Cordula Dittmer | Rezension | 08.12.2020
Mit Blaulicht, Luhmann und Martinshorn
Rezension zu „Organisierte Rettung. Studien zur Soziologie des Notfalls“ von Nils Ellebrecht
Krankenwagen und Rettungssanitäter*innen gehören zum Straßenbild, jedes Kind kennt die Notrufnummer 112. Umso erstaunlicher scheint es, dass der Notfall bislang kaum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Analysen war. Und umso erfreulicher ist, dass Nils Ellebrechts Dissertation, die die Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin e.V. im September 2020 mit dem Hanno-Peter-Preis auszeichnete, diese Leerstelle schließt. Ellebrecht betrachtet den Notfall konsequent organisations- und systemtheoretisch, mit der Luhmann´schen Brille kann er Unsichtbares sichtbar machen. Er schreibt zum Ziel seiner Arbeit: „Die Notfälle etablierenden und in ihnen geltenden Normen sowie die an Notfälle anschließenden Verhaltensbewertungen müssen analytisch so gedreht werden, dass sie ihrer Selbstverständlichkeit entkleidet werden können.“ (S. 2) Zur Untermauerung seiner Argumente referiert er anschauliche Beispiele aus seiner jahrelangen empirischen Forschung zu Notfallorganisationen. Die Arbeit nimmt vier Perspektiven ein: erstens verschiedene historische und definitorische Zugänge zum Phänomen des Notfalls, zweitens die organisationale Bewältigung von Notfällen durch Rettungsorganisationen, drittens der Notfall an der Schnittstelle von technischer und medizinischer Professionalität und damit als Netzwerk verschiedener Akteure sowie viertens die Triage als besondere Form der Entscheidungsgenerierung im Angesicht knapper Ressourcen.
Das erste Kapitel „Dimensionen des Notfalls“ leitet den Notfall zunächst philosophiegeschichtlich und rechtstheoretisch her, um ihn dann systemtheoretisch zu definieren. Ellebrecht diskutiert hier zum Beispiel die Frage, ob ein Notfall immer noch ein Notfall ist, wenn das Opfer selbst Schuld an seiner Notlage hat. Als besonderes Merkmal von Notfällen wird Zeitlichkeit ausführlich dargestellt: Ein Notfall zeichnet sich demgemäß dadurch aus, dass eine aktuelle Gefahr noch gebannt werden kann, es gibt noch die Möglichkeit einer Rettung. Dies unterscheidet, so Ellebrecht, den Notfall von einer Katastrophe, in der ein soziales System „derart nachhaltig irritiert ist, dass ihm seine Anschlussfähigkeit und damit seine Autopoieses abhanden zu kommen scheint“ (S. 34). Daran anschließend geht es darum, wie Fremde im Notfall als Helfer*innen im Althusser`schen Sinne „angerufen“ werden können und auf welche Weisen man sich dieser Anrufung widersetzen kann. Dabei kommt es durchaus vor, dass beide Seiten – Opfer und Helfer*in – den vermeintlichen Notfall nicht gleichermaßen als solchen anerkennen und Hilfe unter Umständen nicht annehmen oder das Helfen verweigern. Ellebrechts soziologischer Definition zufolge ist der Notfall zugleich Ereignis und Interaktion, er „breitet sich vom Entscheidungsort aus“ (S. 82).
Daraufhin analysiert der Autor „Rettungsorganisationen“ und ihre „Routine(n) im Notfall“ (Kapitel 2). Ausgehend von einem systemtheoretischen Organisationsbegriff untersucht er die Bedeutung von Leitstellen, Fehlalarmen und Übungen, die Einsatzbereitschaft von Rettungskräften, den Ablauf einer Einsatzfahrt, die Vorbereitung auf den Einsatz sowie die Führungsstrukturen im Einsatz. Ellebrecht argumentiert hier gegen die etablierte organisationssoziologische Annahme, dass Notfallorganisationen eine „heiße“ Einsatzphase und eine „kalte“ Wartephase hätten, und stellt stattdessen fest: „Schon die Wartezeit auf der Wache kann ohne ihren antizipativen Bezug zum nächsten Einsatz nicht begriffen werden. Auf der Wache herrscht nicht nur verwaltungs- und wartungstechnische Monotonie, es besteht sogar eine ausgesprochen hohe Akzeptanz des Nichtstuns, die jedoch nicht mit der vermeintlichen Schläfrigkeit administrativer Strukturen zu verwechseln ist.“ (S. 92) Planung und Rettung sind also nicht voneinander getrennt, sondern zeitlich ineinander verschachtelt; nur so können die Rettungsorganisationen die notwendige Funktionalität generieren und garantieren. Mithilfe der Empirie beschreibt Ellebrecht als nächstes verschiedene Situationen, in denen Einsatzroutinen relevant oder infrage gestellt werden. Im Anschluss an die Reflexion von Routinen geht es um die Bedeutung von Entscheidungen sowie um Emotionalität in der konkreten Notfallsituation. Die hier vorgenommene Analyse kommt zu dem Schluss, dass Rettungsorganisationen die paradox scheinende Fähigkeit besitzen, unerwartete Ereignisse mit routinierten Handlungsformen zu bewältigen. Dazu gehört die weitgehende Ausblendung von Emotionalität. Zugleich rechnen Nichtmitglieder von Rettungsorganisationen, zum Beispiel die Betroffenen selbst oder Zuschauende, mit einer vor allem emotionalen Bewältigung der Situation. Somit ist das Rettungspersonal mit teilweise widersprüchlichen oder sogar nichterfüllbaren Erwartungen konfrontiert.
Kapitel 3, „Kooperation professioneller und organisierter Retter“, betrachtet den Notfall als Netzwerk, als Kooperationssystem verschiedener Akteure. Um den hier auftretenden und bereits aus der Organisations- und Arbeitssoziologie bekannten Konflikt von Profession und Organisation zu entfalten, erläutert Ellebrecht zunächst die historischen und rechtlichen Hintergründe der Notfall- in Abgrenzung zur Allgemeinmedizin. Erstere hat eben nicht die Heilung des Patienten zum Ziel, sondern versucht lediglich, ihn in einen Zustand zu bringen oder ihn in einem Zustand zu halten, der eine Anschlussbehandlung ermöglicht. Die Rolle der Leitenden Notärztin ist hierbei bemerkenswert und findet daher auch in der Analyse besondere Beachtung: Eine Notärztin ist zwar medizinisch ausgebildet, arbeitet aber in den Strukturen des Rettungsdienstes beziehungsweise der Feuerwehr und hat daher weniger eine medizinische als vielmehr eine organisatorische Funktion. Die unterschiedlichen Modi der Notfallbearbeitung wie auch die verschiedenen Rollenanforderungen können in der konkreten Praxis zu Missverständnissen und Konflikten führen. Das Kapitel betrachtet außerdem die Polizei als einen weiteren Akteur des Netzwerks und untersucht die Bedeutung von Vertrauen als Grundlage für die Zusammenarbeit im Notfall.
Im letzten Kapitel widmet sich Ellebrecht der „Triage“, die er als „Theorie und Praxis notfallmedizinischer Rationierung“ versteht. Zunächst betrachtet er das Verfahren, das an der Schnittstelle von Heeres- und Notfallmedizin entstand, aus historischer Perspektive. Dabei bezieht er auch aktuellere Entwicklungen seit 1945 ein, insbesondere die Unterschiede zur alltäglicheren „Sichtung“, bei der es weniger um Ressourcenknappheit als um die Frage der priorisierten Behandlung geht. Seine Ausführungen hierzu sind besonders interessant und vor allem aktuell, da die Triage in der gegenwärtigen COVID-19-Pandemie insbesondere für Norditalien aber auch für New York massenmedial diskutiert wurde. Triage operationalisiert Ellebrecht als „organisierte Patientenselektion und rationierte Vergabe von Ressourcen“ (S. 252), auf die man sich als formalisierte Entscheidungshilfe vor dem tatsächlichen Eintritt der Mittelknappheit festgelegt und die primär auf Algorithmen basiert. Er vergleicht die verschiedenen Modelle anhand ihrer Vor- und Nachteile und verweist außerdem darauf, dass es in der konkreten Triage-Situation darauf ankommt, wer die Triage durchführt und welche rechtlichen Möglichkeiten bestehen, um getroffene Entscheidungen retrospektiv zu verurteilen und zu sanktionieren. Weiterhin stellt der Autor die ethisch höchst heikle Überlegung an, ob in manchen Notfällen ein „gutes Sterbenlassen“ nicht die bessere Variante wäre. Dies alles sind schwierige Fragen, deren sozialwissenschaftliche Adressierung in Anbetracht der tagtäglichen Entscheidungen, vor denen die Akteure im System „Notfall“ stehen, umso notwendiger scheint.
Ellebrecht zieht für seine Analysen eine Vielzahl an Literatur heran, insbesondere aus Organisations-, Risiko-, Katastrophen und Medizinsoziologie sowie der Luhmann’schen Systemtheorie – um nur einige zu nennen. Daneben referiert er relevante Literatur aus Philosophie und Rechtswissenschaft und verweist auf historische Analysen, beispielsweise wenn es um die Entstehung des Notfalls, des Rettungsdienstes oder der Triage geht. Literatur und Analyse beziehen sich weitgehend auf den deutschsprachigen Raum und den nationalen Kontext. Internationale Forschungen oder Diskurse, insbesondere aus der Krisen- und Katastrophenforschung, behandelt er nur am Rande. Begrifflich grenzt der Autor den Notfall lediglich von der Katastrophe ab, wobei er einen etwas verkürzten Katastrophenbegriff verwendet, wenn er Katastrophe ausschließlich anhand fehlender Hoffnung auf Rettung definiert. Der von ihm sogar zitierte theoretische Ansatz von Lars Clausen versteht unter Katastrophen vielmehr gesamtgesellschaftliche Zusammenbrüche. Man hätte hier gut an die Trias der englischen Begriffe „emergency“, „disaster“ und „catastrophe“ anschließen können, um die Besonderheit des Notfalls stärker zu klären: Notfälle können als etwas Alltägliches angesehen werden, eben weil es etablierte und eingeübte organisationale Verfahren gibt, um solchen Situationen zu begegnen. Sie sind gerade keine Situationen, die alltägliche Bewältigungsstrukturen überfordern, wie dies zum Beispiel der Katastrophensoziologe E. L. Quarantelli[1] für den Begriff der „Katastrophe“ beansprucht. Der Blick in die sehr anwendungsorientierte US-amerikanische Katastrophenforschung hätte daher noch andere Aspekte aufgezeigt und womöglich dazu beigetragen, die Bedeutung und Besonderheiten des Systems der Notfallrettung in Deutschland herauszustellen. Allerdings ist die Anlage der Studie bereits höchst differenziert, sodass die Referenzen auf den internationalen Kontext die Arbeit vermutlich überfrachtet hätten.
Ellebrechts Schreibstil ist komplex und informiert, daneben zeugt es von Ironie und philosophischer Reflektion, wenn er Notfälle als „moralische Ungetüme“ (S. 3) bezeichnet. Die Fahrt der Rettungsdienste zum Einsatzort ist für ihn ein „Wendepunkt, eine Zwischenzeit, in der nicht mehr gewartet wird, in der aber auch noch nicht gerettet werden kann. Sie vergeudet Zeit, die vorher ausreichend zur Verfügung stand, von der aber nun zu wenig vorhanden ist. Die gebotene Eile unterscheidet sich von der am Einsatzort durch ihre Objektlosigkeit. Der Rettung mangelt es noch am Rettbaren und dieses Fehlen erzeugt auf der Interaktionsebene einen anonymen Zeitdruck, der sitzend, fahrend und wartend ausgehalten werden muss.“ (S. 87) Seine systemtheoretischen Sprachspiele – „Notfallorganisationen suchen Stabilität im Dynamischen und lösen das Ereignishafte im Trägen auf“ (S. 90) – zeigen, wie gewinnbringend der Blick eines theoretisch informierten Soziologen auf das die Alltäglichkeit des vermeintlich Nicht-Alltäglichen sein kann. Das Buch gibt spannende Einblicke in Routinen und Lebenswelten, die den meisten Menschen verschlossen bleiben. Zugleich ist es höchst anspruchsvoll und bleibt einem Leser, der mit dem soziologischen Duktus nicht vertrauten ist, auf weiten Strecken sicher unverständlich. Etwas irritierend ist mitunter, dass einzelne Kapitel in überraschend anderem Schreibstil verfasst sind: Ellebrecht wechselt teilweise von sehr abstrakten organisationstheoretischen Analysen zu Beobachtungsprotokollen in der Ich-Perspektive. An manchen Stellen würden etwas weniger Querweise, Fußnoten und Einschübe der Lesbarkeit zugutekommen. Alles in allem legt der Autor mit Organisierte Rettung ein absolut lesenswertes Werk vor, das einen wertvollen Beitrag zur Organisations-, zur Notfall- sowie zur Katastrophenforschung leistet. Außerdem kann es eine Motivation sein für alle Doktorand*innen in der Drittmittelforschung, denn es zeigt, dass eine hochwertige Dissertation trotz befristeter Verträge und in inhaltlich wechselnden Projekten möglich ist.
Fußnoten
- Enrico L. Quarantelli, Emergencies, Disaster and Catastrophes Are Different Phenomena, Newark 2000.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Sicherheit Gesundheit / Medizin Systemtheorie / Soziale Systeme
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
Empfehlungen
Die nächsthöhere Schule
Rezension zu „Hochschulexperimentierplatz Bielefeld. 50 Jahre Fakultät für Soziologie“ von Volker Kruse und Torsten Strulik (Hg.)