Nils C. Kumkar | Rezension |

Mit Marx gegen den Cultural Turn?

Rezension zu „The Class Matrix. Social Theory after the Cultural Turn“ von Vivek Chibber

Abbildung Buchcover The Class Matrix von Chibber

Vivek Chibber:
The Class Matrix. Social Theory after the Cultural Turn
USA
Cambridge, MA 2022: Harvard University Press
224 S., 31,50 EUR
ISBN 978-0-674-24513-6

In der internationalen wie auch in der deutschsprachigen Soziologie hatte in den vergangenen Jahren eines der zentralen Gründungsprobleme der Disziplin ein fulminantes Comeback: die über mehrere Dekaden in die Nischen der Klassiker:innenexegese und Disziplinhistorie verbannte Klassenfrage. Ihre thematisch ziemlich diffuse Wiederkehr beruft sich größtenteils auf die im globalen Norden zunehmende materielle Ungleichheit. Dazu gehört zum Beispiel die Literatur um Klassismus, die sich vor allem am Erleben sozialer Ungleichheit und der damit verbundenen Diskriminierung orientiert, genauso wie die in loser Anlehnung an Bourdieus Klassenbegriff formulierte Zeitdiagnose von Andreas Reckwitz, die in den vergangenen zwei Jahren intensiv diskutiert wurde.[1] Bemerkenswerterweise spielen der marxistische Klassenbegriff und mit ihm die Frage des Klassenantagonismus in der Debatte eine bisher eher randständige Rolle, dabei waren sie doch der Stein des Anstoßes der ‚klassischen‘ Klassendebatte. Vivek Chibbers The Class Matrix ist eine Streitschrift, die diesen Begriff und den Klassenantagonismus wieder ins Zentrum der Auseinandersetzung rücken will.

Den Begriff der „Streitschrift“ wähle ich dabei mit Bedacht: Es geht nicht darum, die theoretische Leistung des Buches herunterzuspielen, sondern darum, von vorneherein klar zu machen, worum es dem Autor geht. Das Buch soll einen klassenzentrierten analytischen Marxismus gegen den Cultural Turn in Stellung bringen – und weder die Debatte um Klasse in der Soziologie der vergangenen Jahre kommentieren noch einen eigenen Klassenbegriff entwickeln oder gar den Cultural Turn erklären. Sein Argument ist dementsprechend schlank und elegant.

Die Klassenstruktur des Kapitalismus hat gegenüber allen kulturellen Kontexten kausale Autonomie.

Die Klassenstruktur des Kapitalismus – in ihrer einfachsten Form verstanden als Trennung zwischen denen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um überleben zu können, und denjenigen, die diese Arbeitskraft kaufen (können), um damit Profite zu machen – hat gegenüber allen kulturellen Kontexten kausale Autonomie (S. 41). Salopp gesagt: Sie ist imstande, ihre Wirkung zu entfalten, egal was sich die Leute dazu denken. Alles soziale Handeln ist kulturell vermittelt, allerdings zwingt der stumme Zwang der Verhältnisse (Marx) alle Arbeiter:innen, die nicht ihren Lebensunterhalt, und alle Kapitalist:innen, die nicht ihr Unternehmen verlieren wollen, sich mit den Sachzwängen der Klassengesellschaft zu arrangieren und eben ihre Arbeitskraft zu verkaufen oder ihre Profite zu maximieren.

Die Theoretiker:innen des Cultural Turn haben Chibber zufolge also in ihrer Argumentation einen entscheidenden Fehler gemacht – nämlich aus der völlig richtigen Einsicht, dass alles nur kulturell vermittelt zum Gegenstand sozialen Handelns werden kann, den (Kurz-)Schluss zu ziehen, dass es keine kausale Wirkung von sozialen Strukturen jenseits kontingenter kultureller Interpretation geben kann. Im Prinzip läuft dies auf ein evolutionäres (ex-post funktionalistisches, wie es in der Regulationstheorie heißen würde[2]) Argument hinaus: Natürlich kann die Klassenstruktur nicht festlegen, wie sie kulturell gedeutet wird – wo sie aber einmal etabliert ist, sorgt sie dafür, dass diejenigen, die sie nicht funktionskompatibel deuten, aus ihr ausgeschlossen werden.

Dass die Arbeiter:innen beim Handel Arbeitskraft gegen Lohn strukturell den Kürzeren ziehen, ist dabei nichts, was ihnen aufgrund von kulturell geprägtem falschem Bewusstsein verborgen bliebe. Aber es ist in der Struktur der Klassengesellschaft angelegt, dass kollektiver Widerstand riskant und wenig erfolgversprechend ist, weshalb sich die meisten eher auf individuelle Strategien zurückziehen, um sich in dieser Situation zu behaupten. Die als rational choice der idealtypischen Arbeiter:in präsentierte Entscheidung gegen kollektive Formen des Widerstands, bei der sich Chibber explizit auf Offes und Wiesenthals klassischen Aufsatz bezieht (S. 63),[3] konstituiert den zweiten Kern seiner Kritik des Cultural Turn. Letzterer habe – so Chibber – seinen Appeal nicht zuletzt daraus bezogen, dass der vom klassischen Marxismus erwartete große Showdown zwischen Kapital und Arbeit ausgeblieben sei. Das aber, so Chibber, sei eben gerade kein Effekt einer ‚Kultur‘, die sich schützend über den ökonomischen Antagonismus gelegt habe, sondern gründe in der ökonomischen Struktur selbst. Dass sich Arbeiter:innen auf (z.B. ethnische oder geschlechtliche) Identitäten zurückzögen, die auf den ersten Blick wenig mit ihrer klassenstrukturellen Position zu tun hätten, sei kein Beleg für die durchschlagende Wirkung von Kultur. Vielmehr hätten wir es hier mit einem erwartbaren Ergebnis ihrer rationalen Interessenabwägung zu tun (S. 73 ff.), die ihnen nahelegt, nach Wegen zu suchen, sich gegenüber der Konkurrenz anderer Lohnarbeitender jeden Vorteil zu sichern, den sie sich sichern können.

Was Chibber dabei als Cultural Turn vor allem ins Visier nimmt, sind die – zunächst marxistischen, dann postmarxistischen – Theorien, die sich zumeist in der anglophonen Sozial- und Kulturwissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf Gramsci bezogen; oder vielmehr, so Chibber, auf eine Fehlinterpretation Gramscis. Deren Frage sei gewesen, wie gesellschaftliche Stabilität in einer antagonistisch gespaltenen Gesellschaft möglich ist. Indem die herrschenden Klassen ein kulturelles Arrangement als Konsens herstellten und aufrechterhielten, so die Antwort dieser (post-)marxistischen Theorien; deswegen war Kultur ja eine derart zentrale Kampfarena.[4] Gramsci aber habe Hegemonie nicht als kulturelle, sondern vielmehr als in letzter Instanz ökonomisch grundierte Vorherrschaft verstanden, bei der die Kapitalist:innen unter dem Druck einer organisierten Arbeiter:innenklasse materielle Zugeständnisse machten, um diese einzubinden. Hegemonie sei deshalb, so interpretiert Chibber Gramsci, der Ausnahmefall: Nur wo das kapitalistische Wachstum stark genug ausfiele, dass es einen Kuchen aufzuteilen gäbe, und wo die Arbeiter:innenklasse so starke Organisationen aufgebaut hätte, dass sie befriedet werden müsse, da sei Konsens überhaupt eine Strategie der herrschenden Klassen. Wo beides nicht der Fall sei – und das sei eben sowohl logisch als auch historisch und geografisch die Norm –, da wäre Resignation der Beherrschten die sehr viel wahrscheinlichere Form der Befriedung des sozialen Antagonismus (S. 106 ff.).

Es sei gerade keine theoretische, sondern eine empirische Frage, wieviel Handlungsmacht Akteuren in unterschiedlichen Situationen eigentlich zukomme.

Bewaffnet mit dieser Kernargumentation greift Chibber einen Schlüsseleinwand vieler Poststrukturalist:innen und Praxeolog:innen gegen marxistische Theorie auf – namentlich, dass diese keinen Raum für Kontingenz und Handlungsmacht reserviere. Das sei, so Chibber, nicht nur falsch, es lenke auch davon ab, dass es gerade keine theoretische, sondern eine empirische Frage sei, wieviel Handlungsmacht Akteuren in unterschiedlichen Situationen eigentlich zukomme. Das Buch schließt mit einer sehr kurzen Skizze des Aufstiegs und Falls der sozialistischen Linken im 19. und 20. Jahrhundert, die Chibber zur Demonstration seiner Theorie nutzt: Die kollektiven Organisationsformen, die in der zweiten Hälfte des 19. und in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts kontingenterweise begünstigt worden waren, seien mit der Verlangsamung des Wirtschaftswachstums ab den 1970er-Jahren unter Druck geraten, was den theoretisch erwartbaren Hindernissen gegenüber kollektiven Organisationsformen wieder zum Durchschlag verhalf. Dies sei bis heute prägend für die Klassenstruktur, wobei Chibber aus seiner Hoffnung, dass sich dies auch wieder ändern ließe, keinen Hehl macht. Zugleich gibt er sich aber ob der Schwierigkeit dieses Unterfangens keinen Illusionen hin.

Es ist bei einem Buch, das einen derart umfassenden Erklärungsanspruch auf derart wenigen Seiten einlösen will – zu allem Überfluss noch bei einem Thema, das von Beginn der soziologischen Disziplin an die Diskussionen bestimmt hat – nicht verwunderlich, dass vieles nicht zu Sprache kommt. Den Titel The Class Matrix. Social Theory after the Cultural Turn hätte man ja zum Beispiel genauso gut (vielleicht sogar besser) einem Großteil des Werkes von Pierre Bourdieu geben können, dessen international enorm einflussreiche Überlegungen zur Klassentheorie Chibber aber nirgendwo adressiert.[5] Der Cultural Turn erscheint, so wie sich Chibbers Buch daran abarbeitet, eher als Karikatur denn als kohärent rekonstruiertes Paradigma. Dies ist der Kürze und Einfachheit des Buches bei gleichzeitiger Komplexität des Gegenstands geschuldet. Aber wenn Chibber die theoretische Leistung der Dialektik der Aufklärung auf die Frage reduziert, wie die Kulturindustrie die Arbeiter:innenklasse befriedet hätte (S. 82), baut er den Cultural Turn doch allzu offensichtlich als Strohmann auf.

Aber auch gemessen am eigenen Anspruch, eine materialistische Klassentheorie nach dem Cultural Turn zu formulieren, sind Lücken zu konstatieren. So zitiert das Buch zwar das Basis-Überbau-Schema in vorsichtigen Anführungszeichen (z.B. S. 83), allerdings ohne die Kritik, die dabei mitschwingt, wirklich auszuformulieren. Zugleich reproduziert der Gegensatz von Struktur und Kultur, mit dem Chibber stattdessen operiert, bei näherer Betrachtung genau dieses Schema in erkenntnistheoretisch wenig elaborierter Form - und an entscheidenden Punkten geradezu voluntaristisch.[6]

Am Ende spielt nämlich ausgerechnet die Kultur die Rolle des deus ex machina gegenüber den deterministischen Strukturen der Ökonomie – wenn auch über den Umweg der Organisationskultur. Gerade Marxist:innen hatten die Entwicklungsdynamiken des Kapitalismus in der Debatte um die Klassenstruktur mindestens so prominent diskutiert wie die Frage der Kultur – man denke nur an den Streit um Imperialismus und Arbeiter:innenaristokratie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aber auch an die Periodisierungsfragen der Regulationstheorie oder den Evergreen des tendenziellen Falls der Profitrate. Weil Chibber all dies nicht einmal erwähnt, bleibt ihm als einzige Variable, die den Gang der Geschichte beeinflusst, das Organisationsgeschick der Arbeiter:innenklasse. Und so könnte die Geschichte der Linken bis zum Ende des Fordismus, die ja eigentlich Prüfstein der Theorie sein soll, gerade als Demonstrationsstück für alles gelesen werden, was das Buch ausklammert: kontingente Bedingungen für Organisation, den Kampf um Organisationsmodelle und die Verbindung zur Klassenlage, internationale Arbeitsteilung, die Entwicklung der Profitraten, ungleiche sektoriale und geografische Entwicklung etc.

Nun schließt das schlanke Klassenmodell, das Chibber seinen Überlegungen zugrunde legt, keinesfalls aus, die genannten Themen systematisch einzubeziehen – dies führt jedoch unweigerlich zu sehr viel komplexeren Fragen in den Debatten über den Marxismus. Das Buch hat, auch aufgrund seiner klaren und luziden Argumentationsweise, definitiv das Potenzial, genau zu diesen steinigen Gefilden einen niedrigschwelligen und trotzdem streitbaren Zugang zu ermöglichen. Zu wünschen wären ihm darum vor allem Leser:innen, die bisher davor zurückgeschreckt sind, sich mit Fragen der marxistischen Klassentheorie zu befassen, weil sie ihnen überholt, kompliziert oder paternalistisch schien: All das ist dieses Buch nicht.

  1. Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019. Kritisch hierzu Nils C. Kumkar / Uwe Schimank, Die Mittelschichtsgesellschaft als Projektion. Wie soziologische Zeitdiagnose gesellschaftliche Selbstbilder nachzeichnet und dabei ihren Gegenstand verfehlt, in: Merkur 76 (2022), 872, S. 22–35; sowie zahlreiche Beiträge in Leviathan 49 (2021), 1–4.
  2. Alain Liepitz, Kette, Schuss und die Regulation. Ein Werkzeug für die Sozialwissenschaften, in: ders., Nach dem Ende des „Goldenen Zeitalters“. Regulation und Transformation kapitalistischer Gesellschaften, hrsg. von Hans-Peter Krebs, Berlin 1998, S. 77–115, hier S. 81.
  3. Claus Offe / Helmut Wiesenthal, The Two Logics of Collective Action. Theoretical Notes on Social Class and Organizational Form, in: Political Power and Social Theory 1 (1980), S. 67–115. Der andere klassische Ansatz des analytischen Marxismus, den kundige Leser:innen vielleicht schon vermutet hatten und auf den Chibber sich ebenfalls explizit bezieht, ist Gerald A. Cohen, Restrictive and Inclusive Historical Materialism, in: ders., History, Labor, and Freedom. Themes from Marx, Oxford 1988, S. 155–179.
  4. Damit bezieht sich Chibber offensichtlich auf einen sehr schmalen Bereich dessen, was gemeinhin als Cultural Turn verstanden wird. Er gesteht ja durchaus zu, dass nicht alle derjenigen Autor:innen, die sich zentral auf Gramsci bezogen, dieser kulturalistischen Lesart zustimmen würden (S. 93).
  5. Dass er auch auf Erik Olin Wrights (dessen Andenken das Buch immerhin gewidmet ist) Revision des Klassenbegriffs nicht eingeht, irritiert allerdings.
  6. Chibber grenzt sich in seiner Diskussion verschiedener Strukturtheorien vom Strukturfunktionalismus ab und macht demgegenüber ein kausales Verständnis von Strukturen stark, die ihre Wirksamkeit entfalten würden, indem sie die Wünsche und Ziele von Akteur:innen so vorstrukturierten, dass sie sich über deren bewusste und rationale Handlung reproduzierten. Dabei kommt es einmal zu einem aufschlussreichen Buchstabendreher: Chibber bezeichnet sein Verständnis als „casual“ (also: lässige) Strukturtheorie (S. 125). Das trifft es durchaus. So mokiert sich Chibber über Engels’ tautologische Ausführungen zum Basis-Überbau Modell, nach dem die Basis den Überbau determiniere, es sei denn sie tue es nicht (S. 187, EN 6). Aber gilt das mutas mutandis nicht genauso für Chibbers Modell der kausalen Autonomie der Klassenstruktur, die die Kultur eben nur dann determiniert, wenn sie es tut?

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Arbeit / Industrie Gesellschaftstheorie Gruppen / Organisationen / Netzwerke Kapitalismus / Postkapitalismus

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Nils C. Kumkar

Nils C. Kumkar ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am SOCIUM – Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen. Seine Forschungsgebiete sind qualitative Methoden und Gesellschaftstheorie, mit Fokus auf sozialer Ungleichheit, Protest und Kritik. (© Falk Weiss)

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