Frauke Hamann | Rezension |

Macht- oder Systemwechsel?

Rezension zu „Krisen der Demokratie“ von Adam Przeworski

Abbildung Buchcover Krisen der Demokratie von Przeworski

Adam Przeworski:
Krisen der Demokratie
übers. von Stephan Gebauer
Deutschland
Berlin 2020: Suhrkamp
256 S., 18,00 EUR
ISBN 978-3-518-12751-3

Man könnte meinen, es reicht: Zahlreiche Studien und Essays zur Krise der Demokratie sind in den letzten Jahren erschienen.[1] Auslöser waren unter anderem der 11. September 2001, der Schock nach dem Wahlsieg von Donald Trump 2016, der bis heute nachwirkt, und die verstörenden Bilder vom Sturm auf das Kapitol im Januar 2021. Was sagt die Fülle an Büchern zur Krisenhaftigkeit der Demokratie über ebendiese Krisen aus? Sind sie ein Indiz für deren Tiefe und Bedrohlichkeit oder für die Unschärfe des allgegenwärtigen Krisenbegriffs? „In Bezug auf politische Ordnungen sollte von einer Krise erst dann gesprochen werden, wenn Umstände vorliegen, die die Beibehaltung der alten Ordnung unmöglich machen, ohne dass die Konturen einer neuen in Sicht wären“,[2] gibt der Frankfurter Politikwissenschaftler und Philosoph Rainer Forst zu bedenken.

Mitunter erweist sich die Politik in Deutschland, Österreich und anderen europäischen Ländern als erschreckend zögerlich bei der Bewältigung der Corona-Pandemie. Nicht erst als sich im Nirwana zwischen geschäftsführender und voraussichtlicher deutscher Regierung scheinbar niemand so recht für politisches Handeln zuständig fühlte, konnte der Eindruck entstehen, das föderale Gemeinwesen sei der aktuellen Gesundheitskrise nicht gewachsen. Ein krisenverdrängender und zugleich krisenhafter Machtübergang war zu beobachten. Wie ist das Transitorische einer solchen politischen Situation zu erfassen, wie lässt sich der Übergang begrifflich präzise und argumentativ konzise bestimmen? So gesehen kann es kein Zuviel an Reflexion über den aktuellen Zustand westlicher Demokratien geben. Denn auch ‚gestandene Demokratien‘ geraten immer wieder in längere oder kürzere, größere oder kleinere Krisensituationen, die der Analyse bedürfen. Der aus Polen stammende Politikwissenschaftler Adam Przeworski von der New York University legt mit Krisen der Demokratie eine ebenso überlegt argumentierende wie unaufgeregte Publikation vor und verspricht:

„Ich gebe einen Überblick über die gegenwärtige politische Lage in den gefestigten Demokratien der Welt, stelle sie in den Kontext historischer Fälle, in denen demokratische Regime scheiterten und untergingen, und spekuliere über die Zukunftsaussichten dieser Regierungsform.“ (S. 8)

Przeworski versteht die Demokratie in erster Linie als politische Ordnung, in der die Bürgerinnen und Bürger ihre Regierung mittels Wahlen bestimmen und in der sie zugleich die Möglichkeit haben, sich einer Regierung zu entledigen, die ihnen nicht gefällt. Die Demokratie sei schlicht ein System, in dem amtierende Regierungen Wahlen verlieren und daraufhin abtreten (S. 15). Grundlegende Prädikate der Demokratie seien also Wahlen mit echtem Wettbewerb, Bürgerrechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie Rechtsstaatlichkeit (S. 13). Eine Krise der Demokratie lässt sich nur in Relation zu den diesen Dreiklang definierenden Merkmalen bestimmen. Repressionen, akute Ungleichheit oder schwindendes Vertrauen in die repräsentativen Institutionen sind allesamt Gefahren für die Demokratie, weil sie die Möglichkeit der Bürgerschaft bedrohen, ihre Regierung abzuwählen.

Für Przeworski ist Demokratie ein Mechanismus der Konfliktverarbeitung, der auf politische Institutionen angewiesen ist, denn sie strukturieren, organisieren und moderieren gesellschaftliche Gegensätze. In funktionierenden Demokratien werden „politische Auseinandersetzungen in Freiheit, zivilisiert und friedlich ausgetragen“ (S. 18). Die Definition kommt Rainer Forsts Bestimmung der Demokratie nahe:

„Der Demokratie ist der Krisenmodus nicht fremd, sie lebt vielmehr davon, soziale Blockaden vermittels kollektiver Verständigungsprozesse zu überwinden. Es geht ihr darum, eine Organisation des gemeinsamen Lebens zu schaffen, in der alle Beteiligten nicht nur Adressaten allgemein gerechtfertigter Normen, sondern auch Autoren solcher Normen sind.“[3]

Wenn aber die Krise ein der Demokratie inhärenter Modus ist, welche Mechanismen bildet sie zu seiner Bewältigung aus und welche davon bewähren sich unter den je spezifischen Bedingungen? Der Autor betrachtet zunächst kursorisch die historischen Ursachen und Gründe der Krisenanfälligkeit von Demokratien – das Ende der Weimarer Republik von 1928 bis 1933, Chile unter Salvador Allende (1970–1973), die Verfassungsreform in Frankreich, infolge derer der Algerien-Krieg zu Ende ging, und die Proteste gegen den Vietnamkrieg in den USA. Przeworski will prüfen, ob wir daraus Rückschlüsse für die Bewältigung aktueller Situationen ziehen können.

Die konstitutionelle Lähmung in Chile rief das Militär auf den Plan; in Frankreich ermöglichten die durch die Präsidialverfassung vergrößerten Befugnisse dem Präsidenten andere politische Lösungen als eine parlamentarische Demokratie, was Charles de Gaulle ausgiebig nutzte; selbst als es Ende der 1960er- bis Mitte der 1970er-Jahre in den USA zu gewaltsamen Unruhen und politischen Morden kam, funktionierte dort die Gewaltenteilung – dies zeigte die Ahndung von Präsident Nixons Machtmissbrauch (Watergate). Die gewählten historischen Beispiele verdeutlichen, wie langanhaltend Krisen der Demokratie sein und wie ausweglos sie scheinen können, je nachdem, wie die politische Ordnung verfasst ist. Natürlich spielen zudem die konkrete politische Konstellation und zeitgenössische Herausforderungen eine beachtliche Rolle. Was sind Kriterien für die Beurteilung der Krisenfestigkeit einer Demokratie? Gibt es unvermeidlich krisenhafte Entwicklungen und was sind deren Indikatoren? Und wann kann man davon ausgehen, dass Krisen ein institutionelles Regierungssystem gefährden? Für aktuelle Krisenphänomene jedenfalls taugt der Blick in die Geschichte kaum, so Przeworskis kühles Fazit. „Die Bedingungen entscheiden nicht über die Ergebnisse; diese hängen davon ab, was Menschen unter den gegebenen Bedingungen tun.“ (S. 96)

Wie Steven Levitsky und Daniel Ziblatt (Wie Demokratien sterben, 2018) nennt auch Adam Przeworski mehrere Faktoren, die – in unterschiedlichen Kombinationen – Demokratien gefährden können: das Aushöhlen der Regeln des demokratischen Systems, die Diffamierung der politischen Opposition, das Tolerieren oder gar Fördern von Gewalt und die Unterdrückung von Oppositionellen und Medien. Auch die wachsende ökonomische Ungleichheit in den OECD-Ländern, den Bedeutungsverlust der Gewerkschaften und die Deregulierung der Finanzmärkte sieht er als wichtig an. Darüber hinaus wachse die Distanz der Wählerschaft zu den Parteien, genauer: Erstere sei immer unzufriedener mit Letzteren, was unter anderem zu sinkender Wahlbeteiligung führe; zudem rechneten die Menschen kaum noch mit intergenerationellem Fortschritt. Doch warnt Przeworski davor, die beobachtete gesellschaftliche Spaltung, die er unter anderem an der Zunahme von Hassverbrechen zu erkennen glaubt, allein politisch zu interpretieren. Schließlich gäbe es in jeder Gesellschaft zu jedem Zeitpunkt auch religiös begründete Konflikte oder solche, die von Ehrgeiz, Eitelkeit oder Machtstreben ausgelöst würden.

Die Zahl der politischen Parteien ist seit Anfang der 1980er-Jahre gestiegen – dies kann eine Destabilisierung, aber auch eine Revitalisierung der Demokratie bewirken. Fest steht allerdings, dass die Erosion der traditionellen Parteiensysteme derzeit in vielen Staaten die Wählerpräferenzen verändert: weg von den gemäßigten Parteien in der Mitte des politischen Spektrums hin zu eher populistischen Bewegungen an dessen Rändern. Die Menschen sind unzufrieden mit den Berufspolitikern, aber auch mit der Arbeit der Parteien, die wiederum nicht in der Lage sind, ihre bisherige Klientel adäquat anzusprechen und zu mobilisieren. „Die vorherrschende Stimmung ist populistisch“ (S. 106), formuliert es Przeworski etwas grob, doch die populistischen Parteien seien antiinstitutionell, nicht antidemokratisch.

Bei der Interpretation der ausgemachten Erosionszeichen westlicher Demokratien, so der Autor weiter, sollten wir Trends nicht mit Kausalitäten verwechseln. Anhand der Wählerstimmen und der Unterstützung für die radikale Rechte verdeutlicht Przeworski, warum sich politische Einstellungen nicht zwangsläufig mit der wirtschaftlichen Lage der Wählerinnen und Wähler erklären lassen. Längst nicht immer sind die von rechtsradikalen Parteien angebotenen Lösungsvorschläge für eine prekäre Wirtschaftslage tatsächlich im Interesse ihrer Wählerklientel. Die Wählerinnen und Wähler sind in ihren Wahlentscheidungen durchaus voreingenommen. Einerseits begründen Menschen ihre politische Haltung mit der Sorge um ihren Arbeitsplatz oder mit zu niedrigen Löhnen, andererseits wählen sie nach Parteipräferenz oder Loyalität, was mitunter zur Folge hat, dass sich ihre wirtschaftlichen Aussichten gerade nicht verbessern (S. 149). Wie Przeworski durch Feinanalysen der Situation in den USA 2016 zeigt, wirkt sich eine hohe Arbeitslosigkeit negativ auf die Wahlbeteiligung aus, doch fehlen eindeutige Belege dafür, dass wirtschaftliche Faktoren die Zustimmung zu Trump erhöht hätten. Ebenso wenig führt eine wachsende Einkommensungleichheit notwendigerweise zu politischer Polarisierung.

Ähnlich unklar ist der Einfluss globaler Entwicklungen, aber: „Es muss zumindest eine gewisse Interaktion zwischen globalen Ursachen und nationalen Faktoren geben.“ (S. 148) Leider ist gerade dieses Zusammenspiel schwierig zu untersuchen, zumal es sich entweder um Übertragungs- oder um Abschreckungseffekte handeln kann. Auch auf die Gefahr hin, seine Leserschaft zu enttäuschen, schreibt Przeworski: „Wir neigen dazu, in komplexen Situationen stets nach einem Sinn zu suchen und anzunehmen, verschiedenartige Phänomene, die uns überraschen, müssten irgendwie zusammenhängen.“ (S. 155)

Könnte es passieren, dass die USA, eine zweihundert Jahre alte Demokratie, faschistisch würde? Dies war nach dem Wahlsieg Donald Trumps 2016 eine weithin geteilte Befürchtung. Nein, argumentiert der Autor, nicht zuletzt wegen des veränderten Wohlstandsniveaus halte er historische Analogien (hier zur Situation in Europa Anfang der 1930er-Jahre) für heikel: In Deutschland stieg das Pro-Kopf-Einkommens zwischen den Jahren 1922 und 2008 von 3362 auf 20.801 Dollar, in Österreich von 2940 auf 24.131 Dollar und in Italien von 2631 auf 19.909 Dollar, wir leben also in einer ökonomisch anderen Welt. Außerdem sei es oft schwierig bis unmöglich, Ursache und Wirkung eindeutig festzustellen: „Brach die Demokratie zusammen, weil die Wirtschaft stagnierte, oder stagnierte die Wirtschaft, weil sich der Zusammenbruch der Demokratie ankündigte?“ (S. 165) Trotz besserer Einkommensverhältnisse gibt es für Przeworski Grund zur Sorge. Wie belastbar sind konsolidierte Demokratien angesichts stagnierender Einkommen bei Niedrigverdienern und angesichts zunehmender Ungleichheit? Dass mehr als 60 Prozent der Befragten in den USA und Europa glauben, ihre Kinder werden einmal schlechter gestellt sein als sie ist historisch einmalig – wohlgemerkt obwohl das Durchschnittseinkommen in den OECD-Ländern zwischen 1820 und 2008 um das 22-Fache gestiegen ist.

Befindet sich die Demokratie in manchen Staaten nicht nur in der Krise, sondern bereits an ihrem Ende? Oder ist die Krise der Demokratie eine Erfindung, wie Wolfgang Merkel provokant fragt. Er vermutet, die Rede darüber belege vielmehr „den diffusen Gebrauch eines Begriffs, dessen analytische Grenzlinien aufgrund seiner ubiquitären Verwendung schon hinreichend abgedunkelt sind“.[4] Przeworski, kein Freund zugespitzter Thesen, misstraut vermeintlichen Gewissheiten, weil die Betrachtungszeiträume relativ kurz sind. Er geht nicht davon aus, dass in den meisten Ländern das Überleben der Demokratie an sich auf dem Spiel steht, sondern dass es vielmehr innerhalb des demokratischen Systems zu Machtwechseln kommt. „Das Wunder der Demokratie ist, dass rivalisierende politische Kräfte die Ergebnisse der Wahlen anerkennen.“ (S. 187)

Allerdings, auch dies macht der Autor deutlich, können sich Demokratien zurückentwickeln, sie können angegriffen oder abgeschafft werden. Denn sie verfügen über keinen institutionellen Mechanismus, der verhindern könnte, dass sie „von einer rechtmäßig gewählten Regierung, die sich an die konstitutionellen Regeln hält, untergraben […] werden“ (S. 203). Wie ein Blick zurück zeigt, ging die politische Macht zwischen 1788 und 2008 weltweit 544 Mal durch Wahlen und 577 Mal durch einen Umsturz in andere Hände über. Gerade angesichts dieses Gleichgewichts verdeutlicht Przeworskis Buch, dass mit wohltuend differenzierter Analyse in der politischen Debatte gewiss mehr gewonnen ist als mit Alarmismus.

  1. Vgl. Frauke Hamann, Alarm und Analyse. Ein Weckruf von Yascha Mounk und Diagnosen von Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, in: Soziopolis, 22. November 2018.
  2. Rainer Forst, Die Demokratie in der Krise [13.12.2021], in: Frankfurter Rundschau, 1.1.2021.
  3. Ebd.
  4. Wolfgang Merkel, Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie, Wiesbaden 2015, S. 495.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Demokratie Politik Soziale Ungleichheit Staat / Nation

Frauke Hamann

Frauke Hamann studierte Germanistik und Geschichte und ist als freie Journalistin und Lektorin tätig. (© Thies Ibold)

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