Christina Müller | Essay |

Macht die französische Terrorismusforschung bald Politik?

Die Allianz ATHENA legt eine ehrgeizige Projektskizze vor

Zur Vorgeschichte

Nachdem eine Gruppe von Terroristen im November 2015 Anschläge in Paris verübt hatte, bekräftigte der französische Staatssekretär für Bildung und Forschung, Thierry Mandon, seine bereits im Januar 2015 an Alain Fuchs, den Präsidenten des Centre National de la Recherche Scientfique (CNRS) und der wissenschaftlichen Vereinigung ATHENA, gerichtete Bitte, eine Bestandsaufnahme existierender Forschungen zu Gewalt, Radikalisierung und Terrorismus vorzunehmen. Pikanterweise machte ausgerechnet der Premierminister Manuel Valls ebenfalls im November 2015 mit einem in diesem Zusammenhang bemerkenswerten Stoßseufzer Schlagzeilen: Valls gab zu Protokoll, dass er „genug von denen“ habe, „die permanent nach kulturellen oder soziologischen Entschuldigungen oder Erklärungen für das suchen, was passiert ist“.

Der Bericht der Vereinigung ATHENA ist am 3. März 2016 dem Staatssekretär und der Presse übergeben worden. Er wird in ersten Kommentaren bereits als eine Reaktion auf den despektierlichen Kommentar von Valls interpretiert.[1] Das 70-seitige Papier ist aber auch aus wissenschaftspolitischen Gründen höchst interessant. Es gewährt Einblicke in die Strukturen der akademischen Welt Frankreichs, vermittelt aber auch einen Eindruck von deren Möglichkeiten und Plänen, was die politische Einflussnahme anlangt. Neben dem ausführlichen Bericht enthält das Papier nämlich auch die Skizze eines politischen Großprojekts.

Wer, muss die erste Frage lauten, ist eigentlich ATHENA? Die Allianz verschiedener Forschungseinrichtungen wurde 2010 gegründet. Sie wird von Alain Fuchs geleitet, der gleichzeitig, wie bereits erwähnt, auch dem CNRS, immerhin der größten Forschungsgesellschaft Europas, vorsteht. Neben dem CNRS gehören zu ATHENA auch die Konferenz der französischen Universitätspräsidenten (CPU), die Conférence des Grandes Écoles (die in Deutschland bekannteste der 216 repräsentierten Hochschulen ist wohl die École Normale Supérieure), das Institut national d'études démographiques (INED), das dem Wissenschaftsministerium unterstehende Institut de recherche pour le développement (IRD), das dem Agrarministerium zuarbeitende Institut national de la recherche agronomique (INRA) und das Commissariat à l'énergie atomique et aux énergies alternatives (CEA). Assoziiert ist zudem die Fondation de la Maison des Sciences de l’Homme (FMSH), und der weitere Ausbau des Netzwerks ist in Planung.

Diese Liste beeindruckt durch die große Zahl der einflussreichen Organisationen, die an ATHENA beteiligt sind. Zugleich wirft ihre disziplinäre Zusammensetzung aber auch einige Fragen auf. Wie kommt es, dass eine Allianz, die sich explizit dafür einsetzt, den gesellschaftlichen und politischen Einfluss der Sozial- und Humanwissenschaften zu stärken[2], neben den großen allgemeinen Forschungseinrichtungen eher naturwissenschaftliche Institute zu vertreten scheint? Auch das Führungspersonal hat, was seine jeweilige Expertise betrifft, mit den Sozial- und Humanwissenschaften eher wenig zu tun: Alain Fuchs ist Chemiker, sein Stellvertreter Jean-Emile Gombert ist Psychologe. Lediglich die Déléguée générale, Françoise Thibault, und Jacques Commaille, Präsident des Comité d'orientation von ATHENA, einer Art wissenschaftlichen Beirats mit vierzig Mitgliedern, betreiben klassische sozialwissenschaftliche Forschung.

Unstrittig ist gleichwohl, dass das Papier von ATHENA politischen Widerhall finden wird. Die Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem hat das darin skizzierte Programm zur besseren Verknüpfung von Forschung und Entscheidungsträgern bereits gelobt und versprochen, gemeinsam mit Thierry Mandon über dessen Umsetzung nachzudenken.[3] Grund genug also, sich das Dokument sowie das darin entworfene Projekt genauer anzuschauen. Die folgenden Passagen enthalten eine sehr knappe und daher mit Vorsicht zu genießende Zusammenfassung des Dokuments:[4]

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ATHENA: Untersuchungen zu Radikalisierungen, den daraus folgenden Gewaltformen und den Strategien, mit deren Hilfe Gesellschaften sich davor schützen. Bestandsaufnahme, Vorschläge, Taten

1. Bestandsaufnahme vorliegender Forschungen

Die französische Wissenschaft ist zwar international renommiert und profitiert derzeit besonders von der Energie einer neuen, äußerst produktiven Forscher_innengeneration, wird jedoch, zumal in ihrer Interdisziplinarität, noch nicht hinreichend aufmerksam in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Auch die Politik stützt ihre Entscheidungsfindungen vornehmlich entweder auf interne, aber nur begrenzt kompetente Berater_innen oder auf private Organisationen und think tanks, deren Unabhängigkeit nicht immer als gesichert gelten kann. Zudem haben die Sozial- und Humanwissenschaften bis dato gezögert, sich direkt in die Gesellschaft einzubringen und gewissermaßen „nützlich“ zu machen. Insbesondere reagieren sie mit der Wahl ihrer Forschungsthemen nicht auf Wünsche oder Anforderungen der Gesellschaft, noch sind sie darum bemüht, ihre Befunde auch außerhalb der akademischen Welt zu verbreiten. Dabei ist Ursachenforschung das beste Mittel, um den Terrorismus zu bekämpfen.

Der Ruf nach mehr Studien zum Islam sowie der Radikalisierung mancher seiner Anhänger nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo verdeutlicht, dass die tatsächlich längst vorliegenden und qualitativ hochwertigen Arbeiten zahlreicher Wissenschaftler in der breiten Gesellschaft keinen rechten Widerhall finden. Auch zwischen politischen Entscheidungsträgern und Forschern findet bisher kein ausreichender Wissenstransfer statt.

Gewalt und politisch-religiöse Radikalisierung werden gleichwohl schon seit den 1980er-Jahren intensiv untersucht, wobei sich das Interesse spätestens mit dem 11. September 2001 von der städtischen Gewalt stärker auf den Themenkomplex Sicherheit und Terrorismus verlagert und intensiviert hat. Insbesondere Forschungen zum Islam profitieren dabei von den Erkenntnissen der Regionalwissenschaften oder Area Studies, die die Überwindung orientalistischer Stereotypen, wie sie in den Medien vielfach vermittelt werden, erleichtern.

Zu den im Feld bereits aktiven Akademiker_innen gehören drei verschiedene Typen von Forschenden: Zunächst sind die langjährigen Expert_innen in Sachen Naher Osten, Gewalt, Radikalisierung und Terrorismus zu nennen, zu denen etwa Michel Wieviorka, Gilles Kepel, Nilüfer Göle und Farhad Khoroskhavar zählen. Aber auch viele jüngere, oft institutionell noch nicht fest verortete Forscher_innen haben sich einen Namen gemacht, ungeachtet ihrer oft prekären beruflichen Situation. Zudem hat eine Reihe von Wissenschaftler_innen aus anderen Disziplinen in den letzten Jahren den Wechsel in das tagesaktuell relevante Themenfeld der Terrorismusforschung vollzogen.

Damit ergibt sich eine gewisse Bandbreite an Zugängen und Expertisen, die allerdings noch Schwächen und Leerstellen aufweist. So sind beispielsweise Nahostkenner_innen immer noch rar gesät, während die zahlreichen Forschungsprojekte zu Risiken und Gefahrenprävention den Aspekt der menschlichen Verletzlichkeit noch zu wenig berücksichtigen. Auch die Rolle des Rechts sowie Fragen der Cybersicherheit müssen noch besser ausgeleuchtet werden. Gleiches gilt für den Zusammenhang von Ökonomie und Terrorismus oder die Auswirkungen der französischen Außenpolitik.

2. Die politische Programmatik von ATHENA

Die Wissenschaftspolitik sollte sich also darum bemühen, Forschungen aus diesem Themenfeld zu fördern, um sie in einem zweiten Schritt einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Forschende sollten ausdrücklich gebeten werden, ihre Befunde zur Verfügung zu stellen, nicht zuletzt, um die Kommunikation mit der Politik zu optimieren. Insbesondere das CNRS hat seine Förderung bisher zu wenig beforschter Gebiete bereits ausgebaut, zudem Veranstaltungen beispielsweise zu Radikalisierungsprozessen organisiert, aber auch neue Stellen für Studien zu Gewalt oder Sicherheitsfragen ausgeschrieben. Als Vorbilder könnten öffentlichkeitswirksame Institute anderer Länder dienen, etwa die Leopoldina in Deutschland oder die Royal Society in Großbritannien.

Es hat sich herausgestellt, dass die Gewaltforschung von den Verhaltenswissenschaften profitieren kann, sofern sie deren Erkenntnisse für Studien sozialen und kollektiven Verhaltens nutzbar zu machen versteht. Der dazu notwendige Wissenstransfer zwischen Neuro- und Kognitionswissenschaften einerseits und der Soziologie beziehungsweise Anthropologie andererseits stellt sich auch als eine ernstzunehmende Herausforderung der klassischen Disziplinengrenzen dar. Nicht minder essenziell für ein angemessenes Verständnis von Radikalisierungsdynamiken sind Untersuchungen zum Verlauf von Bildungsgeschichten sowie zur Mediennutzung.

Nicht zuletzt besteht der Wunsch, sowohl die Wissenschaft zur „Verteidigung“ der Gesellschaft zu „mobilisieren“. Die Bevölkerung sollte sich zu einer „wahren Gemeinschaft“, die die Wissenschaft in ihre Bemühungen um Sicherheit einbezieht, zusammenschließen. Freilich steht nicht nur Frankreich, sondern Europa insgesamt vor den Herausforderungen des gewalttätigen Extremismus. Da die EU diverse Förderprogramme, vor allem für Forschungsnetzwerke wie das Radicalisation Awareness Network, aufgelegt hat, sollte Frankreich seine entsprechenden Aktivitäten gesamteuropäisch koordinieren.

Auf der Grundlage der vorliegenden Bestandsaufnahme soll der Wissenstransfer zwischen der akademischen und der gesellschaftlich-politischen Welt nun verstärkt und verbessert werden. Zunächst ist allerdings eine Stärkung der wissenschaftlichen Ressourcen erforderlich:

  • Erstens wird deshalb eine bessere finanzielle Ausstattung der Instituts français de recherche à l’étranger (Französische Forschungsinstitute im Ausland, in der Organisation UMIFRE zusammengefasst) gefordert, die eine große Rolle bei der Ausbildung von Doktoranden der Regional- und Islamwissenschaften spielen. Zudem sollten diese Einrichtungen innereuropäisch besser vernetzt werden. Ein gemeinsames Forschungsprojekt der UMIFRE und ATHENA ist in Planung.

  • Das Gleiche gilt zweitens für das französische Netz der Instituts d’ Études Avancés (RFIEA), die Forschungsstipendien vergeben und sich in Aix-Marseille, Lyon, Paris und Nantes befinden. Sie koordinieren zudem das Network of European Institutes for Advanced Study (NetIAS).

  • Drittens sollen Forschungsvorhaben zu den Themen Terrorismus, kollektives Verhalten, Gewalt, Propaganda, (post-)koloniale Geschichte und Sicherheit u.a. vom Centre national de la recherche scientifique (CNRS) verstärkt gefördert werden.

Um die Kommunikation zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft zu verbessern, werden mehrere für Frankreich revolutionäre Maßnahmen vorgeschlagen:

  • Das „operationelle Interface“ ATHENA-TRANSFERT ist als hybride Organisation konzipiert, die vom Präsidenten des Netzwerks ATHENA und einem Mitglied des Parlaments geleitet werden soll. Sie soll sich strukturell am Beispiel des Radicalisation Awareness Network orientieren und Arbeitsgruppen anleiten, die sich aus Wissenschaftler_innen und Praktiker_innen zusammensetzen. Auch hybride Forschungseinrichtungen aus dem Gesundheitsbereich wie das INSERM können als Vorbilder dienen.

  • Ein_e international renommierte_r und allgemein anerkannte_r Wissenschaftler_in soll den Ministerien als Berater_in in Sachen Radikalisierung, Islam und Terrorismus dienen. Die fragliche Person, die außerdem ein internationales Forschungsnetzwerk koordinieren soll, wäre mit politischer Autorität ausgestattet und würde Frankreich bei internationalen Zusammenkünften zur Terrorismusbekämpfung vertreten.

  • Das „Observatoire“, eine digitale Plattform, soll alle Forschungsdaten der Sozial- und Humanwissenschaften in Frankreich dokumentieren und zum Austausch sowie Datenexport bereitstellen, aber auch einen Ort für strategische und disziplinäre Reflexionen und Analysen bieten. Institutionen, Forschergruppen und Projekte werden auf der Plattform ebenfalls katalogisiert sowie auf einer Karte verzeichnet. Die Plattform soll zum wichtigsten human- und sozialwissenschaftlichen Forschungsportal werden.
    Sie wird von der FMSH konzipiert und von allen der Allianz angehörenden Institutionen unterstützt. Die Agence Nationale de la Recherche (ANR) beteiligt sich darüber hinaus an diesem Projekt und stellt ihm Daten zur Verfügung, zusätzlich bietet das Observatoire des Sciences et Techniques (OST) seine Expertise an.

Auch mit anderen nationalen oder regionalen politischen Institutionen, beispielsweise dem Bund der französischen Bürgermeister, sollte die Wissenschaft besser kommunizieren, um sich häufiger und prominenter in den öffentlichen Diskurs einzuschalten. Schließlich wird die Veranstaltung einer großen Konferenz ins Auge gefasst, deren Themenstellung die öffentliche Verantwortung der Sozial- und Humanwissenschaften wäre.

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Was ist von ATHENA zu erwarten?

Will man das Vorhaben der Allianz kritisch einordnen, steht man angesichts der noch recht allgemein gehaltenen Beschreibung vor einigen Unwägbarkeiten. Inwiefern speist sich die Programmatik wirklich aus forschungspolitischen Überlegungen und wie verhalten letztere sich zu handfesteren ökomischen wie strategischen Interessen? Wie kann das Verhältnis von akademischer Welt und Staat, insbesondere im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Wissenschaft, ausgewogen bleiben? Nicht zuletzt muss sich erweisen, welche Umsetzung die Projektskizze finden wird. Dass Frankreich in Sachen Radikalisierungsforschung neue Wege gehen will und wird, scheint angesichts der bereits vorliegenden Stellungnahmen allerdings außer Frage zu stehen.

  1. Jean-Baptiste de Montvalon, „Expliquer, c’est déjà vouloir un peu excuser“: la cinglante réponse des chercheurs à Manuel Valls, in: Le Monde, 3. März 2016. Siehe auch den Abschnitt „Europa“ in der 9-Uhr-Debattenrundschau des Perlentaucher vom 7. März 2016.
  2. Konkret heißt es: „renforcer la contribution de la recherche en SHS [sciences humaines et sociales] à la compréhension et à la résolution des grands problèmes sociétaux contemporains“, vgl. ATHENA, „Nos missions“.
  3. Montvalon, „Expliquer, c’est déjà vouloir un peu excuser“.
  4. Vgl. ATHENA, Recherches sur les radicalisations, les formes de violence qui en résultent et la manière dont les sociétés les préviennent et s’en protègent. Etat des lieux, propositions, actions, März 2016. In Anführungszeichen stehen wörtliche Zitate aus dem Papier.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Wissenschaft Politik Gewalt

Christina Müller

Dr. Christina Müller ist Literaturwissenschaftlerin und Lektorin im Philipp Reclam jun. Verlag. Sie war bis November 2016 für das Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Portals Soziopolis tätig.

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