Nadine Jukschat | Rezension | 06.04.2021
Mittendrin statt nur dabei
Rezension zu „'Ich war mal so herzlinks' – Politisierung in der Adoleszenz. Eine biographische Studie“ von Jessica Lütgens
Nicht nur als wissenschaftliches Ringen um Erkenntnis beschreibt Jessica Lütgens im Vorwort den Entstehungsprozess ihrer Studie, „sondern ebenso sehr [als] eine Reflexion meiner eigenen persönlichen, politischen und akademischen Biographie“ (S. 5). Damit präsentiert sie sich als Forscherin, die ihrem Forschungsfeld – der politischen Linken – „nahesteht“ (S. 53) und die ihre eigene Verortung sichtbar macht. Eine involvierte Forscherinnenposition geht meist mit hoher Feldkenntnis einher und auch Lütgens eröffnet sie einen privilegierten Zugang zu einem herausfordernden Forschungsfeld, wovon die Arbeit sichtbar profitiert. Sie erzeugt aber – dem hohen Grad an (Selbst‑)Reflexivität der Autorin zum Trotz – auch hier und da blinde Flecken.
Aber der Reihe nach. Ausgangspunkt der Arbeit ist die Frage, „wie es kommt, dass junge Menschen politisch aktiv werden“ (S. 10). Zwar gilt Jugend als Phase von besonderer Relevanz für politische Sozialisation und das Verhältnis von Jugend und Politik wird gesellschaftlich wie auch wissenschaftlich viel diskutiert: Je nach zeitdiagnostischer Wetterlage scheint die junge Generation mal politikverdrossen, mal pragmatisch und mal radikal. Die Untersuchung, wie sich Politisierung biografisch und in Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen vollzieht, stellt jedoch ein Forschungsdesiderat dar, dem sich Lütgens nun widmet. Dabei erweist sie sich als disziplinäre Grenzgängerin, die Ansätze der Lebenslauf-, Bildungs-, (politischen) Sozialisations- und Biografieforschung fruchtbar verknüpft. Die theoretischen Perspektiven überführt sie sodann in ein Politisierungskonzept, das „beschreibt, wie sich Individuen aus ihrer Lebenswelt heraus politischen Kollektiven anschließen und beginnen, sich als politische Subjekte in die Öffentlichkeit hinein zu artikulieren“ (S. 50). Damit konzentriert sich die Autorin auf die Hinwendung zu sozialen Bewegungen, Szenen und Organisationen, das heißt auf (wenn auch zum Teil eher lose) organisierte Formen politischer Artikulation. Weniger Aufmerksamkeit hingegen erhalten individuelle Prozesse der Aneignung politischer Positionen und Formen politischer Artikulation, die nicht mit einer Einbindung in politische Kollektive einhergehen. Gleichzeitig konzeptualisiert Lütgens Politisierung als komplexen Prozess, der einerseits „von politischer Sozialisation und Kontextbedingungen wie Diskursen, Ideologien, Institutionen, soziohistorischen Ereignissen und gesellschaftlichen Verhältnissen beeinflusst wird“ (ebd.) und in dem sich andererseits ein handlungsfähiges Subjekt „Selbst und Welt mittels Politik aneignet“ (ebd.). Als konkreten Untersuchungsgegenstand wählt Lütgens „die Politisierung junger Erwachsener in der politischen Linken“ (S. 15).
Die empirische Basis der Arbeit bilden 14 narrative Interviews mit jungen Menschen, „die sich selbst als links und politisch aktiv verorten“ (S. 12), wobei auch hier der konzeptionelle Fokus auf politische Kollektive durchschlägt: Das Sampling erfolgte über von der Autorin als „links“ identifizierte Orte und Organisationen. In der Auswertung kombiniert sie die biografische Fallrekonstruktion nach Rosenthal mit der theorieorientierten Fallrekonstruktion nach Miethe (S. 74 ff.). Ausgehend von Einzelfallstudien, von denen sie im Ergebnisteil zunächst vier kontrastierende Fälle auswählt und diese plausibel rekonstruiert vorstellt, entwickelt Lütgens im nächsten Schritt verschiedene Vollzugsaspekte von Politisierung in der Adoleszenz, die sie schließlich zu zwei Idealtypen adoleszenter Politisierungsbiografien verdichtet:
Der erste Typus, „Politisierung als radikale Transformation durch Bewältigung von Betroffenheit“ (S. 172), zeichnet sich dadurch aus, dass die Interviewpartner*innen ihre Lebensgeschichten als „radikal beendete Leidens- und Konversionsgeschichten“ (ebd.) präsentieren. Den Ausgangspunkt bilden unmittelbare Gewalt- und Ausgrenzungserfahrungen im Sinne eines leidvollen „Nicht-Mitmachen-Könnens“ (S. 154), die im Zuge der Politisierung aktivistisch gewendet werden, indem die Protagonist*innen nicht (mehr) individuelle Problemkonstellation fokussieren, sondern die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Bedingungen adressieren. Eine wichtige Rolle kommt dabei politischen Kollektiven zu, zumeist eingebettet in Szenen, in denen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen Anerkennung und Fürsorge erfahren, Wehrhaftigkeit herstellen und ihre Lebenswelt über institutionalistisch-politische Artikulationen verändern können (S. 156–161). Mithilfe der Kollektive transformieren sie ihr „Nicht-Mitmachen-Können zu einem selbstbewussten Nicht-Mitmachen-Wollen“ (S. 173). Der erste Typus neigt zu radikalen, systemkritischen Artikulationen. Das Aktivwerden wird in den Interviews als Wendepunkt beschrieben, durch den sich der biografische Möglichkeitsraum radikal transformiert, was alternative Zugänge zu formaler Bildung einschließt und typischerweise mit formalen Bildungsaufstiegen einhergeht. Politik entwickelt sich in diesem Typus zum zentralen Orientierungspunkt der Identitäts- wie auch der prospektiven Lebensentwürfe.
Strukturbildend für den zweiten Typus, „Politisierung als graduelle Transformation durch Empfänglichkeit für Aspirationen“ (S. 174), hingegen ist, dass die Jugendlichen bereits eine „familial vermittelte Empfänglichkeit für Ungleichheit und Aspirationen in Bildung und Politik“ (S. 174) besitzen. Anders als beim ersten Typus können die hierzu gerechneten Personen auf familiale sowie soziale Ressourcen und eine stabile Position in ihren Gemeinschaften zurückgreifen. Vor diesem Hintergrund intervenieren sie anwaltschaftlich oder artikulieren Protest angesichts allgemein oder auch konkret wahrgenommener Ausgrenzung, Diskriminierung und Ungerechtigkeit. Der zweite Typus neigt zu gemäßigten, gesellschaftlich anerkannten und konformen politischen Artikulationen und engagiert sich in politischen Kollektiven, die eher institutionalisierte Formen haben. Politisierung erfolgt hier eher als kontinuierlicher Prozess. Ähnlich graduell weiten sich durch den politischen Einsatz vorhandene und familial angedeutete Möglichkeitsräume hin zu einer größeren Pluralität an Identitäts- und Lebensentwürfen aus. Politik kann in diesem Typus ein ähnlich starker Wegweiser für den Übergang ins Erwachsenleben sein wie im ersten Idealtyp oder aber als ein Baustein der Identität neben anderen fungieren.
In den beiden abschließenden Kapiteln bettet Lütgens ihre Befunde in den Forschungsstand ein und unternimmt den Versuch einer weiteren Theoretisierung. Spätestens hier drängt sich aufmerksamen Leser*innen zunehmend die Frage auf, welches Erkenntnisinteresse und welchen (Generalisierungs-)Anspruch Lütgens mit ihrer Studie verfolgt: Steht mit der Fokussierung auf linkspolitische Politisierung das Ziel im Zentrum, die Zusammenhänge genuin linker Politisierungsprozesse zu erhellen? Oder geht es vielmehr darum, Politisierung in der Adoleszenz allgemein, jedoch exemplarisch am Beispiel linker Politisierung, zu untersuchen? Lütgens’ theoretisierende Überlegungen weisen an zahlreichen Stellen über den engen Gegenstandsbezug spezifisch linker Politisierung hinaus. So konzeptualisiert sie etwa Politisierung in der Adoleszenz im Rekurs auf das Konzept der „Lebensbewältigung“[1] als zunehmend politisch gerahmtes Bewältigungshandeln und deutet sie aus bildungstheoretischer Perspektive als einen biografischen wie auch politischen Sozialisations-, Übergangs- und Bildungsprozess. Gleichzeitig bleiben linke Motive ein wichtiger Bezugspunkt, etwa wenn die Autorin Politisierung im Abschlusskapitel noch einmal pointiert zusammenfasst als „politische Modulation eines Bewältigungshandelns, welches danach strebt, Handlungsmacht herzustellen sowie die gesellschaftliche Notwendigkeit der Bewältigung prekärer und krisenhafter Lebenslagen an sich abzuschaffen“ (S. 202). Bisweilen entsteht der Eindruck, dass Politisierung für Lütgens die politisch linke Orientierung impliziert und nur (normativ) emanzipatorisch zu denken ist. An keiner Stelle wagt die Autorin auch nur den gedankenexperimentellen Vergleich in andere politisch-weltanschauliche Settings. Können die Befunde analog für religiös motivierte adoleszente Politisierungsprozesse gelten? Wie verhält es sich mit rechts(-extrem) orientierten Personen, deren politische Artikulationen auf eine Überwindung der Demokratie zielen? Dass die Arbeit diese Fragen weder aufruft noch diskutiert, markiert ihren zentralen blinden Fleck, der vermutlich gerade darin begründet liegt, dass Lütgens ihrem Forschungsfeld nahesteht.
Ihre persönliche Verortung im Forschungsfeld sensibilisiert Lütgens wiederum für die Problematik von Studien, die mit den Konzepten des „Linksextremismus“ und der „Hufeisentheorie“ im Rahmen der Extremismusforschung operieren. Sehr lesenswert sind ihre hieraus resultierenden forschungsethischen Implikationen, denen sie im Methodenkapitel viel Raum gibt. Sie reichen von eher technischen Datenschutzfragen bis hin zu Überlegungen, wie kritische und zugleich verantwortungsvolle Forschung in einem politisierten Feld gelingen kann (Kap. 4.3). Wie aber könnte – aus Lütgens’ kritischer Forschungsperspektive – eine alternative Konzeptualisierung radikaler linker Artikulationen aussehen? Eine Antwort darauf bleibt das Buch schuldig angesichts des Anliegens der Autorin, sich „sowohl einer normativen und polarisierenden Darstellung politisch Linker als homogene, gewaltaffine und klandestine Extremist_innen und gesellschaftlicher Randgruppe entgegenzustellen als auch selbst- und fremdexkludierende Praktiken der politischen Linken kritisch zu betrachten“ (S. 64). Anstatt einen Sammelband zu ‚linker‘ Militanz im Jugendalter[2] gänzlich auszuklammern, wäre eine kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten solcher Forschungsarbeiten wünschenswert gewesen, nicht zuletzt weil Forschung zu linker Politisierung insgesamt, wie Lütgens selbst konstatiert, rar ist.
Die Monografie ist dieser kritischen Anmerkungen zum Trotz ein sehr lesenswerter Text, der wichtige Impulse für eine bis dato stark quantitativ ausgerichtete Untersuchung der politischen Beteiligung Jugendlicher liefert. Hervorzuheben sind insbesondere das Plädoyer für eine stärker prozessorientierte Perspektive, die Politisierung als ein fortwährendes Werden begreifbar macht sowie der Impuls, affektive und latente Aspekte politischer Sozialisation stärker zu berücksichtigen. Lütgens’ Sicht auf adoleszente Politisierung lässt sich auch in die Debatten und Praxis der politischen Bildung und Demokratieförderung einordnen, wie sie zuletzt beispielweise der 16. Kinder- und Jugendbericht sichtbar macht, der sich der Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter widmet.[3] Lütgens rezipiert den pädagogischen Fachdiskurs in ihrer Arbeit allerdings nicht, ansonsten wäre ihr womöglich bewusst gewesen, dass sie mit ihrer Empfehlung, in politischer Bildung an die Lebenswelt der jugendlichen Adressat*innen anzuknüpfen und „sie dabei zu unterstützen, Verbindungen zwischen ihrer Lebensgeschichte, Gesellschaftsgeschichte und Politik zu erkennen“ (S. 216), in diesem professionellen Feld weit geöffnete Türen einrennt.
Fußnoten
- Lothar Böhnisch / Werner Schefold, Lebensbewältigung. Soziale und pädagogische Verständigungen an der Grenze der Wohlfahrtsgesellschaft, Weinheim/München 1985.
- René Schultens / Michaela Glaser (Hg.), ‚Linke‘ Militanz im Jugendalter. Befunde zu einem umstrittenen Phänomen, Halle 2013.
- BMFSFJ (Hg.), 16. Kinder- und Jugendbericht. Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter, Berlin 2020.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Bildung / Erziehung Familie / Jugend / Alter Gruppen / Organisationen / Netzwerke Politik
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