Julia Spohr | Rezension |

Mechanismen männlicher Macht

Rezension zu „Le genre du capital. Comment la famille reproduit les inégalités“ von Céline Bessière und Sibylle Gollac

Céline Bessière / Sibylle Gollac:
Le genre du capital. Comment la famille reproduit les inégalités
Frankreich
Paris 2020: La Découverte
S. 336, EUR 14,99
ISBN 9782348044380

Wie gestalten sich ökonomische Beziehungen innerhalb von Familien? Wenn sich die französischen Soziologinnen Céline Bessière und Sibylle Gollac in ihrer kürzlich erschienenen Publikation Le genre du capital. Comment la famille reproduit les inégalités dieser Frage widmen, kehren sie gewissermaßen zum Kernthema des sogenannten Materiellen Feminismus der 1970er-Jahre zurück. Lag der Schwerpunkt innerhalb der französischen Sozialwissenschaften zu dieser Zeit auf der Ungleichheit zwischen Mann und Frau, die damals auf dem Arbeitsmarkt bestand,[1] rücken die Autorinnen heute die ökonomischen (Macht-)Beziehungen innerhalb der Familie ins Zentrum ihrer Betrachtung. Damit stehen sie in einer Linie mit jüngeren sozialwissenschaftlichen Arbeiten, die diesen Aspekt insbesondere im Hinblick auf Gewalt gegen Frauen vermehrt thematisieren.[2]

Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist die Beobachtung, dass nicht nur die Ungleichheit zwischen den sozialen Klassen, sondern auch zwischen den Geschlechtern aktuell wieder zunimmt. Auf der Suche nach den Ursprüngen dieser Ungleichheiten wollen die Autorinnen vor allem die Produktion, Zirkulation und Kontrolle innerfamiliären Kapitals analysieren; denn dort – so die Vermutung – läge die Ungleichheit begründet. Weil Statistiken bislang keinen Aufschluss über die Kapitalverteilung innerhalb eines Haushalts geben, wählten die Soziologinnen einen ethnografischen Ansatz. Über mehrere Jahre – der Erhebungszeitraum erstreckte sich von 1997 bis 2005 – begleiteten sie Familien unterschiedlicher sozialer Herkunft in Schlüsselmomenten ihres Lebens, von denen die Autorinnen vermuteten, dass sie ihnen Erkenntnisse über die innerfamiliäre Kapitalverteilung ermöglichten. Dazu zählten etwa Hochzeiten, Scheidungen oder Erbschaften. Daraus sind „monographies de familles“ (S. 16) hervorgegangen, Familiengeschichten, die das Herzstück der gesamten Studie bilden. Die Analysen der Familiengeschichten werden darüber hinaus von einem Datensatz flankiert, der 3.000 Urteile von sieben TGI – Zivilgerichten erster Instanz, vergleichbar mit dem deutschen Landgericht – und 1.000 Urteilen von zwei Berufungsgerichten aus dem Jahr 2013 enthält. Außerdem wurde Material des französischen Statistischen Amtes INSEE, vorranging aus dem Bereich „Vermögen“, hinzugezogen.[3] Der umfangreiche Untersuchungskorpus ist über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren entstanden und trägt maßgeblich zur Originalität der zu besprechenden Publikation bei. Gerahmt von Einleitung und Schluss enthält das Werk sieben, etwa gleichlange Kapitel, die erkennbar einem roten Faden folgen.

In den ersten beiden Kapiteln werden der theoretische Zugriff erörtert und die Analysekategorie „Familie“ als zentrale ökonomische Institution vorgestellt. Ihre Entscheidung begründen die Autorinnen vor allem mit der tragenden Rolle der Familie bei der Bildung und Verfestigung sozialer Klassen; insbesondere aufgrund der zunehmenden Relevanz von Erbschaften für die Verteilung von Vermögen. Für den analytischen Zugriff von Bessière und Gollac ist entscheidend, dass Familien nicht nur affektiv, sondern auch durch verschiedene Güter, den „biens structurants“ (S. 145), miteinander verbunden sind. Diese wichtigen Güter, wie Familienunternehmen und Immobilien, werden intergenerationell und zumeist zugunsten von Männern weitervererbt. Entsprechend bleibt – so der Befund weiter – das ökonomische Kapital in männlicher Verwaltung.

Anhand ausgewählter Beispiele illustrieren die Autorinnen sodann überzeugend, dass Familien die identifizierten Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheiten inkorporieren. Bezugnehmend auf die Arbeit von Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron[4] zeigen sie, wie die familiären Reproduktionsstrategien („stratégies familiales de réproduction“, S. 56) bereits im frühen Kindesalter internalisiert werden, wobei hierfür nicht nur die Rangfolge, sondern auch das Geschlecht der Kinder ein zentraler Faktor ist. Die These ist, dass sich sowohl Männer als auch Frauen bezüglich der innerfamiliären Weitergabe materieller Güter relativ unreflektiert verhielten und beispielsweise nicht hinterfragten, warum gerade der älteste Sohn das Familienunternehmen zu erben habe, obwohl die Tochter womöglich wesentlich besser dafür qualifiziert sei. Der zentrale Einfluss Pierre Bourdieus auf die vorliegende Veröffentlichung wird erneut sichtbar, wenn die Soziologinnen von verborgenen Mechanismen in Familien sprechen, die vor allem deshalb für die weitere Biografie der Kinder von Bedeutung sind, da sie die erlernten Muster und Arbeitsteilungen häufig in heterosexuellen Beziehungen fortführten. So verrichteten nach wie vor die Frauen den Großteil der Haus- und Sorgearbeit, sie arbeiteten seltener in prestigeträchtigen Berufen und würden entsprechend nachhaltig davon abgehalten, selbstständig Kapital anzuhäufen. Frauen arbeiten, aber akkumulieren nicht – das offenbart sich häufig und besonders eindrücklich im Moment einer potenziellen Ehescheidung.

Mit diesen Einsichten im Gepäck öffnen die beiden Soziologinnen in den Kapiteln drei bis fünf die ansonsten verschlossenen Türen zu Anwaltskanzleien und Notariaten. Vor dem Hintergrund juristischer Gleichheit fragen sie nach der Rolle von Anwält*innen und Notar*innen bei der Herausbildung ökonomischer Ungleichheit zwischen Männern und Frauen. Obwohl beide Berufsgruppen nach wie vor von Männern dominiert sind, untersuchen sie auch die Berufspraxis von Frauen, wenngleich quantitativ in geringerem Umfang. Ihre Befunde können dennoch für beide Geschlechter als tragfähig gelten. Die zentrale These lautet: Indem Anwält*innen und Notar*innen das formal egalitäre Familien- und Erbrecht sexistisch anwenden, trügen sie, bewusst oder unbewusst, zum Erhalt von sozialen Klassen und ökonomischer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern bei.[5] Diese These wird an zwei zentralen Befunden erläutert:

Erstens variiere nicht nur der Zugang zu juristischer und notarieller Beratung, sondern auch deren Ausgestaltung zwischen den sozialen Klassen und zwischen den Geschlechtern. So würden etwa mehr Zeit und Anstrengungen in die Beratung von vermögenderen Klient*innen investiert; darüber hinaus offenbare sich in den Beratungssituationen, dass insbesondere Männer von juristischer Beratung profitierten, weil sie häufiger als Frauen sowohl über ökonomisches als auch kulturelles Kapital verfügten.

Zweitens würden Anwält*innen und Notar*innen bei Scheidungen und Erbschaften sexistische Kalkulationen, „comptabilités inversées“ (S. 138), aufstellen, die Männer begünstigten: Anstatt zunächst eine Gesamtaufstellung aller zu verteilenden Güter vorzunehmen, um sie anschließend in gleiche Teile zu dividieren, würde in einem juristischen Beratungsgespräch ein Konsens über die Verteilung der Güter ausgehandelt. Etwaige Ausgleichszahlungen würden erst a posteriori vereinbart. Mit dieser Vorgehensweise unterstützten Notar*innen, bewusst oder unbewusst, die Weitergabe der biens structurants an die zumeist männlichen Erben; Vergleichbares zeige sich bei Ehescheidungen hinsichtlich der Auflösung des gemeinsamen Hausstandes. Diese Praxis würde zum einen als gemeinschaftliches Interesse der Eheleute getarnt, zum anderen passiere sie im Schatten des Fiskus – dadurch seien Frauen gerade deshalb benachteiligt, weil sie in der Regel über weniger finanzielle Mittel verfügen, um ihre juristischen Interessen adäquat vertreten zu lassen. So machten Frauen aus wohlhabenden Familien, unwissend über den Umfang des gemeinsamen Vermögens, im Scheidungsfall Zugeständnisse, wodurch sie mitunter einen Großteil ihres eigenen Wohlstandes aufgäben.

In den letzten beiden Kapiteln wechselt die Szenerie: Die Autorinnen führen die Leser*innen wieder aus den verschlossenen Zimmern der Kanzleien, den huis clos, hinaus, nun geht es an einen öffentlichen Ort: das Familiengericht. Céline Bessière und Sibylle Gollac stellen die Frage, inwiefern die Justiz in der Lage ist, die ökonomische Ungleichheit zwischen den Geschlechtern nachträglich auszugleichen oder ihr gar präventiv entgegenzuwirken. Anhand von zwei Klauseln des Familienrechts, die Festlegung eines Zugewinnausgleichs und die Abwicklung des gemeinsamen Eigentums, zeigen sie auf, dass eine Kompensation zwar prinzipiell möglich, in der gerichtlichen Praxis jedoch nur bedingt der Fall ist. Denn zum einen würden insbesondere Familienrichterinnen, und nicht nur ihre männlichen Kollegen, die Legitimität von Unterhaltszahlungen per se infrage stellen. Dies rühre aus deren eigener Biografie: Da die Familienrichterinnen aufgrund ihrer Profession in der Regel finanziell unabhängig seien, hätten sie häufig kein Verständnis für Frauen, die Haus- und Sorgearbeit leisteten, anstatt sich um die eigene Karriere zu bemühen. Zum anderen würden nicht nur in den Kanzleien, sondern auch im Gericht comptabilités inversées, Kalkulationen mit Genderbias, durchgeführt, und auch hier profitierten überwiegend die Männer davon. Die Höhe des Unterhalts werde nicht primär nach den Bedürfnissen der Unterhaltsempfänger*innen, also in aller Regel der Frauen, berechnet. Vielmehr scheinen die Familienrichter*innen darauf bedacht, die Arbeit der Zahlenden, meist Männer, nicht geringzuschätzen. Dieser Sachverhalt wird insbesondere in den unteren Schichten brisant, die sich unter anderem durch eine gewisse Bildungsferne, niedrige berufliche Qualifikationen und ein geringes Vermögen auszeichnen: Hier stufen Familienrichter*innen Männer häufig zu schnell als mittellos und daher nicht unterhaltspflichtig ein oder legen unzureichende Unterhaltszahlungen fest. Diese Tendenz sei höchst sexistisch, denn dadurch würden Frauen häufig dazu gedrängt bis gezwungen, einen Antrag bei der Familienkasse zu stellen. Weiterhin beobachten die Autorinnen, dass insbesondere Familienrichterinnen den doppelten Einfluss der zumeist unentgeltlich geleisteten Haus- und Erziehungsarbeit verkennen, erstens auf die sinkenden Erwerbschancen der Frau, zweitens auf die steigenden Karrierechancen der Männer.

Resümierend lässt sich festhalten, dass es den Autorinnen mit Le genre du capital nicht nur gelingt, Prozesse aufzuzeigen, die zu ökonomischer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern führen. Sie bieten darüber hinaus auch tragfähige Erklärungsansätze für das vorgestellte Phänomen an. Die besondere Stärke der Untersuchung besteht in der intersektionalen Analyse von Klasse und Geschlecht. Denn Céline Bessière und Sibylle Gollac legen zum einen dar, wie sich die innerfamiliäre Kapitalverteilung in verschiedenen sozialen Schichten ausgestaltet; zum anderen zeigen sie, dass diese Weitergabe unabhängig der sozialen Schicht zumeist zum Nachteil von Frauen erfolgt. In erster Linie offenbart Le genre du capital damit eines: Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern lässt sich nur dann beseitigen, wenn zugleich die Grenzen sozialer Klassen zumindest partiell überwunden werden – et vice versa. Es ist insbesondere das Zusammenspiel von exemplarischer Illustration und fundierter Analyse, welches dieses Buch auch für rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Laien leicht zugänglich macht. Das ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass im Untersuchungszeitraum zahlreiche Veränderungen des Familien- und Erbrechts stattgefunden haben. Den Autorinnen gelingt es indes nicht nur, die Besonderheiten des französischen Familien- und Erbrechts darzulegen, indem sie es vom US-amerikanischen oder kanadischen Recht abgrenzen. Sie zeigen gleichzeitig auf, dass das Feld, in dem sie sich bewegen, höchst dynamisch ist.

Anwält*innen, Notar*innen und Richter*innen sind als Expert*innen in entscheidenden Momenten der Weitergabe von Kapital enorm wichtig; in ihren Kanzleien zeigt sich das Ergebnis intergenerationeller Weitergabe von Kapital. Dennoch nimmt angesichts des Titels der Publikation, und einhergehend damit des Anspruchs der Untersuchung, das juristische Personal in der Untersuchung überraschend viel Raum ein. Dadurch drängt sich der Eindruck auf, das Buch kläre letztlich weniger über die innerfamiliären Mechanismen der Reproduktion von Ungleichheit auf (wie der Titel verspricht), als vielmehr über die Berufspraxis und das professionelle Selbstverständnis von Anwält*innen und Notar*innen. Positiv gewendet hebt dies die beiden Sachverhalte hervor, dass in die Reproduktion sozialer Klassen und sozialer Ungleichheit eine Vielzahl von Akteur*innen verstrickt ist und dass es sich dabei um ein mehrdimensionales Phänomen handelt. Dennoch kann nach dieser Untersuchung die Familie als zentraler Akteur nicht mehr außer Acht gelassen werden.

  1. Wie etwa die Gründung der Travail, genre et société 1999 durch Marlaine Cacouault-Bitaud und andere zeigt. Die Fachzeitschrift untersucht die Unterschiede zwischen Männern und Frauen am Arbeitsplatz.
  2. Vgl. Pauline Delage, Violence conjugales. Du combat féministe à la cause publique, Paris 2017; Solenne Jouanneau / Anna Matteoli, Les violences au sein du couple au prisme de la justice familiale. Intervention et mise en œuvre de l’ordonnance de protection, in: Droit et société 99 (2018), 2, S. 305–321; Océane Pérona, La difficile mise en œuvre d’une politique du genre par l’institution policière. Le cas des viols conjugaux, in: Champ pénal / Penal field 14 (2017).
  3. Die Ergebnisse der Statistiken, auf die sich die Autorinnen stützen, sowie ihre genauen Erhebungsbedingungen sind online verfügbar [29.6.2020].
  4. Vgl. Pierre Bourdieu / Jean-Claude Passeron, La Reproduction. Éléments pour une théorie du système d’enseignement, Paris 1970.
  5. Für neuere Literatur zum Geschlecht des Rechts vgl. zum Beispiel Stéphanie Hennette-Vauchez et al., La loi et le genre. Études critique de droit française, Paris 2014; Anne Revillard et al., À la recherche d’une analyse féministe du droit dans les écrits francophones, in: Nouvelles questions féministes 28 (2009), 2, S. 4–10; Coline Cardi / Anne-Marie Devreux , Le genre et le droit. Une co-production, in: Cahiers du genre 57 (2014), 2, S. 5-18.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Recht Familie / Jugend / Alter Gender

Julia Spohr

Julia Spohr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Geschichte Westeuropas 18.-20. Jahrhundert an der Universität Kassel. In ihrem Dissertationsprojekt befasst sie sich mit Gewalt gegen Frauen in Deutschland und Frankreich seit den 1970er-Jahren.

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