Lisa Malich, Mariana Schütt, Tilman Reitz | Interview | 18.09.2024
Nachgefragt beim Projekt „Unerwünschtes Wissen. Zum Ausschluss der Psychoanalyse aus den Psy-Sciences in Westdeutschland, Großbritannien und den USA, 1950–1990“
Fünf Fragen an Lisa Malich, Mariana Schütt und Tilman Reitz
Im Rahmen des von der VW-Stiftung geförderten Projekts „Unerwünschtes Wissen“ untersuchen Sie den Ausschluss der Psychoanalyse aus den Psychologiewissenschaften zwischen 1950 und 1990, wobei sie Westdeutschland, Großbritannien und die USA miteinander vergleichen. Was genau an den Entwicklungswegen, die die Psychoanalyse als akademische Disziplin genommen hat, ist erklärungsbedürftig?
Uns erscheinen zwei Dinge besonders erklärungsbedürftig: Zum einen, weshalb sich die Psychoanalyse nicht dauerhaft in den universitären Wissenschaften zur Psyche (Psychologie, Psychiatrie und Psychosomatik) etablieren konnte – obwohl psychoanalytische Perspektiven zunächst viele Erfolge hatten und auch heute noch in der psychotherapeutischen Praxis anerkannt und verbreitet sind. Zum anderen interessiert uns die besondere Konstellation im universitären Fächerspektrum: Während psychoanalytisch geprägte Ansätze heute in den Psych-Wissenschaften fast vollständig fehlen – besonders deutlich wird das etwa im Fach Psychologie an deutschen Universitäten – und vor allem als Abgrenzungsfolie benutzt werden, ist die Psychoanalyse in Teilen der Geistes-, Kultur und Sozialwissenschaften weiterhin fest verankert.
Was erhoffen Sie sich vom internationalen Vergleich? Warum haben Sie sich für Westdeutschland, Großbritannien und die USA entschieden?
Die drei ausgewählten Länder haben die Psych-Wissenschaften ab der Nachkriegszeit entscheidend geprägt; das gilt insbesondere für die Neurowissenschaften und die klinische Psychologie. Zudem macht der Vergleich unterschiedliche Perspektiven und institutionelle Verankerungen sichtbar: Ein offenkundiger Unterschied betrifft die Verarbeitung des Nationalsozialismus, der die Psychoanalyse insgesamt als jüdisch betrachtet und viele Psychoanalytiker:innen vertrieben oder ermordet hat. Manche damals führende Vertreter der Psychologie und Psychiatrie verbannten die Psychoanalyse offiziell aus ihrer Disziplin – andere versuchten sie zu ‚arisieren' und so eine „Neue deutsche Seelenkunde“ zu begründen. In den USA, einem der bevorzugten Fluchtländer, sah es natürlich anders aus. Weniger bekannte Unterschiede kommen hinzu: Während beispielsweise in der westdeutschen universitären Psychiatrie in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg vor allem biologische Ansätze dominant waren, die Psychotherapie ablehnten, war die US-amerikanische Psychiatrie bis in die 1970er-Jahre maßgeblich von psychoanalytischen Perspektiven geprägt. In den USA durfte psychoanalytische Psychotherapie lange nur von Mediziner:innen angeboten werden, während in Großbritannien und Westdeutschland auch Personen aus der Psychologie Psychoanalysen anbieten durften.
Zugleich hat die Auswahl der drei Länder aber auch einen pragmatischen Grund: Wir sprechen flüssig die entsprechenden Sprachen und mit 1,5 Jahren Förderung hat unser Projekt eine relativ kurze Laufzeit. Auf den Ergebnissen aufbauend soll ein umfangreicherer Antrag gestellt werden, in dem wir auch weitere relevante Länder (zum Beispiel Frankreich, Chile, Russland) berücksichtigen wollen. Gerade der Abgleich mit den Wissenschaftskulturen des Staatssozialismus – aus denen die Verhaltenstherapie entscheidende Impulse bezog – und Lateinamerikas – wo viele wichtige Psychoanalytiker:innen praktizierten – erscheint uns äußerst interessant.
Mit welchem methodischen Werkzeug wollen Sie die Entwicklungen untersuchen?
Wir wollen die Entwicklungen mit einer Kombination aus wissenschaftshistorischen und wissenssoziologischen Methoden untersuchen. Um die für uns ausschlaggebende institutionelle Entwicklung nachzuvollziehen, wollen wir nicht nur Texte aufarbeiten, sondern auch die Geschichte ausgewählter Standorte beziehungswiese Institute in den Blick nehmen. Hinzu kommt ein erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Akzent: Uns interessiert die Psychoanalyse auch als Modellfall einer Wissenschaft jenseits von Quantifizierung und Objektivierung. Die Verweigerung und Kritik dieser Muster macht sie zugleich attraktiv und vermutlich akademisch unerwünscht.
Kann man den Ausschluss der Psychoanalyse psychoanalytisch erklären?
Das ist sicher denkbar – beispielsweise bieten sich die Begriffe der Verdrängung, Abspaltung oder Projektion für einige Prozessbeschreibungen an. Es ist aber nicht der Ansatz unseres Projekts. Wir wollen die fragliche Entwicklung ja nicht als Advokat:innen der Psychoanalyse oder als psychoanalytisch orientierte Wissenschaftler:innen untersuchen, sondern mit einer gewissen Distanz zum Konfliktfeld historiografisch rekonstruieren und wissenssoziologisch einordnen; im besten Fall werden wir im Rahmen dieser Wissenschaften Erklärungen entwickeln. Für psychoanalytische Erklärungsansätze der umrissenen Art wäre wohl auch das Verhältnis zwischen individueller und (wenn es das gibt) kollektiver Psychodynamik zu klären – und diese Herausforderung werden wir garantiert nicht in anderthalb Jahren bewältigen.
Wäre es nicht naheliegend, den akademischen Ausschluss der Psychoanalyse schlicht mit der „Vernaturwissenschaftlichung“ der Psy-Sciences zu begründen, also mit der Durchsetzung eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses, für das die Psychoanalyse nicht die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen hat?
Dies ist tatsächlich einer von mehreren naheliegenden Erklärungsansätzen, der auch von Vertreter:innen der Psycho-Wissenschaften immer wieder vorgebracht wurde. Zentrale Akteure wie der britische Psychologe Hans Eysenck postulierten seit den 1950er-Jahren in Bezug auf Karl Popper öffentlichkeitswirksam, dass der Psychoanalyse die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen einer positivistischen Wissenschaft fehlen würden. In Reaktion darauf adaptierten einige Vertreter:innen der Psychoanalyse eine positivistische Erkenntnistheorie mit naturwissenschaftlichen Praktiken. Wir teilen die Einschätzung, dass es diese Frontstellung gibt, bewerten sie jedoch tendenziell anders. Wir gehen davon aus, dass der Erklärungsansatz selbst erklärungsbedürftig ist: Weshalb versuchen naturwissenschaftsnahe Schulen in den Sozial- und Geisteswissenschaften immer wieder auf Kosten anderer Ansätze zu expandieren, und weshalb können sie ihre – keineswegs einheitlichen – Programme zu verschiedenen Zeitpunkten in so unterschiedlichem Ausmaß durchsetzen? Konkret wollen wir also nicht noch einmal feststellen, dass sich ein positivistisches Wissenschaftsverständnis in den Psych-Wissenschaften durchgesetzt hat, sondern fragen, wie und weshalb dies der Fall war. Dazu gehört ein genaues Nachzeichnen der institutionellen, diskursiven und praktischen Prozesse, die zur fraglichen Vernaturwissenschaftlichung gehören. Diese Forschungsperspektive steht in einer Tradition der Wissenschaftsgeschichte und -forschung, die naturwissenschaftliche Objektivität nicht als gegeben, sondern als historisch hervorgebrachtes und sozial situiertes Ideal betrachtet. Auch wenn man grundsätzlich annimmt, dass naturwissenschaftliche Forschung einfach konkurrenzlos erfolgreich ist und deshalb allgemein vorherrscht, sollte man alternative oder ergänzende Erklärungen zumindest prüfen: Wie schlagen sich die politischen Rahmenbedingungen (die etwa für die neoklassische Ökonomik wohl ausschlaggebend waren) in den Psych-Wissenschaften nieder? Und welche Rolle spielen der außerakademische Erfolg und die außerakademische Institutionalisierung der Psychoanalyse, die eine Etablierung an den Universitäten für viele Beteiligte womöglich verzichtbar machten?
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Epistemologien Geschichte Psychologie / Psychoanalyse Universität Wissenschaft
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