Bernd Eggen | Rezension | 08.05.2023
Mehrkindfamilien – Modell der Moderne?
Rezension zu „Doing Mehrkindfamilie. Familienalltag, Erwerbsarrangement und soziale Unterstützung“ von Romy Simon

Konstellationen aus Eltern mit drei oder mehr Kindern – ganz gleich, ob es sich dabei um leibliche, Adoptiv-, Pflege- oder Stiefkinder handelt – werden gegenwärtig als Mehrkind- oder kinderreiche Familie bezeichnet.[1] Beide Begriffe erhalten ihre vermeintliche Trennschärfe allein durch die willkürliche Zuschreibung einer konkreten Kinderzahl. In qualitativer Hinsicht ist die Bestimmtheit ungenau, da die Familiensoziologie weder theoretisch noch empirisch zu begründen vermag, warum die Grenze notwendigerweise zwischen zwei und drei Kindern zu verlaufen hat. Einzig aus historischer Perspektive ließe sich die numerische Unterscheidung rechtfertigen, da im geografischen Raum Europas vermutlich zu allen Zeiten von der Antike bis zur Gegenwart sich Eltern selten mehr als zwei Kinder wünschten. Die Familie, in der drei oder mehr Kinder gleichzeitig leben, galt wohl zu keiner Zeit als ‚Normalfamilie‘.[2] Auf die Schwierigkeit der Soziologie, eine Bezeichnung für eine Familie mit mehr als zwei Kindern zu finden, verweist auch Romy Simon in der Einführung zu ihrer Veröffentlichung Doing Mehrkindfamilie. Der Begriff „Kinderreichtum“ sei wertend und werde deshalb „zunehmend durch den der Mehrkindfamilien ersetzt“ (S. 11). Eine theoretisch fundierte Begründung für die Verwendung des numerischen statt des normativ konnotierten Begriffes liefert allerdings auch die Autorin nicht.
Ausgangspunkt ihrer „mikrosoziologischen Studie“ ist die These, dass Familien „sich zunehmend mit Entgrenzungen des Privaten sowie der Erwerbsarbeit konfrontiert“ (Klappentext) sähen. Ein „Aufbrechen von selbstverständlichen Traditionen“ und „zuverlässigen Rahmenbedingungen“ könnten „die Familienmitglieder zunehmend unter Druck setzen, selbst Gestaltungsarbeit zu leisten“ (S. 12). Aus „fortschreitenden Individualisierungsprozessen“ wachse „bei den einzelnen Individuen der Anspruch an ein erfülltes Leben und eine zufriedene Partnerschaft“. Entgrenzungen hinsichtlich Arbeitsort, Arbeitszeit und Arbeitsrecht machten ein „individuelles Grenzmanagement“ erforderlich (ebd.), um gemeinsame Zeiten und Anwesenheit der Familienmitglieder zu ermöglichen. Hinzu kämen gesteigerte Anforderungen an die Familie, die Kinder bestmöglich zu erziehen und ihre Bildung optimal zu fördern. Durch all diese Entgrenzungen werde die „aktive Gestaltung des Familienlebens zu einer unabdingbaren Voraussetzung für Familien“, besonders für Mehrkindfamilien. Simon hat sich mit ihrer Studie das Ziel gesetzt, die „alltäglichen Herstellungsleistungen“ der Mitglieder von Mehrkindfamilien herauszuarbeiten, vor allem mit Blick auf „familiale Arbeitsteilung“ sowie mögliche „soziale Unterstützungsressourcen“ und die „jeweiligen Auswirkungen auf das Familienleben“ (Klappentext).
Auf die Einführung folgt eine Bestandsaufnahme bereits existierender Forschungsbefunde, die drei Schwerpunkte setzt: (1) Wege zur Mehrkindfamilie und Veränderungen durch den Übergang, (2) Typologien von Mehrkindfamilien und (3) die Gestaltung des Familienalltags mit drei oder mehr Kindern. Die vielfältigen Wege zur Mehrkindfamilie, so führt Simon aus, unterscheiden sich vor allem darin, ob biologische und soziale Elternschaft in eins fallen oder teilweise oder gar vollständig getrennt sind, wie dies beispielsweise in Patchwork- und Stieffamilien oder Familien mit ausschließlich adoptierten oder in Pflege genommenen Kindern der Fall ist. Nach dem Übergang könne es zu einer Verknappung der zur Verfügung stehenden Ressourcen (etwa beim Einkommen und Wohnraum) sowie zu Veränderungen hinsichtlich der Erwerbstätigkeit der Eltern kommen. Gleichwohl gebe es nicht die Mehrkindfamilie. Sie sei ähnlich heterogen wie die Familie mit weniger Kindern. Allerdings seien Typen von Familien zu beobachten, bei denen der Anteil von Familien mit drei und mehr Kindern überdurchschnittlich hoch ist, etwa bei Eltern mit hohen Bildungsabschlüssen und hohem Einkommen einerseits sowie Eltern mit niedrigen Bildungsabschlüssen und geringem Einkommen andererseits. Darüber hinaus hätten Menschen mit religiöser Orientierung oder muslimisch geprägter Ethnie vergleichsweise häufig mehr als drei Kinder. Die Gestaltung des Alltags in der Mehrkindfamilie sei, so Simon, geprägt von Zeit als stets knapper Ressource, von Phasen des Glücks und der Herausforderungen, sowie durch die Möglichkeiten sozialer Unterstützung und sozialer Netzwerke, aber auch von den Beziehungen der Eltern als Paar und der Geschwister untereinander.
Den theoretischen Rahmen der Untersuchung von Simon bilden drei Konzepte: Doing Family, soziale Netzwerke und soziale Unterstützung. Die Autorin verfolgt damit das Ziel, die drei Ansätze in Bezug zueinander zu setzen und ihre Relevanz für Mehrkindfamilien und deren Bewältigung des Familienalltages herauszustellen. Das Doing Family-Konzept basiert vor allem auf den Arbeiten von Karin Jurczyk.[3] Es begreift, so gibt es Simon in ihrem Buch wider, „Familie als ein System mit einer Eigenlogik, einem Eigensinn“, das durch „das Interesse an Gemeinschaft als auch an Individualität“ in einem „Spannungsverhältnis“ stehe. Familie werde „nicht als selbstverständlich vorhandene Ressource angesehen, sondern ist im alltäglichen und biografischen Verlauf immer wieder herzustellen“ (S. 43). „Zwei Grundformen der Herstellung von Familie“ (S. 57) hebt Simon hervor: einerseits „das Vereinbarkeits- bzw. Balancemanagement mit den vielfältigen Praktiken und Abstimmungsleistungen“ sowie andererseits „die Konstruktion von Gemeinsamkeit durch kontinuierliche alltägliche und biografische Interaktionen der Familie“ (S. 58). Die Autorin ergänzt dieses Konzept durch die beiden Ansätze der sozialen Netzwerke und der sozialen Unterstützung. Familie wird hier begriffen als ein soziales aus den Familienmitgliedern bestehendes Netzwerk, das eingebettet sei „in eine unterschiedliche Anzahl von weiteren Netzwerken, die sich pro Familienakteur:in unterscheiden können“. Die Beziehungen innerhalb der sozialen Netzwerke seien „eine zentrale Voraussetzung für das Geben und Erhalten von sozialer Unterstützung“ (S. 89); am wichtigsten sei die gegenseitige Hilfe der Eltern, außerdem die Unterstützung durch ältere Geschwister, Großeltern, Nachbar:innen, Freunde, andere Familien mit gleichaltrigen Kindern sowie professionelle Entlastung durch Haushaltshilfe und externe Kinderbetreuung.
Eine sogenannte „Multiactor-Perspektive“ (S. 13) rahmt das empirische Design, bei dem alle Familienmitglieder in den Blick genommen werden sollen. Als Erhebungsverfahren dienen leitfadengestützte Interviews sowie eine teilnehmende Beobachtung während eines eintägigen Aufenthaltes in den Familien. Die Stichprobe umfasst zwölf Familien mit insgesamt 24 Erwachsenen und 47 Kindern. Jeweils fünf Familien haben drei oder vier Kinder, eine Familie fünf und eine weitere sieben Kinder. Alle Elternpaare haben mindestens ein gemeinsames biologisches Kind. Die Kinder sind alle jünger als 18 und leben überwiegend im Haushalt der Eltern. Nicht berücksichtigt werden volljährige Kinder. Die Erwerbssituation der Eltern variiert: Entweder sind beide erwerbstätig oder nur ein Elternteil ist erwerbstätig, der andere in Ausbildung oder Elternzeit. Das Modell der Mutter als Hausfrau und des in Vollzeit erwerbstätigen Vaters lebt die Familie mit fünf Kindern. Alle Familien wohnen in Sachsen. Weder sind Familien mit Migrationshintergrund noch Alleinerziehende Teil der Stichprobe. Die qualitative Erhebung umfasst Interviews mit zwölf heterosexuellen Elternpaaren und 29 Geschwisterkindern im Alter zwischen zwei und 17 Jahren. Die folgenden empirischen Ergebnisse sind hervorzuheben: Die Wege in eine Mehrkindfamilie unterscheiden sich vor allem darin, ob es sich um „gewachsene Mehrkindfamilien“ (S. 128) oder um Stief- oder Patchworkfamilien handelt. Im ersten Fall eint das Elternpaar die gemeinsame Gründung und schrittweise Erweiterung der Familie durch mal mehr, mal weniger geplante Geburten. Die Organisation des Familienlebens konzentriert sich auf beide Eltern. Grundlegend komplexer ist die Gestaltung des Alltages im zweiten Fall durch teils außerhalb des Haushalts lebende Elternteile, wenn etwa Betreuungsmodelle und Präsenzzeiten der Kinder auszuhandeln sind. Doch schon bei Themen wie Familienzeiten und -aktivitäten, aber auch der Vereinbarkeit von Erwerbs- und Hausarbeit oder der sozialen Unterstützung durch Familienmitglieder und andere Personen unterscheiden sich die Konstellationen nicht mehr. Vielmehr sind andere Sachverhalte ausschlaggebend, wie die Erwerbsbeteiligung beider Eltern, die Flexibilisierung durch Ausbildung oder Elternzeit eines Elternteils, die Möglichkeit und die Bereitschaft ältere Geschwister oder Großeltern bei der Organisation des Familienlebens einzubeziehen. Auch wenn generell mit der Anzahl der Kinder die Ressourcen und der Bedarf etwa an Einkommen und Wohnraum steigt und der einzelnen Familienmitgliedern zur Verfügung stehende Anteil sinkt, unterscheiden sich in dieser qualitativen Untersuchung die Familien mit drei und vier Kindern nicht grundsätzlich in der Ausgestaltung ihres Alltages von den beiden Familien mit fünf und sieben Kindern.
In den Schlussbetrachtungen verknüpft die Autorin die drei theoretischen Konzepte als Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse, betont die besondere Häufigkeit von Veränderungen durch die zunehmende Anzahl an Kindern und verweist auf weitere Forschungsmöglichkeiten, die vor allem die Perspektive der einzelnen Familienmitglieder stärker berücksichtigen, um auch etwaige Konflikte hinter einer möglichen „Präsentationsfassade des Paares“ (S. 300) erfassen zu können.
Die Studie ist gut gegliedert, verständlich geschrieben und hebt sich in drei weiteren Aspekten positiv hervor. Sie hält sich advokatorisch zurück, bemüht sich um einen theoretischen Rahmen und liefert trotz der nichtrepräsentativen Stichprobe interessante empirische Ergebnisse. Anders als dies beim Thema Mehrkindfamilie zu beobachten ist, schließt sie nicht proportional aus der schlichten Anzahl der Kinder auf einen Verdienst der Familie an der Gesellschaft. Sie sucht weder nach sozialen Benachteiligungen noch zieht sie aus der privaten Entscheidung für mehrere Kinder politische Forderungen. Das Konzept des „Doing“ folgt einem „praxeologischen“ Ansatz (S. 50). Es werden Praktiken beobachtet, deren Kondensat Mehrkindfamilien mit konkreten sozialen Folgen sein können. Durch den theoretisch begründeten Blick auf die Operationen und weniger auf die Strukturen der Familie ist es Romy Simon gelungen, die mögliche Vielfalt im alltäglichen Herstellen der Mehrkindfamilie entlang unterschiedlicher familialer Subsysteme, der Präferenzen einzelner Familienmitglieder sowie der familieninternen wie -externen sozialen Unterstützung in den Mittelpunkt zu stellen. Empirisch interessant sind aufgrund der höheren Anzahl an Kindern folgende Beobachtungen:
- eine mögliche Überforderung der externen sozialen Unterstützung etwa die durch die Großeltern oder Nachbar:innen,
- die Möglichkeiten verstärkter familieninterner Gruppenbildungen mit Konfliktlinien quer zu den Eltern und Geschwistern,
- die auffälligen Gemeinsamkeiten beim Herstellen des Alltages der zwölf Familien, worin sich die erforschten Familien auch kaum von jenen mit weniger Kindern unterscheiden.
Besonders die beiden letztgenannten Aspekte, also das alltägliche Herstellen von Familie ungeachtet der Anzahl der Kinder sowie die familieninterne Differenzierung, sind zudem aus theoretischer Perspektive von Interesse, das allerdings mit dem hier gewählten „Doing-Konzept“ in keiner Weise angemessen verfolgt werden kann.
Das theoretische Problem beginnt mit dem Begriff „Doing“ und seiner Herkunft in der englischsprachigen Soziologie. Übersetzt geht es um ein Tun oder um die Durchführung eines Tuns. Aber nicht jedes Tun ist gesellschaftlich relevant. Die Soziologie verwendet aus guten Gründen deshalb den Begriff des ‚sozialen Handelns‘ und aus noch besseren Gründen den der ‚Kommunikation‘. Im Weiteren kann man nach möglichen Grenzziehungen und Zurechnungen fragen: Wessen soziales Tun ist das? Wer bestimmt es? Der Bezug auf „Doing Gender“ (S. 46) ist dann problematisch, wenn nicht systemisch unterschieden wird.[4] Beim „Doing/Undoing Gender“ geht es um die kulturelle Identifikation von Menschen, um kulturelle Zugehörigkeiten und Konflikte entlang von Geschlecht, und zwar in Verbindung mit Alter, Ethnie oder Hautfarbe. Beim „Doing Mehrkindfamilie“ geht es jedoch um gesellschaftliche Selbstbeschreibungen und Konfliktlinien von Sozialsystemen mit dem Bezug auf interne Differenzierungen und die Differenzierung gegenüber einer sozialen, aber auch psychischen Umwelt. Letztendlich entfaltet sich das begriffliche Problem in der Wie-Frage: Wie ist ein Doing Gender im Doing Mehrkindfamilie im Doing Gesellschaft möglich? Diese Frage hätte auch in umgekehrter Reihenfolge ihre Berechtigung. Und: Wäre ein Undoing nicht nur im Sozialen, sondern auch im Psychischen nicht stets ein Doing?
Welchen Informationswert hat der Begriff des „Doing Mehrkindfamilie“? Er bezieht sich zwar auf die Moderne, aber tatsächlich ist er gegenüber Semantik und Gesellschaftsstruktur weitgehend indifferent. Er bezeichnet eine „gemeinsame Herstellungsleistung“ (S. 57), einen „aktiven Gestaltungsprozess“ (S. 56) der Familienmitglieder, „da das Familienleben heutzutage nicht mehr selbstverständlich zustande“ komme (S. 290). Doch haben sich nicht zu allen Zeiten Familien selbstbezüglich hergestellt und dabei heterogene Strukturen gebildet? Und in welchen Zeiten war Familie selbstverständlich? Ist familiale Kommunikation nicht stets operativ unabhängig und strukturell abhängig von ihren jeweiligen Umwelten gewesen? Die zentralen Fragen müssten lauten: Wie ist Mehrkindfamilie möglich, was für Strukturen kann sie ausbilden? Und worauf bezieht sie sich, während sie dieses vollzieht? Das „Doing“ als Einheit von Vollzug und Bezug wäre dann entlang der primären Differenzierung einer Gesellschaft, und damit entlang dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu beobachten.
Zu welchen Erkenntnissen könnte die wissenschaftliche Beobachtung der Mehrkindfamilie der modernen Gesellschaft führen? Ulrich Beck hat einmal die Familie als letztes Gegenmodell der Moderne beschrieben.[5] Er bezog sich dabei auf die gleichgültige und gleichberechtigte Inklusion von Frauen und Männern, die außerhalb der Familie in Recht, Politik, Wirtschaft, in Erziehung und Bildung weitgehend durchgesetzt sei, aber in der Familie spätestens durch die Mutterschaft traditionalisiert werde. Tatsächlich geht es aber in einer modernen Gesellschaft mit ihrem Überschuss an Möglichkeiten weniger um das, was hergestellt wird, sondern darum, wie es hergestellt wird. Es geht nicht um eine richtige Familienform, nicht um eine Regulierung der Anzahl von Kindern oder die überzeugendste Form der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern schlicht um die Herstellung und Gestaltung der Inklusion aller Familienmitglieder als Vollpersonen.[6] In dieser Funktion vollzieht die moderne Familie als Sozialsystem eine Gegenstruktur zu den anderen Teilsystemen der Gesellschaft.[7] Die Kommunikation der Familie bezieht sich auf die ganze Person jedes ihrer Mitglieder und nicht wie die etwa von Recht, Politik, Wirtschaft, Religion oder Wissenschaft programmatisch auf Teilaspekte der Personen.
Wie modern eine Familie ist, bemisst sich also daran, wie sie die Personen und Themen in der Familie behandelt und verhandelt. Dabei kann sie im Spektrum der Moderne Präferenzen bezeichnen für Innen- oder Außenorientierung, Selbst- oder Fremdbestimmung, Heterarchie oder Hierarchie entlang von Geschlecht und Alter der beteiligten Personen. Daran kann sich die Frage anschließen: Lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede beobachten zwischen Familien mit zwei, drei, vier oder neun oder elf Kindern? Die mögliche Antwort unterliegt drei strukturellen Bedingungen:
- Familien sind keine Trivialmaschinen, denn eine bestimmte Kinderzahl geht nicht notwendigerweise einher mit einer gleichen Herstellung und Gestaltung der Einzelfamilie. Jede Einzelfamilie kommuniziert spezifische Erwartungen, durch die mitbestimmt wird, was an Möglichkeiten tatsächlich aktualisiert wird.
- Je größer die Familie ist, desto vielfältiger kann sich die interne Differenzierung des Familiensystems darstellen. Familieninterne Interessengemeinschaften sind jedoch für die Einzelfamilie ein Problem, denn sie widersprechen der „Idee der Personengemeinschaft“ und zwingen die Familie zu „offenem Dissens“ über das, was für die beteiligten Familienmitglieder jeweils wichtig ist.[8]
- Darüber hinaus spielen Veränderungen in Familien „eine große Rolle“ (S. 297). Wo derart personenorientiert kommuniziert wird, ändern nicht nur Veränderungen bei einzelnen Personen, sondern auch jede Inklusion weiterer Kinder die Familie als System. Derlei Veränderungen gehen besonders bei Mehrkindfamilien zumindest temporär mit Instabilität einher. Letztendlich ist unter Berücksichtigung äußerer Merkmale wie Ethnie, Religion, Bildungsabschlüsse, Erwerbsbeteiligung und Einkommen der beteiligten Familienmitglieder zu vermuten, dass im Umgang mit Dissens Selbst- und Fremdorientierung, Person und Programm unterschiedlich bedeutsam sein können. Relevant unterscheiden dürften sich diesbezüglich weniger Familien mit zwei, drei oder vier Kindern, als diese von Familien mit sieben, zehn oder mehr Kindern.[9]
Die moderne Familie ist – wie Simons Studie richtig erkennt – sozialer Ausdruck eines „Konditionierungs- oder Steigerungsverhältnisses“ von Individuum und Gesellschaft.[10] Die Co-Evolution ermöglicht familiale Vielfalt durch individuelle Vielfalt und umgekehrt. Zu beobachten ist – nicht zuletzt durch moderne Reproduktionstechnologien – eine weitere Entgrenzung von Familienform und Elternschaft im Sozialsystem Familie. Die These lautet, dass für die Modernität der Mehrkindfamilie nicht die Anzahl der Kinder entscheidend ist, sondern ob und in welchem Maße die Familienkommunikation im Verlauf der Inklusion ihrer Mitglieder und deren Interessen Kontingenz zulässt.
Fußnoten
- Das gilt auch international: Eva Beaujouan / Anne Solaz, Is the Family Size of Parents and Children Still Related? Revisiting the Cross-Generational Relationship Over the Last Century, in: Demography 56 (2019), S. 595–619.
- Vergleichsweise häufig kamen kinderreiche Familien in Deutschland nur in der Zeit zwischen Mitte des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts vor. Der Rückgang solcher Mehrkindfamilien setzte bereits Ende des 19. Jahrhunderts ein (Andreas Gestrich / Jens-Uwe Krause / Michael Mitterauer, Geschichte der Familie, Stuttgart 2003; René König, Soziologie der Familie, in: ders. (Hg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Stuttgart 1976, S. 1–127). In Deutschland 2021 leben bei neun Prozent aller Familien drei Kinder mit im Haushalt, bei zwei Prozent vier Kinder und bei knapp einem Prozent fünf oder mehr Kinder. Die Eltern sind alleinerziehend oder ein Paar, die ledigen Kinder wohnen im Haushalt der Eltern und sind minderjährig oder volljährig (FamilienForschung Baden-Württemberg, eigene Auswertung des Mikrozensus). Grundsätzlich wird die tatsächliche Zahl der Familien mit drei oder mehr Kindern jedoch unterschätzt, schließlich werden weder weitere mögliche Geburten oder Adoptionen berücksichtigt noch Kinder, die den Haushalt der Eltern bereits verlassen haben.
- Karin Jurczyk (Hg.), Doing und Undoing Family, Konzeptionelle und empirische Entwicklungen, Weinheim 2020.
- Armin Nassehi, Humandifferenzierung und gesellschaftliche Differenzierung, in: Stefan Hirschauer (Hg.), Un/doing Differences, Praktiken der Humandifferenzierung, Weilerswist 2017, S. 55–78.
- Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986, hier S. 161–204.
- Niklas Luhmann, Sozialsystem Familie, in: Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 5, Opladen 1990, S. 218–227.
- Helmut Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, Stuttgart 1967.
- Luhmann, Sozialsystem Familie, S. 213.
- Bernd Eggen, Zur Gegenwart kinderreicher Familien, Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 3 (2015), S. 8–17, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (Hg.), Kinderreiche Familien in Deutschland, Wiesbaden 2019.
- Niklas Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, in: Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Band 3, Frankfurt am Main 1989, S. 149–258, hier S. 150.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Care Familie / Jugend / Alter Interaktion Kommunikation Systemtheorie / Soziale Systeme
Empfehlungen
Bußgeldbescheid ohne Gummibärchen
Literaturessay zu „Die Grenzen der Verwaltung“ von Niklas Luhmann
Vom Umgang mit Gegensinn
Rezension zu „Niklas Luhmann am OVG Lüneburg. Zur Entstehung der Systemtheorie“ von Timon Beyes, Wolfgang Hagen, Claus Pias und Martin Warnke (Hg.)
Die Korrektur der Gesellschaftstheorie
Rezension zu „Die Korrektur der Gesellschaft. Irritationsgestaltung am Beispiel des Investigativ-Journalismus“ von Marc Mölders