der Mont Pèlerin Society, seine Scheidung und die Jobsuche in den USA.

Hayek ist eine interessante Figur. Zwar erhielt er 1974 den damals erst seit wenigen Jahren existierenden Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, in der Ökonomie spielt er aber eigentlich keine Rolle. Seine Thesen sind wahrscheinlich an keiner Hochschule der Welt Teil eines Ökonomie-Curriculums. Mit seinen Ideen zum Liberalismus, bei denen es vor allem darum ging, sich gegen jede Form staatlicher Planung (oder staatlicher Einmischung) zu wehren, stand er in den 1930er- und 1940er-Jahren mit einigen wenigen Gleichgesinnten (wie seinem beruflichen und intellektuellen Zieh-Vater Ludwig von Mises) allein auf weiter Sozialismus-freundlicher Flur. Als sich diese Gruppe vor dem Zweiten Weltkrieg in Paris mit Brüdern im Geiste aus Frankreich, England und den Vereinigten Staaten traf, wurde der Begriff neoliberal vorgeschlagen, um ihre Haltung zu charakterisieren. Auch wenn man sich damals nicht darauf einigen konnte, diese Beschreibung zu verwenden und Hayek zeitlebens nur das Wort liberal nutzte – ist es doch der Neoliberalismus, für den Hayek steht.

Hayeks Road to Serfdom von 1944, eher Pamphlet denn Fachtext, warnte vor Planungsexperimenten der sich ankündigenden Nachkriegszeit und sang das Hohelied des freien Wettbewerbs. Es war ein so großer kommerzieller Erfolg – vor allem in den Vereinigten Staaten –, dass Hayeks Leben sich dadurch für immer veränderte, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Zum einen wurde er als Fach-Ökonom von der eigenen Zunft nicht länger ernstgenommen. Er galt als zu oberflächlich und in methodischer Hinsicht zu wenig mathematisch. Auch in Chicago, wo er seit 1950 beschäftigt war, wollte ihn die Wirtschaftsfakultät nicht aufnehmen. Zum anderen kam er mit wichtigen amerikanischen Geldgebern aus Unternehmerkreisen in Kontakt, die ihn jahrzehntelang finanziell unterstützten. Zum einen halfen sie bei der Umsetzung seiner Pläne für die Gründung einer internationalen Gesellschaft der Anhänger des Liberalismus, die sich einmal jährlich treffen sollte (vor allem durch die Übernahme der damals horrenden transkontinentalen Reisekosten). Zum anderen wollten sie seine Stelle an einer amerikanischen Universität vollständig aus Eigenmitteln bezahlen. Mit diesem Finanzierungsmodell hatten verschiedenste amerikanische Universitäten ein Problem (neben dem Problem, das viele der dort arbeitenden Ökonomen mit Hayek hatten). Chicago war am wenigsten zimperlich und griff zu, als man Hayek „finanzierungsneutral“ anbot.

Hayek wollte mehr als nur Gelehrter sein. Sein Wunsch, (neo-)liberale Ideen nicht nur am Leben zu erhalten, sondern idealerweise auch aktiv in den Herzen und Köpfen politischer Entscheidungsträger zu verankern, führte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zur Gründung der Mont Pèlerin Society, der schon oben genannten internationalen Gesellschaft, sowie zur Etablierung einer Reihe von prominenten Policy-Think-Tanks in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, deren einzige Aufgabe darin bestand, liberale Politikempfehlungen auszusprechen. Hayek wollte Politik durch Ideen verändern und investierte einen Großteil seiner Energie und Zeit in dieses Projekt. Paradoxerweise schuf er dabei keine Strukturen, die es ermöglicht hätten, dass sich die besten Ideen im freien Wettbewerb durchsetzen. Stattdessen agierte er, der weltgrößte Gegner sozialistischer Planwirtschaft, selbst strikt nach Plan.

Hayek war ein Kind des begüterten Habsburger Wiener-Bildungsbürgermilieus. Nach Kriegsdienst und Studium arbeitete er zunächst in einem extra für die Abwicklung der österreichischen Reparationszahlungen geschaffenen Amt, das seine Angestellten recht fürstlich entlohnte. Während Österreich und das Deutsche Reich in Hyperinflation versanken, konnte Hayek ein Jahr seine Studien in den Vereinigten Staaten fortsetzen und dort Kontakte knüpfen. Die Konsumfixierung der amerikanischen Gesellschaft widerte den Edlen von Hayek aber derart an, dass er sich zum Protest einen in den USA verpönten Schnurrbart wachsen ließ – und ihn Zeit seines Lebens nicht mehr abrasierte. Seine eigene liberale Prägung erhielt Hayek vor allem durch Ludwig von Mises und dessen legendäres Wiener Privatseminar, das die Mont Pèlerin Society bereits vorwegnahm. Aus diesem Kreis ergaben sich Kontakte nach England und an die LSE. Aufgrund seiner Kenntnisse der Theorien der so genannten „Österreichischen Schule“ sowie durch seine eigenen Arbeiten zur Preis- und Konjunkturtheorie wurde Hayek nach London eingeladen. Bei seinem Aufenthalt dort sorgte er für so viel Begeisterung, dass man ihm noch vor 1933 eine Anstellung anbot. So siedelte er mit seiner Familie nach London über und nahm die englische Staatsbürgerschaft an.

Seine liberale Grundüberzeugung wurde nicht nur durch die realen Gefahren des Faschismus und des Kommunismus verstärkt (beide Systeme waren für Hayek in gleichem Maße illiberal), sondern auch durch die prominenten Fürsprecher des Sozialismus, die er in England und an der LSE traf, beispielsweise Harold Laski und das Ehepaar Webb. Es waren dabei nicht nur deren Vorstellungen und Ideen, die Hayek ablehnte, oft konnte er schlicht mit dem Charakter vieler dieser linken Prominenten wenig anfangen. Während sich ein Teil der in Österreich verbliebenen Familie Hayeks dem Nationalsozialismus zuwandte (was Hayek schockierte), war er die meiste Zeit seiner Jahre in England damit beschäftigt zu überlegen, wie er sich von seiner Frau trennen und mit seiner Jugendliebe zusammenkommen oder wenigstens möglichst viel Zeit mit ihr alleine verbringen konnte. Ein Grund für Hayeks Auswanderung in die USA war das ihm dort in Aussicht gestellte (dank seiner privatwirtschaftlichen Gönner) stattliche Gehalt. Nach einer Scheidung für zwei Familien finanziell verantwortlich zu sein, ließ sich nur so bewerkstelligen. Und es ging nur in Übersee.

Bis auf die Hintergründe seiner Scheidung bietet die Biografie wenig Neues. Eher ist es so, dass bekannte biografische Stationen Hayeks durch Auszüge aus Briefen oder anderen Dokumenten bestätigt und detailreicher beschrieben werden als in den üblichen Hayek-Biografien.

Dennoch bleibt der Mensch Fritz Hayek dabei seltsam farblos. Vielleicht war Hayek tatsächlich farblos, aber die Autoren unterstreichen diese Farblosigkeit durch ihren doch recht schematischen Dokumentations- und Schreibstil. Da Hayek jedoch oft genug im Leben mit interessanten und berühmten Menschen zusammenkam oder deren Wege kreuzte, egal ob er sich ihnen verbunden fühlte oder das Gegenteil der Fall war, hätte sich aus diesen Verflechtungen sicher mehr machen lassen. So hätte man sich die Beziehung zu von Mises etwas ausführlicher beschrieben gewünscht, auch der Schreibprozess von Road to Serfdom wird unnötig schnell abgehakt. Auf die weiteren Schriften Hayeks wird zwar chronologisch und minutiös eingegangen, doch fehlt eine Einordnung und kritische Würdigung seiner Ideen.

Die vorhandene (auto-)biografische Literatur zu Hayek malt das Bild eines Menschen, der sich zu gute hielt, Dissens und Diskussion in zivilisierter Manier zu pflegen (ganz der Gentleman), dessen Urteile über die intellektuellen Fähigkeiten anderer aber häufig herabwürdigend ausfielen und den Eindruck erweckten, Hayek wäre sehr von sich überzeugt gewesen (gar nicht Gentlemen-like). Im hiesigen Band bleibt die Person Hayek über weite Strecken trotz sagenhafter Fülle an Informationen ein Rätsel.

Die Informationsfülle geht (wie auch bei so manch anderem bei Chicago University Press verlegtem Buch) auf Kosten der Lesbarkeit und dennoch muss man die Fleißarbeit der Autoren lobend anzuerkennen. Das Buch stellt im Genre der Lebensbeschreibungen alles vorher über Hayek Geschriebene in den Schatten.

Aber vor allem hebt es einen Aspekt der conditio humana hervor, der trotz der Farblosigkeit seines Hauptcharakters Fritz und grundsätzlich in der Biografie einer Person wie Hayek am wenigsten zu erwarten gewesen wäre: das Leid, das im Leben daraus entsteht, wenn man sich an die falsche Person bindet. Und die Konsequenzen, die Derartiges mit sich bringt, wie etwa die bedingungslose Verteidigung neo-römischer Freiheitsvorstellungen. Zumindest während der ersten 50 Lebensjahre. Und danach? Wir werden es erfahren. Die Autoren arbeiten schon am zweiten Band.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Geld / Finanzen Geschichte Kapitalismus / Postkapitalismus Staat / Nation Wirtschaft

Philipp Lepenies

Philipp Lepenies ist Professor für Politik mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit an der Freien Universität Berlin. Er forscht u.a. zu Fragen der gesellschaftlichen Transformation. Zuletzt von ihm erschienen ist „Verbot und Verzicht: Politik im Geiste des Unterlassens“ (2022).

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