Raphael Rössel | Rezension |

Mut zur Synthese

Rezension zu „Was ist Behinderung? Abwertung und Ausgrenzung von Menschen mit Funktionseinschränkungen vom Mittelalter bis zur Postmoderne“ von Christoph Egen

Christoph Egen:
Was ist Behinderung? Abwertung und Ausgrenzung von Menschen mit Funktionseinschränkungen vom Mittelalter bis zur Postmoderne
Deutschland
Bielefeld 2020: Transcript
S. 266, EUR 49,00
ISBN 978-3-8376-5333-5

Auch nach der Lektüre von Christoph Egens Dissertation bleibt die titelgebende Frage „Was ist Behinderung?“ unbeantwortet. Grund dafür ist jedoch nicht etwa eine mangelnde Analyseleistung, sondern die irreführende Überschrift des Buches. Der Autor – so stellt der Untertitel klar – begibt sich gerade nicht auf die Suche nach einem statischen oder gar transhistorischen Wesenskern des gestaltwandlerischen Phänomens „Behinderung“. Vielmehr untersucht und vergleicht Egen epochenspezifische Regelhaftigkeiten der Abwertung und Anerkennung kognitiv oder körperlich beeinträchtigter Menschen. Mit seinem ebenso historisch informierten wie theoretisch ambitionierten Blick auf Behinderung leistet Egen im deutschsprachigen Raum Pionierarbeit. Bislang dominierten in den Disability Studies teils rigise voneinander abgegrenzte Modelle,[1] deren empirische Erdung die (historische) Forschung allerdings vernachlässigte.

Aufgrund der enormen Größe des vom Mittelalter bis in die Postmoderne reichenden Untersuchungszeitraums stößt Egens Studie schnell auf ein Grundproblem, das aus der Randständigkeit des Phänomens Behinderung in den Geschichts- und Sozialwissenschaften erwächst (S. 18). Ein Syntheseprojekt auf Grundlage der wenigen existierenden Fallstudien und Überblickswerke erscheint eigentlich verfrüht. Denn abgesehen von einzelnen Pionierwerken blicken historisch orientierte Disability Studies in Deutschland erst auf ein gutes Jahrzehnt an Forschungstätigkeit zurück. Tiefenbohrungen liegen nur sehr vereinzelt vor; das 19. Jahrhundert ist besonders untererforscht.[2] Hinzu kommt, dass der Autor leider zentrale neuere Studien vielfach übergeht.[3] Egens Verdienst liegt dagegen auch auf strategischer Ebene, denn seine Studie ist im Kern ein Plädoyer dafür, wohlgepflegte Grenzziehungen zwischen Disability Studies und den Medizin- und Humanwissenschaften zu überwinden, die auf gegenseitigen Vorwürfen eines reduktionistischen Bicks auf „Behinderung“ beruhen.

In der Einleitung steckt Egen in einem weiten Bogen das Feld ab, in dem seine Studie angesiedelt ist. Den Anfang macht ein Abriss akademisch gängiger Behinderungsmodelle. Die Entwicklungslinie der theoretischen Auseinandersetzung mit Behinderung spiegelt, wenn auch zeitlich versetzt, Paradigmenwechsel bei der Erforschung anderer Differenzkategorien – allen voran Geschlecht. Gegen das sogenannte medizinische Modell, das Behinderung als diagnostizierbares Individualdefizit fasst, entwickelten britische Aktivisten und Sozialwissenschaftler*innen ab den 1970er-Jahren ein soziales (Gegen-)Modell, das Behinderung als gesellschaftliches Unterdrückungsverhältnis deutet. Dekonstruktivistisch orientierte Disability Studies Scholars wie Anne Waldschmidt hingegen weisen seit den 1990er-Jahren auf die grundlegende Bedeutung kultureller Zuschreibungsprozesse für die Konstruktion der binären Kategorien Nicht-Behinderung/Behinderung hin. Egens Forschungsüberblick endet mit der seit 2001 von der WHO verwendeten, multifaktoriellen International Classification of Functioning, Disability and Health. Die ICF-Klassifikation stellt in gewisser Weise eine praxisbezogene, zwischen kulturellen, gesellschaftlichen und individuellen Aspekten vermittelnde Synthese dar. Bei aller durch den Praxisbezug gebotenen Pragmatik besteht für Egen jedoch ein fundamentaler, nicht auszumerzender Unterschied zwischen den drei Herangehensweisen, da sie Behinderung bereits begrifflich unterschiedlich fassten (S. 42).

Egen unterscheidet zwischen individueller Beeinträchtigung, bei ihm „Funktionseinschränkung“, und der aus Abwertungsprozessen resultierenden „Behinderung“. Eine epochenspezifische Beschreibung und Analyse dieser „Behinderungsprozesse“ sind das hochgesteckte Ziel der Arbeit (S. 60). Dazu leiht sich Egen das prozesssoziologische Instrumentarium von Norbert Elias, dessen veröffentlichte Schriften er um Bestände aus dem Marbacher Nachlass ergänzt. Die Anlehnung an Elias nimmt sich stellenweise zu unkritisch aus, beispielsweise wenn Egen durchgehend dessen zivilisationstheoretische Deutungen der Moderne affirmiert (S. 109–113). Darüber hinaus übernimmt der Autor Elias’ Unterscheidung zwischen einer an Strukturen interessierten Soziologie und einer vermeintlich einzelfallfixierten Geschichtswissenschaft (S. 72), obwohl diese apodiktische Trennung weder in den 1970er-Jahren, als Elias sie postulierte, noch im Jahr 2020 den state of the art beider Fächer treffend beschreibt. Die Vorteile des prozesssoziologischen Ansatzes für einen epochenübergreifenden Vergleich arbeitet Egen indessen plausibel heraus: Er ermöglicht es, gesellschaftliche Machtverhältnisse nicht statisch, sondern in ihrer Dynamik und Wandlungsfähigkeit zu analysieren und zu vergleichen (S. 70).

Die Suche nach Regelhaftigkeiten von Behinderungsprozessen führt Egen zufolge mit Blick auf das Mittelalter ins Leere. Seine Grundthese, dass sich bis ins 17. Jahrhundert keine systematische und standardisierte Abwertungsform etablieren konnte, überzeugt im Großen und Ganzen. Gebrechlichkeit sei ein stets präsenter Teil des mittelalterlichen Alltagslebens gewesen. Viele fürchteten „Behinderung“ weniger aus Angst vor der rein physischen Funktionseinschränkung, sondern aufgrund der mit ihr einhergehenden Stigmatisierung: Da bei Verbrechen nicht selten verstümmelnde Körperstrafen ausgesprochen wurden, waren Versehrte äußerlich als Delinquenten gebrandmarkt; „Aussätzige“ hatten bestimmte Kleidung und laute Klappern zu tragen und waren damit von weitem erkenn- und hörbar. Die christliche und pagane Vorstellung, körperliche Abweichung sei eine Strafe für Elternsünde („Versehen“), kontrastiert Egen mit der im Mittelalter ebenso verbreiteten Überzeugung, es handle sich bei selbiger um das Resultat göttlicher Wunderwirkung. Doch in gewisser Weise verschließt Egen auch die Augen vor dem ambivalenten Umgang mit Behinderung im Mittelalter. So lassen sich viele erst später systematisierte Ausgrenzungsinstitutionen wie die Leprosorien bereits in vormodernen Zeiten nachweisen. Wahrscheinlich hätte sich ein genauerer Blick gelohnt und eine Betrachtung der Frühen Neuzeit als eigenständiger Epoche differenziertere Ergebnisse zutage gefördert. Allerdings hätte eine solche Nahsicht Egens Totale gebrochen und den von ihm konstatierten Kontrast zwischen Moderne und Mittelalter weichgezeichnet.

Im folgenden Kapitel reproduziert Egen das wohlbekannte Narrativ vom vermessungs- und kontrollwütigen bürgerlichen Zeitalter. Dem zugrunde liegt das schlüssige Kernargument, dass in der Moderne, die hier vom Beginn des 18. Jahrhundert bis ins Jahr 1950 datiert wird, menschliche Körper durch Standardisierungs- und Verwissenschaftlichungsprozesse zunehmend normiert wurden. Die Statistifizierung des Sozialen und die Medikalisierung des Moralischen, als deren Vordenker und Stichwortgeber Egen Carl Friedrich Gauß, Adolphe Quetelet und Cesare Lombroso anführt, ebneten den Weg zur physischen Separierung der kognitiv und körperlich Abweichenden. Dieser Paradigmenwechsel war, so Egen, auch Voraussetzung für Eugenik, „Rassenhygiene“ und „Euthanasie“. Die Devianzen hätten allerdings auch exotisierende Faszination hervorgerufen, die in sogenannten „Freak Shows“ ihren Ausdruck fand. Funktionseinschränkungen unterliefen Egen zufolge ferner das bürgerlich-protestantische Ethos der Selbstkontrolle und Verwertbarkeit in der industriellen Moderne. Die faktischen Handlungsmöglichkeiten behinderter Menschen bleiben in dieser Meistererzählung jedoch bedauerlicherweise im Dunkeln. Zwar hebt Egen den hohen Organisationsgrad blinder Menschen hervor, die er als eine der ersten sich selbst vertretenden Gruppen behinderter Menschen ausmacht (S. 151). Doch diese Spur verfolgt er nicht weiter.[4] Die Selbstbilder, die sich behinderte Menschen vor den 1970er-Jahren schufen, klammert Egens Studie aus.

Der für die Moderne herausgearbeiteten Reglementierung von Verhaltensweisen und der Normierung von Körperidealen stellt der Autor im Folgenden Jürgen Links Konzept des „flexiblen Normalismus“ gegenüber. Die auf Eindeutigkeit basierenden Normalitätsvorstellungen der Moderne seien seit der Nachkriegszeit einer mehrdeutigen, aber keineswegs weniger wirkmächtigen Normalität gewichen. Egen zufolge würden Normierungsprozesse in der Postmoderne nicht mehr durch äußere Instanzen kontrolliert, sondern verlagerten sich ins Subjekt selbst. Auf überzeugende Weise legt er dar, wie ein Selbstzwang, den eigenen Körper in Form zu halten und zu optimieren, postmoderne Menschen prägt. Dabei verpasst es Egen allerdings, jüngere Analysen post- oder spätmoderner Körperbeziehungen, zum Beispiel Jürgen Martschukats ähnlich konturiertes Zeitalter der Fitness,[5] miteinzubeziehen. Der Postmoderne attestiert er derweil einen maßgeblich von der Behindertenbewegung erkämpften Zuwachs an Partizipationsmöglichkeiten behinderter Menschen (S. 182). Doch die stetig voranschreitende sozial- und völkerrechtliche Gleichstellung behinderter Menschen korrespondiere nicht notwendigerweise mit ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz – oder prozesssoziologisch: „Psychogenetisch hinkt der postmoderne Mensch der soziogenetischen Entwicklung der Enthinderungsprozesse folglich hinterher.“ (S. 220)

Viel Raum nimmt in Egens Buch die Kontroverse um vorgeburtliche Diagnostik ein. Dabei möchte er die Frage, ob Pränataldiagnostik, Selektionsdenken und Behindertenfeindlichkeit verwoben sind, nicht abschließend beantworten. Stattdessen greift er, ohne explizit darauf hinzuweisen, Kirsten Achteliks zwischen Behinderten- und Frauenbewegungen vermittelnde Position auf und plädiert für Multiperspektivität in Bioethik und Biomedizin.[6]

Abschließend rekapituliert Egen die epochenspezifischen Charakteristika historischer Behinderungsprozesse: unsystematische, affektive Reaktionen im Mittelalter; institutionalisierte Ausgrenzung in der Moderne; institutionalisierte Enthinderung und de-institutionalisierte Ausgrenzung in der Postmoderne. Die Studie endet mit einem Plädoyer für die verstärkte Förderung der gesellschaftlichen Inklusivität. Dafür brauche es eine sozialpolitische Wende. Ein konkretes Vehikel erblickt Egen im bedingungslosen Grundeinkommen (S. 236), mit dem er die Hoffnung verbindet, es könne die Bedeutung ökonomisch verwertbarer Fähigkeiten verkleinern.

Egens Buch ist ein wertvoller und elegant verfasster Beitrag zur Theoretisierung der historischen Regelhaftigkeiten von Behinderungsprozessen. Der Disability Historian kann viele Stellen benennen, an denen Egens Synthese Ambivalenzen ausblendet und wichtige Forschungsliteratur übergeht. Allerdings füllt Egens Prozesssoziologie eine hausgemachte Lücke der Geschichtswissenschaft, die diachrone Epochenvergleiche scheut. Letztlich mahnt seine Studie, bei allem empirischen Forschungseifer die langen Linien der Geschichte nicht aus dem Blick zu verlieren.

  1. Einen konzisen Überblick über Fragen der Theorie- und Modellbildung verspricht Anne Waldschmidt, Disability Studies zur Einführung, Hamburg 2020.
  2. Gabriele Lingelbach, Behindert/Nicht Behindert. Disability History, in: Aus Politik und Zeitschichte 63 (2018), 38/39, S. 37–41, hier S. 41.
  3. Zum Beispiel zur Behindertenbewegung: Jan Stoll, Behinderte Anerkennung? Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderungen in Westdeutschland seit 1945, Frankfurt am Main 2017; zur Reproduktionsdebatte Britta-Marie Schenk, Behinderung verhindern. Humangenetische Beratungspraxis in der Bundesrepublik Deutschland (1960er bis 1990er Jahre), Frankfurt am Main 2016; Dagmar Herzog, Unlearning Eugenics. Sexuality, Reproduction, and Disability in Post-Nazi Europe, Madison 2018.
  4. Den Aktivismus der Gehörlosenbewegung untersuchte Ylva Söderfeldt, From Pathology to Public Sphere. The German Deaf Movement 1848–1914, Bielefeld 2013.
  5. Jürgen Martschukat, Das Zeitalter der Fitness. Wie unser Körper zum Zeichen für Erfolg und Leistung wurde, Frankfurt am Main 2019.
  6. Kirsten Achtelik, Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung, Berlin 2015

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Jakob Borchers, Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Körper Gender Geschichte

Raphael Rössel

Raphael Rössel ist Disability Historian und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er promoviert im DFG-Projekt „,Behinderte‘ Familien? Aufgabenverteilung und Rollenzuweisungen im Alltag westdeutscher Familien mit behinderten Angehörigen zwischen 1945 und den 1980er Jahren“. In seiner Arbeit untersucht er den Wandel familiärer Pflegearrangements mit behinderten Kindern sowie die Handlungsspielräume Pflegender und Gepflegter. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der Disability History, der Care History, der Geschichte populärer Kulturen und der Geschlechtergeschichte.

Alle Artikel

PDF

Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.

Empfehlungen

Florian Schmidt

Mit Lee Miller das Leiden anderer betrachten

Wie Fotografien Gewalt und Kriegsgeschehen dokumentieren

Artikel lesen

Angela Wegscheider

Visionen und Frustrationen im sozialistischen Umgang mit Behinderung(en)

Rezension zu „Re/imaginations of Disability in State Socialism. Visions, Promises, Frustrations“ von Kateřina Kolářová und Martina Winkler (Hg.)

Artikel lesen

Martin Bauer, Jens Bisky

Die Eugenik verlernen

Bericht zu den Adorno-Vorlesungen „Eugenische Phantasmen: Behinderung, Macht, Moral“ von Dagmar Herzog am 23., 24. und 25. Juni 2021

Artikel lesen

Newsletter