Christina Müller | Veranstaltungsbericht |

Lost in Perfection: Impacts of Optimization on Culture and Psyche

Tagung der Forschungsgruppe Aporias of Perfection in Accelerated Societies (APAS), 9. Oktober 2015, Universität Hamburg

Das Hamburger Audimax mit seinen knapp 1 700 Plätzen reichte gerade eben aus, um alle Teilnehmerinnen der prominent besetzten APAS-Tagung zu beherbergen. Der Andrang hatte auch die Organisatorinnen überrascht, die sich ihm aber „mit allem Mut zur Nichtperfektion“ (so Vera King bei der Begrüßung) gut gelaunt stellten. Da die interdisziplinäre Veranstaltung auch Teil des Fortbildungsprogramms der International Psychoanalytic University war, unterschied sich die Zusammensetzung des Publikums, das neben Studierenden und Lehrenden aus der Soziologie auch zahlreiche Praktikerinnen aus den Bereichen Psychotherapie und Psychoanalyse umfasste, dann doch erheblich von dem Typus Öffentlichkeit, der auf rein soziologischen Konferenzen üblicherweise anzutreffen ist. Das führte bisweilen zu interessanten Begegnungen, etwa wenn eine Zuhörerin ihre Nachbarin fragte, wer denn eigentlich dieser Hartmut Rosa sei, während sie Ève Chiapello nicht nur dem Namen nach kannte, sondern auch gelesen hatte.

Den Auftakt machte ALAIN EHRENBERG (Paris), der in einem äußerst dichten und detailreichen Vortrag die These entwickelte, dass in modernen Gesellschaften zwar eine Zunahme psychischer Erkrankungen zu beobachten sei, dass aber auch die Vermutung, die Beschaffenheit solcher Gesellschaften treibe diese Entwicklung voran, selbst zum Gegenstand soziologischer Untersuchungen werden müsse. Er beschrieb zunächst die gegensätzlichen Haltungen zum Konzept der Autonomie in der „jakobinischen“ französischen und der „liberalen“ US-amerikanischen Kultur, um daraufhin die veränderte Situation des Individuums zu analysieren, das sich seit den 1980er-Jahren vermehrt aufgefordert sehe, mittels Eigeninitiative und Selbstdisziplin seine Kräfte selbst zu mobilisieren. In der Folge seien nicht nur psychische Erkrankungen auf dem Vormarsch, sondern psychotherapeutisches Vokabular und die entsprechenden Problemlösungsstrategien würden zudem immer mehr Gesellschaftsbereiche prägen. Soziale Pathologien und geistige Gesundheit seien zudem zum Kernthema politischer Maßnahmen avanciert.

ÈVE CHIAPELLO (Paris) schloss an Ehrenbergs Betrachtungen an, indem sie die Finanzialisierung des Denkens einer überzeugenden Analyse unterzog. Dabei ging sie von der Prämisse aus, dass Finanzialisierung als eine neue Phase des Kapitalismus zu verstehen sei, in der die auf physische Waren bezogene „Naturalrechnung“ angesichts der Expansion des Finanzsektors zunehmend von der abstrakten „Kapitalrechnung“ abgelöst werde.[1] Diese Technik des Kalkulierens verändere nicht nur das Optimierungsdenken innerhalb der Wirtschaft, sondern auch im gesellschaftlichen Leben. Das Handeln der Akteure folge mehr und mehr einer Investorenlogik, die an Risikominimierung und Gewinnmaximierung interessiert sei sowie Dinge aller Art als Kapital betrachte (man denke nur an das berüchtigte „Humankapital“). Als soziale Folgen dieser Entwicklung nannte die Soziologin einerseits eine allgemeine Krise der öffentlichen Hand, die ihre Wohltaten nicht mehr gemäß der Bedürftigkeit, sondern nur noch des Verdienstes der Bürgerinnen verteile, und andererseits den Umstand, dass das Kriterium der Produktivität inzwischen selbst das Privatleben durchdrungen habe. Die Frage, warum diese „Kolonisierung des Denkens“ so gut funktioniere, beantwortete Chiapello mit dem Verweis auf Bildungssysteme und Medien sowie den wachsenden Einfluss der Ökonomie in der politischen Beratung.

HEINZ BUDE (Kassel) trug daraufhin in einer rhetorisch eindrucksvollen Performance seine Gedanken zur Angst vor, nachdem er vom interessanterweise einzigen Blitzlichtgewitter des Tages begrüßt worden war. Er skizzierte knapp, wie die deutsche Gesellschaft die Aufstiegsversprechungen der Nachkriegszeit hinter sich gelassen habe, um nun ein Stadium zu erreichen, in dem sich jeder unabhängig von Herkunft oder Bildungsgrad vom sozialen Abstieg bedroht sehe. Die Angst müsse man daher als prägendes Gefühl der Jetztzeit verstehen, und zwar im Sinne einer Angst vor dem Ausgeschlossen-Sein. Der Umstand, dass weder Herkunft, Karriere noch Partnerschaft mehr Beständigkeit garantierten, erhöhe zudem die Furcht der Menschen vor falschen Entscheidungen. Schließlich betonte Bude im Rückgriff auf David Riesman, dass innengeleitete Charaktere, die ähnlich wie Goethes Wilhelm Meister allein ihrem eigenen moralischen Kompass folgten, allmählich von außengeleiteten Charakteren verdrängt würden, deren seelisches Gleichgewicht von der Wertschätzung und den Erwartungen Anderer abhänge – ein weiterer Unsicherheitsfaktor im Sinne der von Niklas Luhmann beschriebenen doppelten Kontingenz, da beide Seiten nicht wissen können, was die jeweils andere erwarten oder tun wird. Die einzigen Möglichkeiten, mit all der Angst fertigzuwerden, sieht Bude erstens in einer Lebenseinstellung der „smarten Ironie“, zweitens in einem steten Sich-Bewusstmachen der Vorläufigkeit allen Handelns und drittens in einem „Denken im Konjunktiv“ (grammatikalisch korrekt wäre freilich „im Konditional“), das alternative Szenarien permanent mitberücksichtige.

Nach der Mittagspause trat EVA ILLOUZ (Jerusalem) mit leichter Verspätung aufs Podium, um die Frage zu diskutieren, wie sich der Wunsch nach Optimierung und Perfektion auf die Partnerwahl auswirkt. Ihr Vortrag (der, wie Illouz freimütig verriet, erst am Vortag entstanden war) setzte bei Michel Foucaults Konzept der ethischen Substanz sowie bei Angela McRobbies feministischer Kritik am Perfektionsbegriff an, verwies aber auch auf die lange Geschichte dieses Ideals, deren Beginn im antiken Stoizismus zu verorten sei. Perfektion sei in solchen Traditionen primär ein Ziel, auf das man seine eigene Person ausrichte, werde bei der Partnerwahl allerdings zu einer Vorgabe für das Gegenüber. Illouz machte das anhand von Zitaten aus Datingplattformen und Diskussionsforen im Netz anschaulich. Da bei der Partnerwahl einerseits ein zu breites Angebot an Kandidatinnen bestehe und andererseits unklar sei, wie genau die perfekte Option denn beschaffen sei, sähen sich Akteure zunehmend mit Zweifeln und Handlungsunfähigkeit konfrontiert. Lediglich die „negative Evaluation“, also das Aussortieren nicht geeigneter Partner anhand des Kriteriums einer nicht genauer beschreibbaren Derrida'schen différance, biete sich den Unentschlossenen als vermeintliche Lösung des Dilemmas an.

ADA BORKENHAGEN (Leipzig) präsentierte im Anschluss die Befunde einer empirischen Untersuchung zu minimalinvasiven Schönheitsoperationen wie beispielsweise dem Spritzen von Botox oder anderen Substanzen zur Glättung der Haut. Derartige Maßnahmen würden sich zunehmender Beliebtheit erfreuen, wobei als Hauptmotiv für die meisten Patientinnen (nur 13,7 Prozent der Eingriffe weltweit würden von Männern gebucht) der Wunsch im Vordergrund stehe, die Kontrolle über das eigene Äußere zu behalten und eine Entfremdung zwischen ihrem tatsächlichen Aussehen und ihrem innerlichen Selbstbild zu vermeiden. In diesem Sinne ist laut Borkenhagen die Entscheidung für die künstliche Verjüngung paradoxerweise als Schritt hin zu mehr Authentizität und Autonomie gemeint. Im Publikum wurden anschließend allerdings berechtigte Fragen laut, inwiefern dieser Wunsch nach glatter Haut wirklich als Versuch der Todesabwehr verstanden werden könne, wie Borkenhagen postuliert hatte, und ob nicht vielmehr ein gendertheoretischer Zugang zur Problemstellung hilfreicher gewesen wäre.

Als Leiter des interdisziplinären APAS-Projekts stellten schließlich HARTMUT ROSA (Jena), BENIGNA GERISCH (Berlin) und VERA KING (Hamburg) ihre Forschungen zu den „Widersprüchen der Perfektion“ vor. Rosa führte aus, dass die Menschen sich angesichts des Flexibilitäts- und Modernitätsdrucks in der beschleunigten Moderne gezwungen sähen, ihre sozialen Praktiken fortwährend zu optimieren, wobei sie mit diversen Dilemmata und anderen Problemen konfrontiert würden – Rosas wiederholte Stoßseufzer, sich mit seinem Anteil des Vortrags beeilen zu müssen, dienten (ob gewollt oder unfreiwillig) zur Illustration dieser Zeitdiagnose. Die drei Teilprojekte der Forschungsgruppe befassen sich mit den Formen und Folgen dieses Optimierungsdrucks sowohl mittels quantitativer als auch qualitativer Studien, setzen aber unterschiedliche Schwerpunkte: Während Rosa mit dem Jenaer Team die makrosoziologischen Aspekte untersucht, forscht die Hamburger Gruppe um Vera King zur Biografiegestaltung der Individuen. Das Berliner Teilprojekt um Benigna Gerisch widmet sich den Psychodynamiken der Bewältigung des Drucks.

Gerisch stellte daraufhin einzelne Untersuchungsansätze und Protagonisten aus den qualitativen Interviews zur Biografie vor, indem sie zwei Befragte miteinander kontrastierte. Unter den möglichen Reaktionen auf berufliche und private Überforderung griff sie die Ohnmachtserfahrung einer ehemaligen Führungskraft und den teils narzisstisch motivierten Übereifer einer jungen Juristin als Beispiele heraus. Vera King schließlich erläuterte die aus den Interviews hervorgegangene Typologie, mit der die Forscherinnen die Bewältigungsstrategien zu kategorisieren versuchen. Im Hinblick auf den Optimierungsdruck der modernen Gesellschaft nannte sie die Strategien der weitreichenden „Affirmation“, der „Anpassung bei Bagatellisierung“ unerfreulicher Umstände, des „Resignativen Erleidens“, der „Widersprüchlichen Versuche des Gegensteuerns“ und schließlich der „Relativen Abgrenzung“ von gesellschaftlichen Anforderungen.

Zum Abschluss der Tagung wurden Ada Borkenhagen, Heinz Bude, Ève Chiapello, Alain Ehrenberg, Benigna Gerisch, Eva Illouz, Vera King, HANS-CHRISTOPH KOLLER (Hamburg) und Hartmut Rosa zu einer Debatte aufs Podium gebeten. Insgesamt lässt sich resümieren, dass die Veranstaltung auch dank der hochkarätigen Besetzung einen höchst lehrreichen Einblick in die gegenwärtige Forschung zur (Selbst-)Optimierung bot. Den Organisatorinnen gelang es, verschiedene Perspektiven auf das Thema zusammenzubringen, ohne dass der gemeinsame Nenner der Untersuchungen zu sehr aus dem Sichtfeld geraten wäre. Allen Beiträgen gemein war jedenfalls eine mehr oder minder deutliche Kritik an der neoliberalen Leistungsgesellschaft, obschon ebendiese Vokabel kein einziges Mal im Verlauf des Tages zu hören war. In welchem Ausmaß die soziale Praxis des 21. Jahrhunderts Kosten-Nutzen-Kalkülen unterliegt, konnte die Tagung jedenfalls eindrücklich dokumentieren.

Konferenzübersicht:

Susanne Rupp / Eva Arnold / Vera King (Hamburg), Grußworte und Einführung

Alain Ehrenberg (Paris), Die beiden Bedeutungen des Begriffs „Sozialpathologie“ – zur Anthropologie des Unglücks in individualistischen Gesellschaften

Ève Chiapello (Paris), Optimierung im Kontext von Finanzialisierung

Heinz Bude (Kassel), Die Angst als Schlüssel zum Sinn des Ganzen

Eva Illouz (Jerusalem), Intimität und Selbst – vom Verblassen zweier Fluchtpunkte am Horizont

Ada Borkenhagen (Leipzig), Optimierte Körper – Todesabwehr im Kontext von Schönheitsmedizin

Vera King / Benigna Gerisch / Hartmut Rosa u.a. (Hamburg / Berlin / Jena), „Es gibt viel Fortschritt, aber das heißt nicht, dass es besser wird.“ Widersprüche der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne

Podiumsdiskussion

Ada Borkenhagen, Heinz Bude, Ève Chiapello, Alain Ehrenberg, Benigna Gerisch, Eva Illouz, Vera King, Hans-Christoph Koller, Hartmut Rosa

Vera King (Hamburg), Schlusswort

  1. Beide Begriffe übernimmt Chiapello von Max Weber; vgl. Ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1922.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Wirtschaft Gesellschaft Gender

Christina Müller

Dr. Christina Müller ist Literaturwissenschaftlerin und Lektorin im Philipp Reclam jun. Verlag. Sie war bis November 2016 für das Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Portals Soziopolis tätig.

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