Alicia Schlender | Rezension |

Muttersein, politisch

Rezension zu „Mutterschaft und Feminismus. Eine Studie zu Konzepten feministischen Mutterseins“ von Samira Baig

Samira Baig:
Mutterschaft und Feminismus. Eine Studie zu Konzepten feministischen Mutterseins
Deutschland
Leverkusen 2023: Barbara Budrich
267 S., 36,90 EUR
ISBN 978-3-96665-074-8

Nachdem sie im deutschsprachigen Diskurs lange Zeit als nicht salonfähig galten, erfreuen sich feministische Perspektiven auf Elternschaft seit den 2010er-Jahren wieder größerer Beliebtheit. Dass sich dieser Wandel auch in der Wissenschaft abbildet, zeigt Samira Baigs „Mutterschaft und Feminismus. Eine Studie zu feministischen Mutterschaftskonzepten“. Das Erscheinen des Buches ist umso erfreulicher, als das emanzipatorische Potenzial von Mutterschaft beziehungsweise ihre konkrete feministische Ausgestaltung nicht nur wissenschaftlich interessant ist. Da sich die Studie auf narrative Interviews mit 18 politisch aktiven Müttern stützt, die sie auf ihre jeweiligen Vorstellungen von Mutterschaft und Feminismus hin befragt, verschafft sie lebensweltliche Einblicke, die politische Perspektiven eröffnen und so über die wissenschaftlichen Erkenntnisse hinaus erhellend sind.

Während das erste Kapitel als allgemeine Einleitung gestaltet ist, stellt die Autorin im zweiten Kapitel „Feminismus – feministische Theorie(n) und Mutterschaft“ verschiedene Perspektiven auf Mutterschaft vor, den Stand der feministischen Forschung zu Muttersein rekapitulierend. Zunächst zeichnet sie die grundlegenden Annahmen differenzfeministischer, gleichheitsfeministischer sowie postmoderner und poststrukturalistischer Ansätze nach und arbeitet in einem zweiten Schritt heraus, welches Verständnis von Mutterschaft ihnen jeweils inhärent ist. Baig hält zusammenfassend fest, dass alle feministischen Ansätze „Mutterschaft durchgängig als Einschränkung von Emanzipationsbegehren“ thematisieren und kritisiert, dass „emanzipatorische Leitbilder und Praxen von Mutterschaft fehlen“ (S. 10). Das Kapitel bietet einen umfassenden Einblick in unterschiedliche feministischen Denkweisen und setzt diese in Bezug zueinander. Als Ziel des differenzfeministischen Feminismus formuliert Baig mit Regina Becker-Schmidt und Gudrun-Axeli Knapp,[1] „Frauen als gesellschaftliche und historische Subjekte sichtbar zu machen und in ihren sozialen Praxen ernst zu nehmen“ (S. 18). Der Gleichheitsfeminismus hingegen ziele darauf, „[s]ämtliche Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen“ zu beseitigen, „die […] auf strukturelle Zugangs- und Handlungsbeschränkungen zurückgeführt […]“ werden (S. 18). Der poststrukturalistische Feminismus rücke demgegenüber die Kritik an der Zweigeschlechtlichkeit, die dem Differenz- und dem Gleichheitsfeminismus zugrunde liegt, ins Zentrum und verschiebe den Fokus, „weg von Strukturen und Konstitutionsprozessen von Geschlechterverhältnissen hin auf Sprache, Wissen und Diskurse“ (S. 21). Bezüglich der Frage, ob Gleichheits- und Differenzfeminismus nicht obsolet würden, wenn Männer und Frauen als Grundkategorien wegfielen, kommt Baig zu dem Schluss, dass Zweigeschlechtlichkeit, auch wenn sie dekonstruiert werden könne, gesellschaftlich weiterhin wirksam bleibe. Deshalb mache es Sinn, „Mutterschaft aus zweigeschlechtlicher Perspektive ebenso zu betrachten wie aus postmoderner und poststrukturalistischer“ (S. 22).

Im dritten Kapitel „Mutterschaft und Feminismus – eine empirische Untersuchung“ führt Baig ihre Forschungsfrage – „Welche Konzepte von Mutterschaft haben Feminist*innen?“ (S. 63) – aus und erläutert die Wahl ihrer Erhebungs- (das narrative Interview) sowie Auswertungsmethode (die Dokumentarische Methode). Sie hat 18 Interviews mit politisch aktiven feministischen Müttern geführt und aus deren Analyse drei Typen entwickelt. Ihnen ist das vierte Kapitel „Mutterschaft und Feminismus in der Praxis“ gewidmet. Hier geht Baig der Frage „Was erzählen politisch aktive feministische Mütter über Mutterschaft?“ (S. 87) nach und arbeitet in Auseinandersetzung mit dem Erzählten und nah am Gesprächsmaterial die „thematischen Relevanzsetzungen“ (S. 102) der interviewten Mütter heraus. Daraus entwickelt sie eine Typologie, die drei Konzepte „von Mutterschaft […], die dem Handeln von politisch aktiven feministischen Müttern zugrunde liegen“ versammelt (S. 110). Die Herleitung der Typen strukturiert Baig entlang der Themen Anstrengung, positive Bezüge aufs Muttersein, Berufstätigkeit, Kinderbetreuung, Aufteilung von Arbeit, Einflussnahme auf das Kind sowie den körperlichen Komponenten von Schwangerschaft, Geburt und Stillen. Diese Themen werden in jeweils spezifischer Weise von den Müttern verhandelt und finden sich, mal mehr und mal weniger ausgeprägt, in allen drei Typen wieder. Der erste Typus ist der des „kindzentrierten Mutterseins“, für den das Kind im Fokus steht (S. 112). Berufstätigkeit wird von den Müttern dementsprechend als mit der Kindszentrierung in Konflikt stehend erlebt. Im Zweifelsfall werden „Anforderungen, die mit der Berufstätigkeit einhergehen, zurückgestellt […] zugunsten des Mutterseins“ (S. 129). Für die diesem Typus zugeordneten Mütter ist eine exklusive Mutter-Kind-Beziehung so relevant, „dass Kinderfremdbetreuung durchwegs nicht positiv besetzt ist […]“ (S. 135). Den zweiten Typus charakterisiert Baig als „umstandorientertes Muttersein“, für den die sich im Zuge von Mutterschaft ändernden Umstände im Zentrum stehen (S. 159). Die diesem Typ zugeordneten Erzählungen orientieren sich an den „gänzlich neuen Umständen, die in Folge des Mutterseins auftreten“. Gleichzeitig „bekommen bereits bekannte Umstände, dadurch, dass sie nun auch auf das Kind wirken, eine neue Qualität und stellen sich somit als voraussetzungshafte Anforderungen des Mutterseins heraus.“ (S. 183)

Das „Konzept des integrierten Mutterseins“ (S. 187) bildet den dritten Typus. Hier wird Mutterschaft „keine besondere Bedeutung zugeschrieben“, sondern die Mütter sind „orientiert am Leben als solches und an all den damit einhergehenden Anforderungen“ (S. 187). Das Muttersein ist ein relevanter Lebensbereich unter anderen. Entsprechend wird auch Berufstätigkeit beziehungsweise die sogenannte Kinderfremdbetreuung als ein Bereich verhandelt. Die Mütter sehen sich nicht allein in der Verantwortung, sondern erwarten vielmehr die Bereitstellung unterstützender Strukturen, etwa dass es bei Veranstaltungen die Möglichkeit gibt, Kinder mitzubringen und vor Ort zu betreuen (S. 213).

Was lässt sich vor diesem Hintergrund konkret über feministische Mutterschaft sagen? Im fünften Kapitel „Mutterschaft & Feminismus in Theorie und Praxis“ führt Baig ihre empirischen Ergebnisse mit der Theorie zusammen. Sie arbeitet heraus, was die Konzepte hinsichtlich der Vorstellungen von Mutteridealen und Geschlecht (als die Gesellschaft strukturierendes Merkmal) offenlegen. Sie eruiert dabei, inwiefern sie heteronormative Vorstellungen transportieren (S. 215), inwieweit also in Idealen von Mutterschaft Normen von Zweigeschlechtlichkeit angelegt sind. Im Konzept des kindzentrierten Mutterseins beispielsweise wird die maßgebliche Ausrichtung am Kind durchaus als etwas Positives empfunden, was dem gesellschaftlichen Ideal der ‚guten Mutter‘, die sich zugunsten des Kindes zurückstellt, sehr nahe kommt. Baig stellt jedoch heraus, dass die Erwartungen, die mit diesem Ideal einhergehen, von den interviewten Müttern nicht einfach erfüllt, sondern als Anforderungen verstanden würden, denen gegenüber sie sich „im Sinne der eigenen Bedürfnisse und (feministischen) Interessen positionieren“ (S. 216). So wird die Kindzentrierung nicht im Sinne eines traditionellen Mutterbildes verstanden, sondern als Versuch, Mutterschaft feministisch, im Sinne der Orientierung an den eigenen Bedürfnissen, auszubuchstabieren.

Mütter, deren Erzählungen dem kindzentrierten und dem umstandsorientierten Konzept zuzuordnen sind, sehen sich mit einer „doppelten Vergesellschaftung“ nach Regina Becker-Schmidt konfrontiert, sie haben also mit den teils entgegenstrebenden Anforderungen von Erwerbs- und Carearbeit zu kämpfen. Im integrierten Konzept vom Muttersein lässt sich dieser Kampf interessanterweise nicht ausmachen. Hier ließen sich „keinerlei Hinweise erkennen, in Richtung einer doppelten, vor allem sich widersprechenden Vergesellschaftung von Müttern. Die Orientierung an den Anforderungen des Mutterseins, der Berufstätigkeit und an das eigene Wollen scheinen hier gleichwertig nebeneinander zu stehen, miteinander verknüpft und in keinerlei Konflikt zueinander“ (S. 222). Daraus resultiert für Baig die Frage, ob das Konzept des integrierten Mutterseins, das Mutterschaft als „integriert in andere Lebensbereiche der Selbstverwirklichung und des eigenen Wollens ohne besondere Relevanz oder Priorität“ versteht, nicht ein Narrativ über „positive Mutteridentitäten“ darstellen könnte (S. 224). Wobei sie betont, dass emanzipatorische Mutterschaft darin nicht aufgehe, sondern es durchaus auch einer Veränderung der Umstände des Mutterseins bedürfe (ebd.). Zuletzt stellt Baig heraus, dass Körper – die in den Interviews meist nur am Rande auftauchen – gerade in Ansätzen, die dem gleichheits- und postmodernem Feminismus zugeordnet werden könnten, in den Hintergrund geraten seien. Doch wäre es nicht, fragt sie, gerade für die Dekonstruktion heteronormativer Mutterbilder wichtig, auch biologische Mutterschaft in den Blick zu nehmen? So könne man daran arbeiten, „neue Sinnbezüge herzustellen, die die biologische Reproduktionsleistung von gebärenden Menschen fernab vom cis Frausein einordnen und diskursiv aufwerten“ (S. 231). Damit benennt Baig einen wunden Punkt in feministischen Debatten um Elternschaft. Denn gerade im Kontext poststrukturalistischer, queerer Feminismen wird die Körperlichkeit von Elternschaft – und damit einhergehend von Schwangerschaft, Geburt und Stillen –, bis heute kaum verhandelt.[2]

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Studie einen umfassenden Überblick über die feministische Forschung rund um Mutterschaft bietet, wobei die Autorin eine intersektionale Perspektive wählt und sich sensibel für die vielschichtigen Diskriminierungen zeigt, die mit Mutterschaft einhergehen können. Positiv hervorzuheben ist auch der differenzierte Sprachgebrauch. So unterscheidet sie zwischen Müttern und Müttern*: „Wird von Mutter* bzw. Müttern* geschrieben, wird damit durchgängig darauf hingewiesen, dass damit ein (angestrebtes) Verständnis von Müttern* gemeint ist, das sich abseits von heteronormativen, dichotomen Sinnbezügen gestaltet“ (S. 13). Wird das Gendersternchen nicht genutzt, markiert die Autorin damit, dass „in diesen Fällen das Verständnis durchaus nach wie vor eng gekoppelt an heteronormative strukturelle und kulturelle Gegebenheit ist“ (ebd).

Das Herzstück des Buches, der Empirieteil, liest sich streckenweise sehr technisch. Dieser Abschnitt kann von Leser*innen, die sich nicht in der Tiefe mit wissenschaftlichen Methoden befassen möchten, gegebenenfalls übersprungen werden. Die zentralen Ergebnisse ordnet Baig in den späteren Kapiteln so gut ein, so dass sie auch ohne die Lektüre des vierten Kapitels verständlich sind. Dass die Interviewten nicht mit Pseudonymen, sondern mit Nummern zitiert werden, schafft allerdings eine Distanz, die angesichts der sehr nahbaren Interviewpassagen etwas widersprüchlich erscheint. Doch dieser Kritikpunkt ändern nichts an dem Umstand, dass die Ergebnisse der Studie, also die beschriebenen drei Typen feministischen Mutterseins und die ihr Bezug auf aktuelle Theorien, eine Bereicherung für den Diskurs um feministische Mutterschaft darstellen.

  1. Feministische Theorien zur Einführung. Regina Becker-Schmidt / Gudrun-Axeli Knapp. Junius Verlag , 2011
  2. Mehr dazu etwa in Marie Reusch, Emanzipation undenkbar? Mutterschaft und Feminismus, Münster 2017 sowie in Antje Schrupp, Schwangerseinkönnen, in: Lisa Yashodhara Haller / Alicia Schlender (Hg.), Handbuch Feministische Perspektiven auf Elternschaft, Leverkusen 2022, S. 517–527. Antje Schrupp schlägt mit der „reproduktiven Differenz“ eine Möglichkeit vor, körperliche Vorgänge rund umd Schwangerschaft und Geburt theoretisch zu fassen, ohne binäre Geschlechterbilder zu bedienen.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Bildung / Erziehung Familie / Jugend / Alter Feminismus Körper

Alicia Schlender

Alicia Schlender promoviert an der der Humboldt-Universität Berlin zu Geschlechterverhältnissen in Patchworkfamilien. Außerdem arbeitet sie als freie Referentin und systemische Beraterin.

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