Sandra Sieron | Rezension |

Neue Konturen feministischer Kritischer Theorie

Rezension zu „Kritische Theorie und Feminismus“ von Karin Stögner und Alexandra Colligs (Hg.)

Abbildung Buchcover Kritische Theorie und Feminismus von Stögner/Colligs (Hg.)

Karin Stögner / Alexandra Colligs (Hg.):
Kritische Theorie und Feminismus
Deutschland
Berlin 2022: Suhrkamp
394 S., 24,00 EUR
ISBN 978-3-518-29960-9

Angesichts Max Horkheimers Diktum, die Kritische Theorie habe nicht heute jenen und morgen einen anderen Lehrgehalt, stellt sich die Frage, ob das Verhältnis zwischen Kritischer und feministischer Theorie überhaupt neu bestimmt werden kann – und wenn ja, wie. Welche Auswirkungen hat die heutige Beschäftigung mit den Denkbewegungen der Kritischen Theorie auf die emanzipatorische Transformation der subjektiven Handlungsmöglichkeiten und gesamtgesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse? Der von Karin Stögner und Alexandra Colligs herausgegebene Suhrkamp-Band Kritische Theorie und Feminismus reiht sich ein in eine jüngst wieder zunehmende Anzahl an Publikationen,[1] die sich der feministischen Anknüpfung an das – nicht als einheitliches Lehrgebäude zu begreifende – Denken der Frankfurter Schule widmen und dabei auch Unzulänglichkeiten der gegenwärtigen Geschlechterforschung adressieren.

Ein wieder abgedruckter Beitrag von Gudrun Axeli-Knapp leitet das Buch ein: „Konstellationen von Kritischer Theorie und Geschlechterforschung“. Kritische Theorie, so schreibt Axeli-Knapp, ist in ihrer spezifischen Verbindung von Gesellschafts-, Erkenntnis- und Subjektkritik ein selbstreflexives, situiertes Denken mit außerakademischem Emanzipationsanspruch. Es ermöglicht, die Pathologien einer kapitalistischen Gesellschaft in nichtökonomistischer Weise zu verstehen, indem das Augenmerk auf Konflikte, Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten gelegt wird (S. 38 f.). Allerdings vermag die Kritische Theorie keine fertige, unfehlbare Theorie der Geschlechterverhältnisse anzubieten und sieht sich zu Recht mit Androzentrismusvorwürfen konfrontiert. Daher können, so wird in allen hier versammelten Artikeln deutlich, rezente geschlechtertheoretische Arbeiten nicht unmittelbar anknüpfen. Vielmehr braucht es eine geschlechtertheoretische Revision auf der Höhe der Zeit über den von der Kritischen Theorie vorgegebenen Rahmen hinaus.

Genau dazu laden die Herausgeberinnen ein, die versammelten Beiträge ordnen sie vier Themenkomplexen zu: feministische Ideologiekritik, kritisch-feministische Perspektiven auf Produktion und Reproduktion, Verhältnisse zwischen „Identität“, „Subjekt“ und „Differenz“ sowie psychoanalytische Perspektiven auf Vergeschlechtlichung und Herrschaft. Dabei liegt der Fokus des Bandes vor allem auf Fragen nach Identität, Identitätspolitiken und dem politischen Subjekt Frau. Feministische Kritische Theorien, so stellt Stögner einleitend fest, haben vor allem drei gemeinsame Referenzpunkte: Sie gehen analytisch von einer zusammenhängenden gesellschaftlichen Totalität aus, streben gesellschaftskritisch nach Emanzipation und ermöglichen über die bestimmte Negation des falschen Allgemeinen eine historisch situierte Erkenntniskritik (S. 13).

Inwiefern erörtern die Beiträge tatsächlich bis dato unbeachtete Aspekte einer feministischen Kritischen Theorie oder anderen – gegenwärtigen und zukünftigen – feministischen kritischen Theorien mit kleinem ‚k’? Die von den Herausgeberinnen beabsichtigten neuen Vermittlungen sind zunächst einmal gelungen. Der Band versammelt ein Who-is-Who bedeutender Theroretiker:innen, deren Arbeiten sich bereits früh im deutsch- und englischsprachigen Raum einer feministischen Kritik und Fortentwicklung der Kritischen Theorie widmeten. Zugleich finden sich im Autor:innenverzeichnis auch jüngere Geschlechterforscher:innen, die die analytischen Fäden aufnehmen und aktualisieren. Die Formate der Beiträge sind sehr unterschiedlich, es finden sich eigens für den Band verfasste Artikel, Interviews, aus „ungeminderter Aktualität“ (S. 24) erneut abgedruckte Aufsätze und erstmals übersetzte Texte wie Nancy Frasers programmatische Erweiterung von Polanyis Kritik der Gesellschaft und Wirtschaft um die Achse der sozialen Kämpfe.

Insgesamt gibt das Buch also einen guten Ein- und Überblick. Nach tiefergehender Lektüre aller unterschiedlichen Beiträge des Bandes entsteht interessanterweise der Eindruck, einerseits eine sehr reichhaltige Auswahl an durchaus innovativen Zugängen zu feministischen Anliegen und immanenter Kritik, Negativität und Nichtidentität vorzufinden; andererseits bekommen wichtige Konzepte und Denker:innen, die im erweiterten Kreis der älteren oder jüngeren kritischen Theorie zu verorten sind, wenig bis keinen Raum.

Barbara Umrath, die 2019 eine eigene Monografie zur Entwicklung der Kritischen Theorie aus feministischer Perspektive veröffentlichte,[2] ist mit einem äußerst lesenswerten Artikel zu Herbert Marcuses Psychoanalyserezeption zwischen „Herrschaftskritik und utopischer Antizipation“ vertreten. Ihr zufolge fokussieren sich die meisten feministischen Anknüpfungen auf die Dialektik der Aufklärung, kreisen also hauptsächlich um das Werk Theodor W. Adornos und Max Horkheimers. Dies gilt, mit Einschränkung, auch für den vorliegenden Band: Variationen über das Motiv des Nichtidentischen oder die Negative Dialektik als Fundus und Methode nichtidentifizierenden Denkens im geschlechtertheoretischen Kontext bilden auch hier einen leichten Überhang.

Die Herausgeberinnen sind sich dieses Bias durchaus bewusst, dennoch fällt die Komposition der Beiträge kanonischer aus, als manche intersektionalen Debattenstränge erwarten lassen. Es finden sich, wie selbstkritisch angemerkt wird, kaum postkoloniale Perspektiven, dabei wäre es lohnend gewesen, auch dieses Spannungsverhältnis – dem intersektionalen Anspruch entsprechend – zu untersuchen. Denkbar wären beispielsweise auch weitere Bezüge zu feministischen Affekttheorien oder feministischer Staatstheorie gewesen. Letztere klingen zumindest im Abschnitt zu „Reproduktion und Produktion“ an, zu dem Regina Becker-Schmidt und Sarah Speck aufschlussreiche zeitdiagnostische Analysen beisteuern. Während Erstere anhand des herrschenden Umgangs mit Fürsorge die inneren Zusammenhänge einer Zivilisationskrise analysiert, untersucht Speck Ungleichzeitigkeiten innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Geschlechterordnung.

Karin Stögner bezieht sich in ihrem Beitrag zu Bildern des Weiblichen bei Adorno, Horkheimer und Benjamin in ideologiekritischer Absicht unter anderem auf Walter Benjamins Bild der Prostituierten als einer Spielart von Bildern des Nichtidentischen. Jürgen Habermas’ Überlegungen finden eher indirekt Eingang, nämlich vermittelt über das von Stögner geführte Gespräch mit Seyla Benhabib, die in ihren sozialphilosophischen Arbeiten prominent an Habermas’ kommunikative Diskursethik anknüpfte – in „loyaler Opposition“ (S. 287), wie Ana Claudia Lopes in ihrem würdigenden Beitrag über Benhabibs kritisch-feministisches Denken herausstellt. Ingrid Cyfer zählt in ihrem Artikel über Subjektivierung bei Benhabib und Judith Butler den berühmten, von Benhabib Anfang der 1990er-Jahre mit ausgetragenen Streit um Differenz[3] zu den „Paradigmenkriegen der feministischen Theorie“. Stögner befragt Benhabib in dem im Buch enthaltenen Interview zu dieser Debatte, vor allem aber greift Alexandra Colligs die Kontroverse in ihrer Neukonturierung queerfeministischer Standpunkte (Butler) auf – im Abgleich zur älteren Kritischen Theorie (Adorno).

Rahel Jaeggi, im Rahmen eines Interviews von Colligs zu „Normativem Materialismus und Transformation“ befragt, spricht offen von einem „Gefühl des Flashbacks“ (S. 147) in die 1990er-Jahre, wenn es darum geht, dass die Debatten um die Konzeption des Subjekts, um Differenz und politische Handlungsfähigkeit wieder aufleben.[4] Sie hält es für notwendig, die Auseinandersetzungen fortzuführen, und plädiert für einen neuen „Bottom-Up-Universalismus“, womit sie die tatsächliche gesellschaftlich-historische Beschaffenheit von Abhängigkeits- und Interdependenzverhältnissen meint (S. 149).

Als fruchtbar für eine zukünftige feministisch-kritische Theorie des Subjekts erweist sich die Integration aktualisierter psychoanalytischer Perspektiven in den Band. Hier ist besonders der Beitrag von Ilka Quindeau eindrücklich, die danach fragt, wie die Materialität des Geschlechtskörpers im Bereich des Sexuellen angemessen berücksichtigt werden kann. Sie geht mit Volkmar Sigusch davon aus, dass der diskursiv erzeugte Geschlechtskörper und seine eigentliche Materialität nicht ineinander aufgehen, sondern in einem dialektischen Verhältnis stehen, also nur in Abhängigkeit von historisch-gesellschaftlichen Entwicklungen, Konflikten und (sexuellen) Praktiken zu verstehen sind. Die Eigenlogik der Materialität des Körpers und sein Potenzial für Lust und Befriedigung ermöglichen laut Quindeau eine bestimmte Form der Nichtidentität, die sich dem normativ-sprachlichen Zugriff entzieht, auf das Erleben einwirkt und so emanzipatorische Veränderungen ermöglicht.[5] Im Anschluss an Bini Adamczak spricht sie sich außerdem dafür aus, den Begriff „Penetration“ konsequent durch „Circlusion“ zu ersetzen – aktiv, umschließend –, um die hegemoniale Männlichkeit sexueller Praktiken aufzubrechen. Quindeaus Beitrag erläutert, exemplarisch für feministische Perspektiven, die Relevanz des Leibes, der Leidensfähigkeit und der Sinnlichkeit für die subjekttheoretische Dimension der Kritischen Theorie.

Darauf bezieht sich auch Dagmar Wilhelm, wenn sie im Rahmen ihres Beitrags zu „Frau und Negativität“ über Versöhnung und Eingedenken bei Adorno schreibt. In Anbetracht konkreten körperlichen Leides sei es geboten, Identitätsdenken derart aufzubrechen, dass sich das Nichtidentische eingedenkend, also im Denken, entfalten kann. Versöhnung als Ziel einer Philosophie nach Auschwitz und negative Dialektik als ihre Form sind im Sinne Adornos als Versöhnung mit dem Nichtidentischen zu begreifen (S. 254).

Einige Autor:innen bezeichnen die rezenten Phänomene identifizierenden Denkens, die sich auch innerhalb feministischer Debatten finden, als „gegenwärtige Identitätspolitiken“ und erteilen ihnen eine klare Absage. Denn, so das Argument, diese würden verkennen, dass im schlechten Allgemeinen Universelles und vermeintlich Partikulares gleichermaßen beschädigt sind. Sie verfehlten so das Anliegen einer tatsächlichen Negation gesellschaftlich aufgezwungener Identitäten und Beschränkungen – einer Kritischen Theorie als „Politik der Nichtidentität“ (S. 96). Dies stellt Christine Achinger zum Ende ihres Beitrags, der sich dem Verhältnis zwischen Intersektionalität und Kritischer Theorie über die Bildkonstellation von Geschlecht, Judentum und Nation nähert, noch einmal prägnant heraus: „Eine solche Politik spräche nicht im Namen einer vergangenen unversehrten Ganzheit, sondern allenfalls im Namen eines Daseins, das noch zu realisieren ist.“ (ebd.) Das fortwährende kritisch-feministische Wagnis bleibt somit, negatives Denken in widersprüchlichen Konstellationen zu betreiben.

Sollten wir Kritische Theorie und Feminismus im 21. Jahrhundert in Anbetracht von geschlechtertheoretischen Kontroversen und zunehmendem Antifeminismus (wieder) vermehrt ins Gespräch miteinander bringen? Eine Stärke des Sammelbandes liegt, gleichwie man die Frage beantwortet, vor allem darin, altbekannte neben neue Texte zu stellen und über diese Nachbarschaft zahlreiche kritisch-feministische Anknüpfungen zu ermöglichen.

  1. Vgl. z.B. Sarah Speck, Kritische und feministische Theorie. Plädoyer für eine neue Liaison, in: Feministische Studien 36 (2018), 1, S. 59–67.
  2. Barbara Umrath, Geschlecht, Familie, Sexualität. Die Entwicklung der Kritischen Theorie aus der Perspektive sozialwissenschaftlicher Geschlechterforschung, Frankfurt am Main / New York 2019.
  3. Seyla Benhabib / Judith Butler / Drucilla Cornell / Nancy Fraser, Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt am Main 1993.
  4. Vgl. z.B. Ilse Lenz, Von der Sorgearbeit bis #MeToo. Aktuelle feministische Themen und Debatten in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 68 (2018), 17, S. 20–27.
  5. Nichtidentisch sind die diskursiv über gesellschaftliche Normen, Zwänge und Gewalt geformten Geschlechtskörper, -identitäten und -praxen einerseits und die tatsächliche Materialität – das heißt eine nichtsprachliche, leibliche Empfindung, die sich nicht in Sprache und begrifflichem Denken erschöpft und die sich daher auch nie in Gänze einhegen lässt –andererseits.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Feminismus Gender Kritische Theorie

Abbildung Profilbild Sandra Sieron

Sandra Sieron

Sandra Sieron hat Politische Theorie und Psychologie studiert. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrbereich Soziologie der Zukunft der Arbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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