Timo Luks | Rezension | 16.06.2017
Markt und Moral
Gerhard Streminger macht Adam Smith zum Vater der sozialen Marktwirtschaft
Adam Smith war kein One-Book Wonder. Seiner voluminösen Untersuchung über den Wohlstand der Nationen (1776), die vielen als das Hauptwerk gilt, ging die um Grundlegung einer breit gefassten Wissenschaft vom Menschen bemühte Theorie der ethischen Gefühle (1759) voraus. Wer Smith als Theoretiker in den Blick bekommen will, muss beide Werke berücksichtigen. Gerhard Stremingers neue Biographie tut genau das und zeigt die doppelte Ausrichtung bereits im Titel an: Adam Smith – Wohlstand und Moral.
In biographischer Hinsicht bietet die gut lesbare und erfreulich handliche Studie wenig Neues. Das liegt nicht zuletzt daran, dass gerade mit Blick auf Smiths Privatleben nur spärliche Quellen vorliegen, die zudem seit langer Zeit bekannt sind. An bestimmten Punkten lässt sich dem Wissen über seine Person daher schlichtweg nichts mehr hinzufügen. Leserinnen und Leser, die hier bereits gewisse Vorkenntnisse mitbringen, werden in Stremingers Studie eher Bekanntes entdecken. Für alle anderen bietet sein Buch allerdings einen hervorragenden Einstieg, um sich den verschiedenen Stationen in Smiths Leben zu nähern.
Stremingers Ausführungen beginnen allerdings nicht mit einem Porträt Adam Smiths, sondern mit einer Skizze Schottlands. Ihm geht es dabei um die historisch-gesellschaftlichen Kontexte, in denen sich Smiths Denken entfaltete. So verweist er zum einen auf die Rolle, die religiöse Bewegungen und Konflikte für die Entwicklung der schottischen Gesellschaft spielten. Namentlich die schottische Spielart der Reformation, der Presbyterianismus, habe dazu beigetragen, dass in Schottland eine beachtliche Universitätslandschaft entstanden sei, gekennzeichnet durch die im Vergleich zum bevölkerungsstärkeren England größere Zahl an Universitäten, aber auch eine größere Offenheit und Neuerungsbereitschaft hinsichtlich der Studieninhalte.[1] Zum anderen hebt Streminger die Bedeutung der schwierigen ökonomischen Rahmenbedingungen hervor: Aus der Perspektive eines kolonialen Handelskapitalismus sei Schottland – ohne Kolonien und ohne nennenswerte Exporte – zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine Art „failed state“ gewesen. Aber eben diese Konstellation habe zahlreiche Reformer auf den Plan gerufen, die darüber stritten, ob die wirtschaftliche Zukunft des Landes in innerer Umgestaltung samt Stärkung des Binnenmarkts oder im Freihandel mit England und seinen Kolonien zu suchen sei. Ausgehend von diesen Bedingungen beschreibt Streminger eine soziale Situation, die sich durch ein fortschrittliches Bildungssystem („generelle Bildungsbeflissenheit“, einhergehend mit einer gewissen „sozialen Offenheit“ der Schulen) ebenso ausgezeichnet habe wie durch die vergleichsweise große Bedeutung von Unternehmern und Intellektuellen als gesellschaftlicher Gruppe. Diese spezifische Mixtur, so Streminger, habe der schottischen Aufklärung ihren besonderen Charakter verliehen: „Die Schottischen Aufklärer entfachten einen intellektuellen Sturm und einen Pioniergeist, der weit in die Moderne reicht. Von den Französischen Aufklärern unterscheiden sich die Schotten nicht zuletzt durch ihren Pragmatismus: Sie stellten radikale Fragen […], kamen aber zu keinen extremen, sondern zu gemäßigten Antworten.“ (S. 14) Das Schottland von Adam Smith und seinem Freund David Hume, dem Streminger vor einiger Zeit ebenfalls eine ausgezeichnete Biographie gewidmet hat,[2] erscheint in dieser Lesart als ein Laboratorium der aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaft und als Verkörperung eines bestimmten Entwurfs von Moderne.
Adam Smith – Wohlstand und Moral zielt vor allem darauf, Smiths Gesellschaftsmodell zu rekonstruieren, und das heißt: sichtbar zu machen, dass dieses Modell nicht dasjenige einer radikalen Marktgesellschaft war. Es ist zu begrüßen, dass Streminger die grundlegende Bedeutung von Smiths Theorie der ethischen Gefühle für sein politisches und ökonomisches Denken ausgiebig diskutiert. Ihm zufolge wird darin ein Gegenentwurf zu utilitaristischen und rationalistischen Ethiken wie auch „zu jenen Moraltheorien“ greifbar, die „jahrtausendelang lehrten, dass die Grundlage des Sittlichen in etwas Transzendentalem wurzelt und dass der Zweck sittlichen Handelns jenseitige Freuden sind.“ (S. 67) Smiths Entwurf der menschlichen Natur habe nicht am Spezialfall egoistischen Handelns im Kontext von Markttransaktionen angesetzt, sondern vielmehr die zentrale Bedeutung von sympathy – also die Fähigkeit und Erfahrung emotionaler Anteilnahme – für die menschliche Existenz herausgestellt. Streminger zufolge lieferte Smith „gerade keine Blaupause für den Homo Oeconomicus, der im Eigennutz seine einzige Triebfeder sieht – und möglicherweise auch noch mächtig stolz auf sein Verhalten ist oder sich gar als Avantgarde ‚mit dem wahren Durchblick‘ erlebt. Der schottische Moralphilosoph zeichnete vielmehr ein weitaus realistischeres Porträt von Menschen und keine Skizze von Strichmännchen. Zwar sind wir auch von Eigeninteresse geleitet, doch sind Menschen keinesfalls triviale Nutzenmaximierungsmaschinen.“ (S. 72)
Mit dieser Sichtweise stand Smith nicht allein. Wie Streminger betont, teilte er sie mit den meisten Klassikern der ökonomischen Theorie: „Sie alle sahen zwar die möglichen Vorteile einer Wettbewerbswirtschaft und setzten sich dafür ein. Aber die Teilnehmer an diesem Wettbewerb sollten sich wie faire Sportler verhalten; und sie seien dazu imstande, weil die Menschennatur dafür Vorsorge getroffen hat: durch Mitgefühl mit anderen sowie durch das Vergeltungsgefühl als Basis von Gerechtigkeit, sowohl gegenüber fremdem als auch gegenüber eigenem Tun.“ (S. 73) Die Vertreter einer moralphilosophisch grundierten politischen Ökonomie hätten den Markt und damit das freie Spiel der Marktkräfte zwar für einen wichtigen, aber keineswegs für den entscheidenden Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft gehalten. Auch wenn sie in ihm einen für die Sicherung des Wohlstands der Nationen unentbehrlichen Aspekt gesehen hätten, so doch nur einen Aspekt unter vielen. Smith habe zwar die Steigerung der produktiven Kräfte durch die Segmentierung der Arbeit erkannt und begrüßt, aber doch nicht verkannt, dass dadurch zugleich die „höheren menschlichen Fähigkeiten“ zu verkümmern drohten. „Somit sah der intellektuelle Begründer des Kapitalismus zugleich dessen Nachteile, obwohl er erst am Anfang dieser Art des Wirtschaftens stand. Smith war jedoch nicht nur ein scharfsinniger Beobachter, sondern als Deist auch Optimist. Er glaubte nämlich, dass ein funktionierender Staat, der seine schützenden Aufgaben wahrnimmt, die negativen Folgen einer allgemeinen Spezialisierung entscheidend mildern könne.“ (S. 174)
In Formulierungen wie dieser zeigt sich, dass es Streminger in erster Linie um die Aktualisierung bestimmter Positionen von Adam Smith geht. Ideengeschichtliche Kontextualisierungen oder semantische Analysen, die die Besonderheiten des moralisch-ökonomischen Diskurses des 18. Jahrhunderts sowie die Unterschiede zu unserer heutigen Sprache des Ökonomischen herauszuarbeiten suchen, treten dagegen in den Hintergrund. Stremingers Smith neigt dazu, sich uns heutigen Leserinnen und Lesern als Zeitgenosse aufzudrängen. Er wird präsentiert als einer der Vordenker und Begründer nicht des Neoliberalismus, sondern der sozialen Marktwirtschaft, der aus ethischen Gründen für eine Begrenzung des Markts eingetreten und überzeugt gewesen sei, dass erst eine um praktische Aufklärung bemühte Politik „aus einer Händlerkultur, der commercial society, einen modernen Wohlfahrtsstaat“ machen könne. Entsprechend gestaltet sich Stremingers Conclusio: „Zwischen den beiden Hauptwerken Smiths, seinem ethischen und seinem politisch-ökonomischen, gibt es keinen Gegensatz. Deshalb könnten wir uns die Suche nach einem Dritten Weg zwischen Raubtierkapitalismus und Planwirtschaft eigentlich ersparen. Der Begründer der Politischen Ökonomie hat ihn schon längst gefunden, und das vor einem Vierteljahrtausend.“ (S. 177)
Gegen die Absicht eines Biographen, seinen Forschungsgegenstand gegen Versuche ideologischer Vereinnahmung und politischer Instrumentalisierung zu verteidigen, ist sicher nichts einzuwenden. Vor diesem Hintergrund ist Stremingers Abhandlung als eine willkommene Popularisierung der Ergebnisse der Smith-Forschung zu begrüßen. Allzu große Erwartungen im Hinblick auf die Überwindung der Hegemonie einer bestimmten Politik oder der Vorherrschaft einer ökonomischen Theorieschule sollte man gleichwohl nicht mit ihr verbinden. Neoklassik und ‚Neoliberalismus’ dürften angesichts der keineswegs neuen Erkenntnis, dass Adam Smith kein Marktradikaler war, sicher nicht in eine Sinnkrise geraten. Wer derartiges hofft, verkennt, welche Funktion Porträts in ideologischen, politischen und wissenschaftlichen Ahnengalerien haben: die Vergewisserung über die gesellschaftliche und wissenschaftliche Relevanz bestimmter Fragen und Probleme, die Konstituierung einer über die Gegenwart hinausweisenden scientific community oder politischen Partei sowie die Bereitstellung einer gemeinsamen Sprache, die die Stabilität und Kohärenz einer wissenschaftlichen Disziplin oder eines politisch-ideologischen Programms gewährleistet. Im strengen Sinn handelt es sich also weniger um Porträts, die die Porträtierten möglichst treffend abbilden sollen, als vielmehr um Bilder, in denen die Nachfahren sich selbst und ihnen vertraute Züge (wieder-)erkennen sollen. Das ist im Fall von Adam Smith nicht anders als bei Jean-Jacques Rousseau, Karl Marx oder auch Max Weber.
Stellt man das in Rechnung, erscheint die eine oder andere Einschätzung Stremingers als etwas zu forsche Aktualisierung und invention of tradition, in diesem Fall die Erfindung einer Tradition nicht des Neoliberalismus, sondern der sozialen Marktwirtschaft. Die vorliegende Biografie liefert zwar einige Hinweise und Argumente für eine entsprechend veränderte Neuanordnung der Ahnengalerien, bei der Adam Smith vielleicht lieber in der Nähe von Karl Polanyi als von Milton Friedman platziert werden sollte. Eine detaillierte und systematisch schlüssige Begründung dafür bleibt sie aber schuldig. Inwieweit sich Smiths moralphilosophische Ansichten über Anteilnahme, Mitgefühl und Vergeltungsbedürfnis als Bestandteile der menschlichen Natur auf Vorstellungen des modernen Wohlfahrtsstaats als soziales und institutionelles Arrangement beziehen lassen, wäre eine spannende Frage, die Stremingers Buch allerdings nicht stellt. Seine Qualitäten als informative, gut lesbare Einführung in Leben und Werk eines der bedeutendsten Philosophen, Ökonomen und Reformer des 18. Jahrhunderts, der wissen wollte, in welcher Gesellschaft er lebte und welche zukünftigen Entwicklungen auf ihn und seine Zeitgenossen noch zukommen würden, beeinträchtigt das jedoch nicht.
Fußnoten
- Smith selbst fasste seine Erfahrungen als Student in England und Professor in Schottland einmal in der polemischen Bemerkung zusammen, dass die Professoren an schottischen Universitäten tatsächlich lehren müssten und kaum die Möglichkeit hätten, sich dieser Verpflichtung zu entziehen, während sie in Oxford in erster Linie die professorale Geselligkeit pflegten.
- Gerhard Streminger, David Hume – Der Philosoph und sein Zeitalter, überarb. Neuauflage, München 2011.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
Kategorien: Wirtschaft Politische Theorie und Ideengeschichte Kapitalismus / Postkapitalismus Gesellschaft
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