Florian Schmidt | Essay | 15.09.2023
Mit Lee Miller das Leiden anderer betrachten
Wie Fotografien Gewalt und Kriegsgeschehen dokumentieren
Dank digitaler Bilderströme sind wir es gewohnt, Kriegsfotos, Bilder von Raketeneinschlägen und leidenden Menschen neben Essensfotos, Kosmetikratschlägen und werbenden Menschen zu sehen. Dass eindrückliche und ernste Reportagen aus dem Zweiten Weltkrieg ausgerechnet in der Modezeitschrift Vogue veröffentlicht wurden, mag uns dennoch verwundern. Unter dem Titel „Hitleriana“ erschien in der Juli-Ausgabe 1945 ein Bericht vom Kriegsende in Deutschland. Seine Autorin, die US-amerikanische Fotografin Lee Miller, gewährt darin nicht nur Einblicke in kürzlich befreite Konzentrationslager oder die verwaiste Münchner Privatwohnung Hitlers, sondern erzählt auch von ihren Eindrücken als Kriegsfotografin im Land der Täter:
„Ich bin ziemlich oft äußerst gereizt, besonders wenn ich die Leute nicht verstehe. Ich möchte sie anschreien, wenn sie versuchen mir zu erklären, dass das ausgebombte Hofbräuhaus kein interessantes Bild abgibt, weil es völlig zerstört ist, und dass es keinen Sinn habe, die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu fotografieren, weil sie nur noch Ruinen sind. Zehnmal erkläre ich, dass ich Dokumentaraufnahmen mache und keine Kunst.“[1]
Allem Anschein nach wurde die Kriegsfotografin Miller nicht nur von ihren deutschen Gesprächspartnern in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs, sondern auch von ihrer Nachwelt missverstanden. Immerhin wird ihr Werk gerade im Bucerius-Kunstforum ausgestellt. Ausstellungen und kunsthistorische Publikationen zu Millers Werk könnten aber auch nahelegen, dass wir ihrer Lossagung von der Kunst misstrauen dürfen. Ohnehin lässt sich ihr Medium – nämlich die Fotografie – weder einfach dem Dokumentarischen noch der Kunst zuordnen. Susan Sontag, die wie Miller zeitlebens aus großstädtischen Künstlerkreisen in Kriegsschauplätze aufbricht, schreibt in ihrem Essay „Das Leiden anderer betrachten“ von einem Doppelpotenzial der Fotografie. Darunter versteht sie, dass Kameras nun mal imstande sind, „Dokumente hervorzubringen und Bildkunstwerke zu schaffen“.[2]
Das Doppelpotenzial wird Sontag zufolge für jene zum Problem, die Dokumentation und Bildkunstwerke als widerstreitende Projekte verstehen wollen und von Fotografien beanspruchen, nichts als die Wahrheit zu zeigen – etwa hinsichtlich der Zerstörung und des Grauens im Rahmen eines Krieges. Dieser Auffassung nach würde jegliche Ästhetisierung die Glaubwürdigkeit des Bildes korrumpieren. Sontag nennt Millers Aufnahmen aus den Konzentrationslagern Bergen-Belsen, Buchenwald und Dachau als Beispiel für solche „besseren Bilder“, die in den Augen einiger ihrer Zeitgenossen weniger Gültigkeit zu besitzen scheinen als spontane Fotos von anonymen Berichterstattern.[3] Das Programm hinter einer solchen Hierarchisierung verdichtet Sontag so: „Fotografien, die Leiden darstellen, sollen nicht schön sein“.[4] Nicht einmal eine Provokateurin wie Sontag würde behaupten, dass die Bilder aus den befreiten Konzentrationslagern schön seien. Dennoch stellen die Bilder Millers Ästhetisierungsvermögen unter Beweis. Sie zeugen von einem Bewusstsein ihrer eigenen Wirkung. Und wer in der Hamburger Ausstellung das Werk Millers von den Anfängen in der Mode über den Surrealismus bis hin zur Kriegsfotografie nachvollzieht, wird ihre Fotografien durch und durch ästhetisiert und manche gar schön finden.

Viel ist über das ereignisreiche Leben der Lee Miller geschrieben worden.[5] 1907 in der Nähe von New York geboren, ausgebildet in Beleuchtungstechnik, zunächst Muse ihres Vaters, später dann des Surrealisten Man Ray. Zuvor wurde sie im Jahr 1926 auf den Straßen New Yorks beinahe überfahren. Beinahe – denn kein Geringerer als der berühmte Verleger Condé Nast verhinderte den Unfall und brachte Miller sogleich als Model auf das Titelblatt der Vogue. Sie wechselte hinter die Kamera, zog nach Paris und erprobte mit Man Ray surrealistische Bildtechniken. Später verließ sie Man Ray und Paris, lebte in Ägypten, bevor sie nach New York zurückkehrte. Nach Kriegsbeginn besorgte sie sich eine Akkreditierung als Korrespondentin für die Vogue, begleitete das Kriegsgeschehen erst im zerbombten London und ab 1944 auf dem europäischen Kontinent. Von Hitlers Tod erfuhr sie in dessen Wohnung („Sie hatte weder Eleganz noch Charme“[6]) und fotografierte sich unbekleidet in seiner Badewanne. Nach dem Krieg zog sie sich auf ein Landhaus zurück, legte die Kamera nieder und widmete sich bis zu ihrem Tod 1977 leidenschaftlich dem Kochen. Ihr Leben, das dieser Absatz nur in äußerst groben Zügen zeichnen kann, wirkt derart kontrastreich und satt, dass es ihre Bilder zu überstrahlen droht. Im Folgenden wird die Aufmerksamkeit deshalb dem fotografischen Werk Millers gelten. Der Nachvollzug seiner ästhetischen Kontinuitäten von der Mode- bis zur Kriegsfotografie wird uns aufzeigen, wie sich zwischen „dem ästhetisch Schönen und einer auf Erschütterung setzenden Dokumentation“[7] im Rahmen eines Krieges vermitteln lässt.
Als ein Wasserzeichen der Bilder erscheint mir ihre Ästhetik der Distanz. Nehmen wir das „Selbstbildnis mit Sphinxen“, eine frühe Fotografie von Miller. Zu sehen ist die Fotografin in Interaktion mit zwei Modellen jener mythischen Figur, die sich Menschen in den Weg stellt, bis diese die von ihr gestellten Rätsel lösen. Das Arrangement von Miller mit den Sphinxen erinnert an das Gemälde „Anna Selbdritt“ von Leonardo da Vinci, was Anna, Maria und Jesus zeigt. Doch während sich dort die Blicke der Dargestellten treffen, verfehlen sie sich hier. Miller und die Sphinxen sehen einander nicht an, der gesenkte Blick von Miller zielt ins Leere. Die präzise Positionierung der Objekte und der abwesende Blick der abgelichteten Personen gehören zu ihrer Bildsprache und lassen sich auch in anderen Bildern wiedererkennen, etwa in „Collections for Glamour“. Eine darin dargestellte Szene aus der Nachkriegszeit mutet auf den ersten Blick banal an: Hinter einer Fensterscheibe steht eine adrett gekleidete Frau vor einem Rolls-Royce, wendet sich von den Betrachtenden ab und der rechten Bildseite zu. Was ihr Blick fixiert oder welche Haltung sie einnimmt, sehen wir nicht, denn ihre Augen und die erhobene Hand werden von Fensterbalken verdeckt. Horizontal wie vertikal zerschneiden sie das Bild in Miniaturen. Das Fenster bleibt in seiner Materialität vordergründig, Tau und gläserne Verzerrungen lassen keine Illusion der Unmittelbarkeit zu.
Bei längerer Betrachtung scheint die Bildstruktur durch Fensterbalken, die trügerische Ordnung oder Ordentlichkeit der Frau und der Wohnstraße zu kommentieren. Plötzlich wirkt es, als würde man von einer Gefängniszelle aus auf die Szenerie blicken – oder befindet sich nicht vielmehr die dargestellte Frau hinter Gittern? Das Spiel mit Materialschichten und der optischen Zerteilung von Körpern ergänzt Millers Vokabular und sticht besonders in dem Bild „Untitled [Nude wearing a sabre guard]“ hervor. Hier konfrontiert sie den Ausschnitt eines unbekleideten, weiblichen Oberkörpers mit dem kalten, metallenen Fechtschutz. Der lebendige, aber ungeschützte Leib wird durch das starre, aber schützende Metall kontrastiert. Ein anderes Mal zeigt Miller ein nicht nur optisch abgetrenntes Körperteil. Auf dem Bild „Untitled [Severed breast from radical surgery in a place setting 1]“ drapiert sie eine amputierte Frauenbrust auf einem hübschen Tischgedeck. Man darf sich fragen, wie eine Fotografin, die menschliche Körper derart verfremdet, das Leiden anderer im Krieg dokumentieren soll.[8] Und um Kriegsfotografie soll es hier ja schließlich gehen.
Bevor wir uns also Millers Kriegsbildern zuwenden, sei festgehalten, dass ihre Ästhetik der Distanz auf der Ebene des Dargestellten Probleme aufwirft, die das Medium der Fotografie selbst betreffen. Das Fenster und sein ordnender Rahmen visibilisiert erstens das Wirken der Kamera, die stets eine Rahmung setzt, ein Fragment aus der Wirklichkeit herausschneidet und gar nicht anders kann als Ordnung herzustellen. Wie kann die Fotografie also das Chaos abbilden? Die Zerteilung der Körper markiert zweitens ihren Status als Objekt, als bloßes Ding. Sontag schreibt: „Fotos objektivieren: sie machen aus (…) einer Person etwas, das man besitzen kann“.[9] Wenn Miller also eine amputierte Brust fotografiert, verweist sie durch ihre Zuspitzung nur auf die Objektivierung des Körpers (besonders des weiblichen, daher die Brust), die der Fotografie immer schon eigen ist. Und drittens stellen uns Millers abwesende Blicke eine Frage, die auch Sontag beschäftigt, nämlich ob die Fotografie es vermag, Kommunikation zu ermöglichen und Nähe herzustellen, also Entfernungen zu überbrücken, oder ob sie nicht vielmehr Distanz perpetuiert.[10] Eine Frage, die sich besonders für jene Fotografien stellt, die das Leid von einem fernen Ort aus an ein heimisches Publikum zu vermitteln suchen.

Lee Miller reiste 1944 für die Vogue als Kriegsberichterstatterin nach Europa. Ihre Bildsprache hat sie im Angesicht des Grauens nicht verloren. Im französischen Saint Malo wurde sie zur Zeugin der Rückeroberung durch die Alliierten. Schon hier fotografierte sie durch ein Fenster, etwa für das Bild „Der Fall der Zitadelle“. Auf dem Bild liegt hinter dem Fenster jedoch keine ordentliche, verdächtig trügerische Idylle. Im Gegenteil: In der Ferne zersprengt eine Napalmbombe die von deutschen Soldaten besetzte Zitadelle und reißt sie in unzählige Stücke. Das Fenster verleiht der Explosion einen schwarzen Rahmen. Miller hält sie als „Bild im Bild“ fest.[11] Zugleich trennt sie die abgebildete Landschaft, indem sie eine Perspektive wählt, die das Balkongeländer vor die intakten Häuserdächer im Vordergrund schiebt, die Detonation auf der fernen Anhöhe jedoch unverdeckt zeigt. Es wirkt, als würde die fotografische Vergitterung der anwesenden Unversehrten in den vordergründigen Häusern Sontag darin bestätigen, dass auch Zeugen vor Ort, in nächster Nähe und ganz unvermittelt nichts anderes täten als zu betrachten, was letztlich Distanzierung impliziere. Die Rahmung ruft die Betrachtenden aber auch zur Reflexion des eigenen Standpunkts auf. Sie sind nämlich nicht nur durch die Gitter des Balkongeländers vom Geschehen getrennt. Nein, sie befinden sich hinter dem ordnenden Rahmen eines Ausstellungsraums oder vor dem Bildschirm. Während der Bildgegenstand – wie Elisabeth Bronfen es formuliert – „Empathie für das Konkrete“ erfordert, provoziert deren ästhetische Formalisierung „Anerkennung der Abstraktion“.[12]
In „Der Fall der Zitadelle“ sehen wir nur eine Momentaufnahme: Die Bombe muss just eingeschlagen sein, die Explosionswolke plustert sich auf. Bald wird sie womöglich die Sicht erschweren. Noch aber sehen wir ihre Ausdehnung in alle Richtungen und man ist versucht, sie erhaben zu nennen. Das Bild einer Bombenexplosion, deren Zeitlichkeit komprimiert (sie benötigt wenige Sekunden) und radikal dramatisch ist (in diesen wenigen Sekunden ändert sich alles, werden Leben ausgelöscht und Orte zerstört), führt uns vor Augen, dass die Fotografie eine Raumkunst ist, immer nur einen Moment erfasst und von uns verlangt, ein Vorher und Nachher zu imaginieren. Dass Fotos keine Handlungen repräsentieren, sondern höchstens andeuten können, legt Sontag ihnen zur Last: „(…) wenn es darum geht, etwas zu begreifen, helfen sie kaum weiter. Erzählungen können uns etwas verständlich machen. Fotos tun etwas anderes: Sie suchen uns heim und lassen uns nicht mehr los“.[13] So wie jene Bilder, die Miller in den befreiten Konzentrationslagern aufnahm.
Auf einer dieser Fotografien scheint ein männlicher Körper unter der funkelnden Wasseroberfläche zu schweben, auf der linken Seite ragen Pflanzen in das Bild hinein. Sonnenstrahlen erleuchten den zur rechten Seite abgewandten Körper und werden im Wasser reflektiert. Das Bild ähnelt dem harmonischen Ophelia-Gemälde von John Everett Millais. Es veranschaulicht zudem Sontags Argument, dass Fotografien einordnender Titel und Texte bedürfen. Zu sehen ist nämlich, das verrät der Bildtitel, ein toter SS-Offizier, dessen Leiche in einem Kanal neben dem KZ Dachau schwimmt. Diese Information durchkreuzt die Bildwirkung und stiftet zusätzliche Irritation. Konnte man sich zuvor fragen, ob es wirklich angemessen ist, das Foto eines Toten als Kunstwerk zu betrachten, vielleicht sogar schön zu nennen, ist das Publikum nun mit der Frage konfrontiert, ob das Wissen um die Identität des Toten eine solche Rezeption eigentlich eher gestattet oder verbietet. Jedenfalls steht die „ästhetische Qualität des Bildes“ laut Paul Lowe im Kontrast zum Wissen, dass es sich bei dem Toten um ein Mitglied der Waffen-SS handelt.[14] Dass die Leiche unter der Wasseroberfläche liegt (für Betrachtende hinter einer Schicht), ihr Arm jedoch aus dem Wasser herausragt (uns also etwas näher ist) und die trennende Schicht durchdringt, verstärkt die ambivalente Bildwirkung. Wieder problematisiert Miller auf der Darstellungsebene das Verhältnis von Nähe und Distanz: Solange wir auf ihrer Fotografie nur einen toten Körper sehen, stellt das Bild womöglich Nähe her. Sobald wir den toten Körper eines SS-Manns sehen, fordert es zur Distanzierung auf.
Es gibt Bilder aus den Konzentrationslagern, die sich nicht einfach in die Besprechung von Millers Werk einordnen lassen. Die Rede ist von den Fotografien getöteter Lagerinsassen. Sie bezeugen das Ausmaß der von den Deutschen begangenen Verbrechen. Der Titel, unter dem die Bilder in der Vogue veröffentlicht wurden, lautete: „Glaubt es!“. Es kann nicht bezweifelt werden, dass für diese Bilder das Primat des Dokumentarischen gilt. Ohnehin scheint es so, als würde Miller die Bilder nur beilegen, um ihren schriftlichen Schilderungen Evidenz zu verleihen. Dass die breite Bevölkerung von alldem wissen musste, belegte sie etwa mit Fotografien von getöteten Opfern, die aus dem Zug direkt vor die anliegenden Wohnhäuser fielen. Überflüssig festzuhalten, dass diesen Bildern – anders als dem Foto vom SS-Offizier – keine Ästhetisierung zugrunde liegt. Und dennoch heben sie sich von den Aufnahmen anderer Fotografen ab, dennoch attestiert Sontag ihnen, „besser“ zu sein. Warum? Während Amateurfotografen die Leichen der Lager in der Totalen festhielten (wahrscheinlich um das quantitative Ausmaß zu dokumentieren), entschied sich Miller für Nahaufnahmen. In ihnen werden die Gesichter der Opfer erkennbar – und ihre abwesenden Blicke. So erzeugen auch diese Bilder ebenso Nähe (die Opfer werden als Individuen sichtbar) wie Distanz (schließlich ist keine Kommunikation mehr möglich). Sie können bei den Betrachtenden Mitgefühl auslösen, das dem Gezeigten jedoch schwer gerecht werden kann, denn „unser Mitgefühl beteuert unsere Unschuld und unsere Ohnmacht. Insofern kann es zu einer impertinenten – und völlig unangebrachten – Reaktion werden“.[15] Die Unmöglichkeit der Versöhnung, die den Bildern innewohnt, drückt Miller auch in ihren Titeln aus: „Schrecken des Konzentrationslagers, unvergessen, unverzeihlich“.
Dass ihre Kriegsfotografie mit der Mode- und surrealistischen Fotografie bricht und dass den Bildern aus den Konzentrationslagern innerhalb ihrer Kriegsfotografie ein gesonderter Status zukommt, ist unbestritten. Auf ästhetische Kontinuitäten in den Fotografien hinzuweisen, mag demgegenüber gewagt erscheinen. Was haben wir von der Feststellung, dass Millers Bilder durch ihre eigenartige Ästhetik der Distanz wiederkehrend Ordnung (Fensterrahmen) und Chaos (Bombenexplosionen), Körper (toter SS-Offizier) und Materialschichten (Wasseroberfläche), Nähe (Mitgefühl) und Entfernung (Bewusstsein für die Beobachterposition) konfrontieren und problematisieren? Zu welchen Erkenntnissen führt die Auseinandersetzung mit der ästhetischen Qualität von Millers Werk? Susan Sontag, die dem Vermittlungspotenzial von Fotografien skeptisch gegenübersteht, führt als gelungene Gegenbeispiele vor allem Kunstwerke an. Immer wieder Francisco de Goya, aber eben auch eine Fotografie von Jeff Walls, die verstümmelte und verrenkte Leichen im Schützengraben inszeniert. Inszeniert, weil diese toten Soldaten miteinander plaudern, die Szene also gestellt sein muss. Sontag lobt ausgerechnet dieses Foto als in „(…) seiner Nachdenklichkeit und Eindringlichkeit exemplarisch“.[16] Das Bild würde gar nicht erst den Versuch unternehmen, durch die Darstellung von Leid Mitgefühl zu wecken, wie Sontag schreibt: „Diese Toten interessieren sich nicht im Geringsten (…) für uns“.[17] Die Aussage erscheint unsinnig, immerhin interessieren sich Tote nach allem, was wir wissen, nur selten für die Lebenden. Worauf Sontag hiermit anspielt, ist die Tendenz der Fotografie, Tote auf eine Weise darzustellen, als würden sie sich für uns interessieren. Als wären sie gestorben, um von uns betrachtet zu werden. Demgegenüber entspricht Walls ungewöhnliche Inszenierung der Toten einer „Absage an unseren visuellen Konsumismus“.[18] Eine Absage, die konsequent ist, da zwischen jenen Leidenden und uns Betrachtenden stets eine unüberbrückbare Kluft verlaufen wird: „Wir – zu diesem „Wir“ gehört jeder, der nie etwas von dem erlebt hat, was sie durchgemacht haben – verstehen sie einfach nicht“.[19]
Die als verschwenderisch, unangemessen und amoralisch kritisierte Ästhetisierung in Kriegsbildern erweist sich als Visibilisierung des fotografischen Unvermögens, das Leiden anderer adäquat zu vermitteln. Solche Bilder suggerieren keine falsche Nähe, sondern gestehen durch ihre ästhetische Qualität offen ein, dass sie eben nur Bilder sind. Solche Bilder können „(…) nicht mehr sein als eine Aufforderung zur Aufmerksamkeit, zum Nachdenken, zum Lernen“.[20] Das ist nicht wenig. Fotos vom Leiden anderer konfrontieren uns damit, dass Menschen imstande sind, „(…) dies hier anderen anzutun – vielleicht sogar freiwillig, begeistert, selbstgerecht. Vergeßt das nicht“.[21] Wenn die Fotos nicht bloß Affekte, sondern mindestens auch ein Nachdenken provozieren sollen, dürfen sie sich nicht nur auf ihren Gegenstand verlassen, sondern müssen auch durch ihre Bildsprache kommunizieren. So lehrt Lee Millers Werk eindrucksvoll: In einer Welt, in der fotografische Dokumente des Leidens anderer omnipräsent sind, binden ästhetisierte Bilder den Blick.
Fußnoten
- Lee Miller, Krieg: mit den Alliierten in Europa 1944–1945. Reportagen und Fotos, übers. von Andreas Hahn / Norbert Hofmann, Berlin 2015, S. 239.
- Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten [2003], übers. von Reinhard Kaiser, Frankfurt am Main 2017, S. 89.
- Vgl. ebd., S. 90.
- Ebd.
- Vgl. exemplarisch Karin Wieland, »Ein modernes Leben: Lee Miller 1907–1977« in: Lee Miller / Flora Falke (Hg.), Der Krieg ist aus: Deutschland 1945, Berlin 1995, S. 102–110.
- Miller, Krieg, S. 233.
- Elisabeth Bronfen, »Unsaubere Schnittflächen. Mit Susan Sontag den Krieg betrachten« in: Anna-Lisa Dieter / Silvia Tiedtke (Hg.), Radikales Denken: Zur Aktualität Susan Sontags, Zürich 2017, S. 195–218, hier S. 209.
- Ihre ersten Kriegsbilder indizieren, dass sie selbst sich diese Frage auch gestellt haben muss. Sie zeigen nämlich keine Körper, sondern reagieren auf die Bombenangriffe mit Symbolismus. So fotografiert sie Statuen in Trümmern („Rache an der Kultur“) oder zerstörte Schreibmaschinen („Remington Silent“).
- Sontag, Das Leiden anderer betrachten, S. 94.
- Vgl. ebd., S. 119.
- Bronfen, »Unsaubere Schnittflächen«, S. 210.
- Ebd.
- Sontag, Das Leiden anderer betrachten, S. 104.
- Paul Lowe, »Framing the Perpetrators: Lee Miller’s Photography of the Liberation of Dachau«, in: Journal of Perpetrator Research 2 (2019), 2, S. 216–223, hier S. 219.
- Sontag, Das Leiden anderer betrachten, S.119.
- Ebd., S. 144.
- Ebd., S. 146.
- Judith Butler, Krieg und Affekt, Zürich 2009, S. 66.
- Sontag, Das Leiden anderer betrachten, S. 146.
- Ebd., S. 136.
- Ebd., S. 134.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Nikolas Kill.
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