Bernhard Borgetto | Rezension |

Mit Bedacht gegen Beschleunigung

Rezension zu „Medizinische Versorgung zwischen Fortschritt und Zeitdruck. Auswirkungen gesellschaftlicher Beschleunigungsprozesse auf das Gesundheitswesen“ von Martin Scherer, Josef Berghold und Helmwart Hierdeis (Hg.)

Abbildung Buchcover Medizinische Versorgung zwischen Fortschritt und Zeitdruck von Scherer/Berghold/Hierdeis

Martin Scherer / Josef Berghold / Helmwart Hierdeis (Hg.):
Medizinische Versorgung zwischen Fortschritt und Zeitdruck. Auswirkungen gesellschaftlicher Beschleunigungsprozesse auf das Gesundheitswesen
Deutschland
Göttingen 2020: Vandenhoeck & Ruprecht
364 S., 27,99 EUR
ISBN 978-3-525-40396-9

Konträr zu seiner Thematik argumentiert der Sammelband Medizinische Versorgung zwischen Fortschritt und Zeitdruck. Auswirkungen gesellschaftlicher Beschleunigungsprozesse auf das Gesundheitswesen auffallend entschleunigt: Die Autor*innen legen ausführlich ihre Themen, Thesen und Argumentationen dar. Somit besticht das lesenswerte Buch – trotz einiger kritikwürdiger Aspekte – insgesamt durch Sorgfalt und Nachvollziehbarkeit. Seine zentrale These lautet,

„dass die gesellschaftlichen Beschleunigungsprozesse, wie sie durch die rasanten Entwicklungen in Wissenschaft und Technik angestoßen und angetrieben werden, nicht ohne weitreichende Folgen für das Gesundheitssystem im Allgemeinen und für die medizinische Versorgung im Besonderen bleiben“ (S. 11).

Das Buch leuchtet zu Beginn in drei Beiträgen die Phänomene Zeit, Beschleunigung und Tempo natur- und sozialwissenschaftlich aus. Der zweite Teil nimmt die unter Zeitdruck stehende medizinische Forschung genauer unter die Lupe, woraufhin die Aufsätze des dritten und vierten Parts die Folgen für die medizinische Versorgung und das Gesundheitssystem thematisieren. Till Bastian, der Autor des letzten, nur aus einem Beitrag bestehenden Teils, eruiert schließlich Möglichkeiten zur Entschleunigung.

Zeit- und Konkurrenzdruck in der Wissenschaft

Die große Frage, was Zeit denn eigentlich sei, kann auch Hans-Hermann Dubben in seinen „Anmerkungen zum Begriff ‚Zeit‘“ nicht abschließend beantworten. Dennoch folgt man dem Autor gerne, wenn er die Vielfalt der überwiegend naturwissenschaftlichen Perspektiven auf das Phänomen Zeit ausbreitet. Obwohl am Ende keine Definition von Zeit steht und stehen kann, bleibt – bei entspannter Lektüre – doch vieles hängen, was zum weiterführenden Nachdenken über Zeit anregt. Dubben beschließt seine Reflexionen mit der Erkenntnis, dass die Zeit nicht schneller vergeht oder weniger wird, sondern dass wir sie ‚nur‘ mit immer mehr Aktionen befrachten. Warum dies so ist, erklärt Josef Berghold in „historische[n] und sozialwissenschaftliche[n] Streiflichtern“: Der kapitalistische Konkurrenzdruck gebe den Zeittakt vor und sorge damit für eine grundsätzliche Beschleunigung des Lebenstempos.

Während sich Hans-Hermann Dubben in seinem zweiten Beitrag darauf konzentriert, welche Folgen Zeit- und Konkurrenzdruck auf die medizinische Forschung haben, widmet sich Thomas Zimmermann dem nach seiner Aussage für das gesamte Wissenschaftssystem geltenden Phänomen der „#FastScience“. Beiden Autoren zufolge häufen sich nicht nur Fehler, sondern es kommt auch verstärkt zu systematischen Fehlentwicklungen: publication bias, Forschungsmüll, übereilte Präsentation von Ergebnissen, mangelnde Absicherung von Daten, fake science, fragwürdige Peer-Reviews, inadäquate Nutzung des Impact-Faktors als Maßstab zur Bewertung von Wissenschaftlichkeit und nicht zuletzt die Arbeit mit einfach bestimmbaren, aber vorläufigen Messwerten (Surrogatendpunkten) zur Beschleunigung von Forschung und Publikationen.

Den genannten Systemfehlern könnten, so Dubben, Meta-Analysen und systematische Reviews, längere Beobachtungszeiträume und eine bedächtige Forschung entgegenwirken; mit Letzterer meint er die Replizierung von Studien zur kausalen Absicherung von Forschungsergebnissen. Dem ist weitgehend zuzustimmen. Wenn Dubben jedoch die Reproduzierbarkeit von Ergebnissen als oberstes Qualitätskriterium von Forschung ausruft, so ist eine gewisse Skepsis angebracht. Wie Marcus Munafò und George Davey Smith in der Zeitschrift Nature darlegen, geht es weniger um die Reproduktion der Ergebnisse als um ihre wechselseitige Bestätigung aus unterschiedlichen Perspektiven. Zudem ist für Munafò und Davey Smith entscheidend, dass Erkenntnisse durch verschiedene Arten von Evidenz, also durch unterschiedliche methodische Zugänge, überprüft werden.[1] Dementsprechende Systematiken, mit deren Hilfe Forscher*innen integrative und nutzerfreundliche multimethodische Reviews erstellen können, sind bereits verfügbar, beispielsweise die Pyramiden-Reviews[2] oder die Umbrella-Reviews.[3]

Zeitdruck im Gesundheitssystem

Im dritten Teil diskutiert Martin Scherer auf Grundlage empirischer Studien die Folgen des Zeitdrucks für die medizinische Versorgung. Es sei Aufgabe der Medizin, in einer Weise zu beobachten, dass man das Nötige ohne Zeitverzug tun und das Unnötige (gegebenenfalls abwartend) unterlassen kann. Dafür brauche es oftmals Zeit und Geduld, mitunter aber auch Eile. Erstere seien in der medizinischen Versorgung jedoch eher knappe Güter, wie die vorgestellte Studienlage zeigt. Die Folgen sind vielfältig: Aufgrund des Zeitdrucks, unter dem sie permanent stehen, übersehen Mitarbeiter*innen des Gesundheitssystems vielfach psychosoziale Belastungen ihrer Patient*innen und versäumen es, deren Selbstmanagement zu fördern. In manchen Fachbereichen gibt es wenig empirische Absicherung des ärztlichen Handelns, eine große Diskrepanz zwischen den in Leitlinien empfohlenen und den tatsächlichen Therapiemaßnahmen sowie ungenaue Diagnosen. Außerdem haben implizite ethnische Stereotype mitunter erschreckend großen Einfluss auf medizinische Entscheidungen.

Im Anschluss sind die Transkripte von Interviews abgedruckt, die Scherer mit Expert*innen aus dem deutschen Gesundheitswesen geführt hat. Die Abschriften werden leider nicht weiter gerahmt, weder eingeführt, interpretiert noch analytisch zusammengefasst – sie sollen wohl für sich stehen. Einzig in der Einleitung des Sammelbandes erwähnen die Herausgeber die einzelnen Interviews kurz, allerdings ohne sie zueinander in Beziehung zu setzen. So bleibt es bei einzelnen Ausführungen zum Thema Zeitdruck und gesundheitliche Versorgung, dabei hätte man interviewübergreifend zahlreiche Ursachen für den grassierenden Zeitdruck herausarbeiten können: etwa organisatorische Aspekte (Abrechnung nach Fallpauschalen, Dokumentationsanforderungen, Anonymisierung und Kontrollmechanismen, Fehlsteuerungen durch falsche Anreizsysteme, wirtschaftlicher Druck), personelle Problemlagen (ungleiche Verteilung von Ärzt*innen, Personalmangel im Pflegebereich) und patientenseitige Einflüsse (Erwartung möglichst schneller, umfassender und erfolgreicher Behandlung, Verlust an theoretischer und praktischer Gesundheitskompetenz, Delegation der Verantwortung für das eigene gesundheitliche Befinden an die Ärzt*innen, demografischer Wandel). Obwohl man die Synthese selbst leisten muss, ist die Lektüre der Interviews (oder besser: Expertengespräche) zu empfehlen, denn darin kommt vieles Wichtige pointiert zur Sprache. Es wäre wünschenswert gewesen, dass die ein oder andere Aussage empirisch belegt wäre – nicht unbedingt in den Interviews selbst, aber doch in einer an sie anschließenden Diskussion. So regen die Transkripte hoffentlich zu eigener Recherche an.

Mobilitätsstress in der Medizin

Ähnlich, aber etwas anders gelagert ist die Kritik am letzten Beitrag des Sammelbandes von Till Bastian. Er widmet sich der Frage, wie sich medizinisches Fachpersonal gegen wachsenden Mobilitätsstress wehren kann. Es bleibt unklar, warum Bastian Mobilitätsstress erst als umfassendere Analysekategorie einführt, dann aber zunehmend mit Zeitdruck gleichsetzt. Dadurch entsteht zum einen der Eindruck, dass der Aufsatz nicht recht zum Buchthema passt, zum anderen verlieren sowohl der Aufsatz als auch der Sammelband insgesamt an Stringenz.

Bevor sie sich auf die Frage des Autors einlassen können, stolpern wissenschaftlich geneigte Leser*innen (zumindest aber der Rezensent) über ganze Absätze, in denen der Autor Behauptungen ohne Belege aufstellt. So heißt es gleich im dritten Absatz, dass das Gesundheitswesen zu den großen Energieverbrauchern der Gegenwartsgesellschaft gehört und dass die „modernen Geräte, mit deren Hilfe die allerneuesten ‚bildgebenden Verfahren‘ realisiert werden […] in ihrem Stromverbrauch bisweilen dem einer Kleinstadt gleich[kommen]“ (S. 348). Eine eigene kurze Nachforschung fördert eine etwas andere Aussage in einem Abschlussbericht des Fraunhofer-Instituts für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik (UMSICHT) zutage. Dort steht, dass der Verbrauch eines ganzen Krankenhauses mit dem einer Kleinstadt vergleichbar sei, was nicht gleichbedeutend ist mit dem Energieverbrauch einzelner Geräte.[4] Immerhin ist anzunehmen, dass ein Krankenhaus eine ganze Reihe solcher Geräte vorhält. Ein eindeutiger Beleg, wie Bastian zu seiner Aussage kommt, würde derartige Unklarheiten beseitigen. Eine solche unsaubere Vorgehensweise erscheint in einem Buch, in dem die mangelnde Sorgfalt und Seriosität von Forschungen und Publikationen ein zentraler Kritikpunkt am (zu stark) beschleunigten Wissenschaftssystems darstellt, besonders fatal und weckt (eventuell unnötige) Zweifel an der Seriosität des Beitrags. Nebenbei: Der einzige Bezug, den Bastian in diesem Gedankengang zur Mobilität herstellt, besteht darin, dass der Energieverbrauch des Gesundheitswesens mit dem des Verkehrswesens vergleichbar sei. Auch der im nächsten Absatz folgenden Darstellung mangelt es an Belegen. Darin bespricht der Autor die Auswirkungen von Fallpauschalen, ein Thema, das die Fachliteratur durchaus kontrovers diskutiert.

Aber zum eigentlichen Anliegen des Aufsatzes: Bastian fasst seine Ausführungen zur Abwehr von Mobilitätsstress unter vier Gesichtspunkten zusammen: (1) Außenreize reduzieren, (2) alltägliche Lebenspraxis vereinfachen und sich auf das Wesentliche konzentrieren, (3) in die alltäglichen Abläufe schöpferische Pausen einbauen und (4) sich selbst erforschen und daraus „Selbst-Zufriedenheit“ gewinnen (S. 357). Sicher, damit sind zentrale allgemeingültige Aspekte benannt, allerdings fühlt man sich am Ende des Beitrags doch etwas allein gelassen mit der Umsetzung. Der Umgang mit Zeitdruck, um den es Till Bastian ja nicht einmal in erster Linie geht, hätte nicht nur einen ausführlicheren Einzelbeitrag, sondern einen eigenen Teil mit mehreren Texten verdient.

Um es noch einmal zu betonen: Das Buch ist insgesamt sehr lesenswert. Es regt dazu an, sich selbst und die sich beschleunigende Umwelt – insbesondere die Wissenschaft und das Gesundheitswesen – zu beobachten und zu reflektieren. Der durch den technischen Fortschritt vielfach entstehende Zeitdruck lässt so manche technische Errungenschaft in einem etwas anderen Licht erscheinen; hierfür bietet der Sammelband eine Vielzahl von Anregungen und hält hilfreiche individuelle wie systemische Antworten bereit. Eine umfassende Perspektive fehlt allerdings, sie ist jetzt und in einem einzelnen Buch womöglich (noch) gar nicht zu leisten. Leider bleibt auch die besonders interessante Frage offen, warum wir den technischen Fortschritt, der derzeit überwiegend zur Beschleunigung des Lebens beizutragen scheint, eigentlich nicht zur Entschleunigung nutzen – aber die vorgestellten Beiträge befördern immerhin die Debatte darum.

  1. Marcus R. Munafò / George Davey Smith, Repeating Experiments Is Not Enough [2.8.2021], in: Nature 553 (2018), 7689, S. 399–401.
  2. Bernhard Borgetto et al., Evidenz in der Gesundheitsversorgung: Die Forschungspyramide, in: Robin Haring (Hg.), Gesundheitswissenschaften, Wiesbaden 2018, S. 643–654.
  3. Edoardo Aromataris et al., Umbrella Reviews [2.8.2021], in: ders. / Zachary Munn (Hg.), JBI Manual for Evidence Synthesis (2020), Kap. 10.
  4. Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik (Hg.), Hospital Engineering – Teilprojekt „Energieeffizienz“. Energetische Modellierung von Krankenhäusern für Transparenz und Energieeinsparung [2.8.2021], Oberhausen 2017, S. 9.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Gesundheit / Medizin Technik Wissenschaft Zeit / Zukunft

Abbildung Profilbild Bernhard Borgetto

Bernhard Borgetto

Prof. Dr. habil. Bernhard Borgetto ist Medizin- und Gesundheitssoziologe. Er studierte Soziologie an der Universität Frankfurt am Main, promovierte in Heidelberg und habilitierte sich 2004 an der Universität Bielefeld. Seit 2006 ist er Professor für Gesundheitsförderung und Prävention an der HAWK Hildesheim und zurzeit dort Prodekan der Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit.

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