Thomas Lux | Rezension | 14.03.2022
Mentalitätswandel in der Peripherie
Rezension zu „Abgehängt im Aufschwung. Demografie, Arbeit und rechter Protest in Ostdeutschland“ von Stefan Schmalz, Sarah Hinz, Ingo Singe und Anne Hasenohr

Nachdem es lange Zeit verhältnismäßig still geworden war um den Osten Deutschlands, erfuhr dieser Landesteil in jüngster Zeit wieder stärkeres mediales und politisches Interesse. Nicht nur jährten sich wichtige Ereignisse des gesellschaftspolitischen Umbruchs der späten 1980er und frühen 1990er Jahre, auch die jüngsten Erfolge der AfD und Misserfolge der Impfkampagne gaben Anstoß zu zahlreichen Anomalievermutungen in Bezug auf die ostdeutsche Bevölkerung. Zudem betritt neuerdings eine spezifisch ostdeutsche Identität die anerkennungspolitische Arena und fordert dort einen legitimen Platz zwischen den Marginalisierungserfahrungen anderer Gruppen. Überall, so könnte man meinen, ist gerade von Ostdeutschland die Rede. Aktuelle soziologische Publikationen spielen eine wichtige Rolle für diese neu justierte Aufmerksamkeit: Sie tragen nicht nur über ihre ostdeutsche Themensetzung zum wachsenden Interesse bei, sondern unterfüttern dieses Interesse mit wissenschaftlichem Deutungswissen.
Ein sehr gelungenes Beispiel für eine solche Studie haben nun Stefan Schmalz, Sarah Hinz, Ingo Singe und Anna Hasenohr (unter Mitarbeit von Leander Badura und Daniel Meyer) mit ihrer Monografie „Abgehängt im Aufschwung“ vorgelegt. Das Autor:innenkollektiv untersucht die jüngere wirtschaftliche und demografische Entwicklung sowie die damit einhergehenden Einstellungen und politischen Orientierungen in Ostdeutschland. Forschungsleitend ist dabei die These, „dass schrumpfende, strukturschwache Regionen und Städte im Osten zu Kristallisationspunkten des gesellschaftlichen Unwohlseins geworden sind, die trotz vordergründig positiver Entwicklungen in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt zu einer Verfestigung rechter Einstellungen beitragen“ (S. 13).
Wie ist zu erklären, dass weite Teile Ostthüringens heute Frustregionen mit großem rechten Wählerpotential sind?
Exemplarisch werden diese Zusammenhänge am Beispiel Ostthüringen analysiert. Im Staatssozialismus der DDR war die Region ein wichtiges und boomendes Industriegebiet. Heute trägt sie jedoch zahlreiche Merkmale einer abgehängten Region und gilt als Hochburg der AfD. Gera, die mit 92.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt Ostthüringens, geriet mehrfach in die überregionale Presse, etwa als 2014 die Stadtwerke und Verkehrsbetriebe unter Insolvenzverwaltung gestellt wurden oder als 2020 ein AfD-Politiker den Vorsitz des Stadtrats übernahm. Wie ist zu erklären, dass weite Teile Ostthüringens heute Frustregionen mit großem rechten Wählerpotential sind?
Um diese Frage zu beantworten, nutzen die Autor:innen eine beeindruckend breite und heterogene Datengrundlage: neben einer großen telefonischen Bevölkerungsumfrage wurden Betriebsfallstudien, quantitative Beschäftigtenumfragen und problemzentrierte Interviews mit Expert:innen, Beschäftigten und weiteren betrieblichen Akteuren durchgeführt. Die theoretische Perspektive der Untersuchung wird durch das Konzept der Peripherisierung angeleitet, mit dem der „mehrdimensionale[…] Prozess einer Abwertung und Degradierung einer sozialräumlichen Einheit im Vergleich zu anderen sozialräumlichen Einheiten“[1] erfasst werden soll.
Es geht also um das Verhältnis zwischen Peripherien und ihrem Zentrum. Dieses Verhältnis findet sich nicht nur zwischen Ostdeutschland (Peripherie) und Westdeutschland (Zentrum), sondern existiert auch innerhalb Ostdeutschlands. Hier bilden die strukturschwachen Gebiete (etwa weite Teile Ostthüringens) die innere Peripherie des Ostens: Sie stehen nicht nur in ökonomischer Abhängigkeit zum Westen, sondern auch zu den ostdeutschen Boom-Regionen (beispielsweise zum ostthüringischen Jena). Zugleich sind sie von diesen Zentren zunehmend infrastrukturell abgekoppelt: Die Einbindung in funktionierende Verkehrs- und Kommunikationsnetzwerke ist brüchig, die Zahl von Schulen, Kindergärten und Krankenhäusern sinkt, Behörden mit vitalen Verwaltungsaufgaben oder gar Hochschulen und Universitäten sind selten zu finden.
Viele wandern in die Zentren ab, wodurch sich die prekäre Situation in den vier relevanten Peripherisierungsdimensionen – ökonomische Abhängigkeit, infrastrukturelle Abkopplung, kulturelle Stigmatisierung, demografische Abwanderung – weiter zuspitzt.
Überdies erfahren diese peripheren Gebiete – im Sinne eines „räumliche[n] Klassismus“ – eine zusätzliche kulturelle Stigmatisierung: „Die Bevölkerung [...] wird als ungebildet wahrgenommen, ihr Lebensstil gilt als primitiv. Stereotype über Alkoholismus oder mangelnde Leistungsbereitschaft werden ganzen Regionen zugeschrieben.“ (S. 46) In der Folge wandern viele Menschen in die Zentren ab, wodurch die Dynamik des Peripherisierungsprozesses weiter an Fahrt gewinnt und sich die prekäre Situation in den vier relevanten Peripherisierungsdimensionen – ökonomische Abhängigkeit, infrastrukturelle Abkopplung, kulturelle Stigmatisierung, demografische Abwanderung – weiter zuspitzt.
In der inneren Peripherie Ostdeutschlands herrscht vielerorts hohe Arbeitslosigkeit und die Beschäftigten erkaufen ihre prekäre Jobsicherheit durch Lohnverzicht bei gleichzeitig erhöhtem Arbeitseinsatz. Sie bilden sozusagen eine „Generation von leistungs- und verzichtsbereiten Arbeitsspartaner*innen“ (S. 16). Dieses von den Beschäftigten häufig als alternativlos erlebte Arrangement gerate jedoch, so die Autor:innen, seit einigen Jahren zunehmend unter Druck, wobei sie den demografischen Wandel als entscheidenden Veränderungsfaktor identifizieren. Dieser trägt – im Verbund mit einem vergleichsweise starken Wirtschaftswachstum (Stichwort: „Thüringenboom“) – nicht nur dazu bei, dass das Fachkräfteangebot und die Arbeitslosenquote sinkt und somit die Drohkulisse der Langzeitarbeitslosigkeit an Schrecken verliert. Er sorgt auch dafür, dass eine neue Beschäftigtengeneration nachwächst, die weniger kompromissbereit ist.
Bei den individuellen Verhaltensweisen dominiert nun – in Anlehnung an Albert Hirschmann – nicht länger die loyalty-Strategie (Lohnverzicht bei intensiviertem Arbeitseinsatz). Stattdessen finden sich immer häufiger die Alternativstrategien exit (Eigenkündigung und Arbeitsplatzwechsel), neglect (verdeckte Leistungszurückhaltung) und punktuelle Formen von voice (organisierter Protest).[2] Statt niedrige Löhne bei gleichzeitig schlechten Arbeitsbedingungen einfach hinzunehmen, wachsen Groll und Ungerechtigkeitsempfinden der Beschäftigten. Nicht mehr die Sorge um den Arbeitsplatz steht im Vordergrund, sondern Wut über die im Vergleich zu den Zentrumsregionen nach wie vor geringen Einkommen.[3] Es verbreitet sich eine Stimmung des Zukurzgekommenseins, die sich mit Unmut über den Verfall der öffentlichen Infrastrukturen, Erfahrungen politischer Einflusslosigkeit und bereits verfestigten rechten Alltagskulturen vermischt. Dies gehe „mit einer negativen Weltsicht [...] einher, in der Migration von vielen Einwohner*innen als ein weiteres Anzeichen des gesellschaftlichen Niedergangs gewertet wird“ (S. 13). Es sei letztlich diese Gemengelage, die eine ideale gesellschaftsstrukturelle und mentale Basis für die Wahlerfolge der AfD bietet, wenngleich die Autor:innen betonen, dass es sich bei diesem Erfolg um keinen Automatismus handelt. Vielmehr sei die innere Peripherie Ostdeutschlands „ein wichtiges politisches Kampffeld, bei dem unterschiedliche politische Kräfte um Hegemonie ringen“ (S. 137). Ein Kampffeld freilich, auf dem für rechte Akteure gegenwärtig besonders günstige Bedingungen vorherrschen.
Während bei der sozialwissenschaftlichen Erklärung rechten Wahlverhaltens bisher vor allem ökonomische, kulturelle und politische Ansätze dominierten, betont die Studie die zentrale Bedeutung demografischer Veränderungen und Peripherisierungsprozesse.
Auf nur 177 Seiten zeichnet „Abgehängt im Aufschwung“ ein eindrückliches Panorama der Lebensbedingungen und Mentalitäten in Ostthüringen und macht damit zu einem gewissen Grad verständlich, warum trotz positiver Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft größere Teile der Bevölkerung unzufrieden sind, was wiederum den starken Zulauf zur AfD plausibilisiert. Während bei der sozialwissenschaftlichen Erklärung rechten Wahlverhaltens bisher vor allem ökonomische, kulturelle und politische Ansätze dominierten, betont die Studie die zentrale Bedeutung demografischer Veränderungen und Peripherisierungsprozesse. Diese hängen zwar teilweise mit den etablierten Ansätzen zusammen, gehen aber nicht vollständig in diesen auf und müssen darum als eigenständiger Erklärungsfaktor geltend gemacht werden – insbesondere, wenn es darum geht, regionale Muster von Einstellungen und politischem Verhalten verständlich zu machen.
Die Studie liefert darüber hinaus wertvolle empirische Detailerkenntnisse, etwa wenn sie zeigt, dass mittlerweile selbst in der inneren Peripherie Ostdeutschlands die Angst um den Arbeitsplatz kaum noch im Vordergrund steht. Im Jahr 2019 war die Eigenkündigung der mit Abstand häufigste Grund für betriebliche Personalabgänge in Thüringen und nur 16 Prozent der Ostthüringer Beschäftigten gaben in einer Umfrage von 2016 an, den Verlust ihres Arbeitsplatzes zu befürchten. Dies könnte ein Grund dafür sein, dass die Sorge um den Arbeitsplatz in quantitativen Untersuchungen zu rechtem Wahlverhalten kaum Erklärungskraft besitzt. Will man jedenfalls die quantitativen und qualitativen Befunde zu Ostthüringen ernstnehmen, sollten künftige Wahlstudien noch stärker mit Alternativindikatoren wie subjektiver Deprivation, Lohnunzufriedenheit oder der Beurteilung des infrastrukturellen Versorgungszustands arbeiten, weil diese die generelle Stimmung in den peripheren Regionen wirklichkeitsgetreuer abbilden dürften.
Schließlich legt die Studie überzeugend nahe, dass generalisierende Aussagen über die Ostdeutschen schlechthin kaum zulässig sind, weil schon in einer so kleinen Region wie Ostthüringen – mit den Städten Jena und Gera – ein diskrepantes Nebeneinander existiert. Boom und gebremstes Wachstum, polyglotter Optimismus und einkommensprekärer Zorn, zivilgesellschaftliches Engagement und Insitutionenskepsis: Solche Gegensätze liegen in Ostthüringen nur wenige Autominuten voneinander entfernt. Mit dem Konzept der Peripherisierung kann diese Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz, wie auch die gegenseitige Verwiesenheit der Regionen analytisch fruchtbar erfasst werden. Es ist zu hoffen, dass dieser konzeptionelle Ansatz und die durch ihn angeleiteten empirischen Befunde nicht nur zu weiterer sozialwissenschaftlicher Forschung anregen, sondern auch helfen, den Blick von Medien und Öffentlichkeit auf Ostdeutschland zu schärfen. Damit könnte ein dringend notwendiger Beitrag zur Steigerung der Differenzierungsgrade geleistet werden.
Fußnoten
- Manfred Kühn, Peripheralization. Theoretical Concepts Explaining Socio-Spatial Inequalities, in: European Planning Studies 23 (2015), 2, S. 367–378, hier S. 374. Das angegebene Zitat gibt die Übersetzung wieder, die sich auf S. 29 der besprochenen Monografie findet.
- Albert O. Hirschman, Exit, Voice and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organizations and States, Cambridge, MA 1970. Hirschmans organisationsoziologische Typologie unterscheidet die drei strategischen Verhaltensweisen exit, voice und loyality. Die Autor:innen erweitern diese Typologie um die Kategorien neglect und schließen damit an Überlegungen von Allen und Tüselmann an, vgl. Matthew Allen / Heinz Josef Tüselmann, All Powerful Voice? The Need to Include „Exit“, „Loyality“ and „Neglect“ in Empirical Studies too, in: Employee Relations 31 (2009), 5, S. 538–552.
- In Gera erhielten im Jahr 2019 ganze 40 Prozent der Vollzeitbeschäftigten eine Vergütung im Niedriglohnbereich.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Samir Sellami.
Kategorien: Arbeit / Industrie Demokratie Sozialer Wandel Sozialstruktur
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
Empfehlungen
Mentale Lagerungen
Textauszug aus "Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft"
Der lange Schatten der sozialen Herkunft
Rezension zu „The Class Ceiling. Why it Pays to be Privileged“ von Sam Friedman und Daniel Laurison