Oliver Römer | Rezension |

Nicht bloß soziologisch, sondern gesellschaftlich!

Rezension zu „Funktionen der Soziologie. Eine wissenssoziologische Einführung“ von Tilman Reitz

Tilman Reitz:
Funktionen der Soziologie. Eine wissenssoziologische Einführung
Deutschland
Weinheim 2022: Beltz Juventa
257 S., 18 EUR
ISBN 978-3-7799-7568-7

Wer heute mit einer Einführung in die Soziologie auf dem Buchmarkt und in der Fachöffentlichkeit vorstellig wird, sollte den Rechtfertigungszwang einer solchen Unternehmung nicht unterschätzen. Er betrifft nicht zuletzt eine Einführung, die sich mit dem Attribut „wissenssoziologisch“ ein verstärktes Reflexionsgebot auferlegt und ihre Leser:innen gleich im ersten Absatz mit dem Befund konfrontiert: „Einführungen in die Themen der Soziologie nehmen in den Buchhandlungen kaum weniger Platz ein als die Forschungsliteratur des Fachs“ (S. 9). Denn dass die Soziologie überhaupt einen festen Platz im Fächerkanon west- beziehungsweise bundesdeutscher Universitäten finden konnte, verdankte sie – wie bereits M. Rainer Lepsius Mitte der 1970er-Jahre kritisch bemerkte[1] – schließlich ihrer Gestalt als akademischem Lehrfach und weniger ihren Erfolgen als Forschungsdisziplin. Spätestens mit der Etablierung von Diplomstudiengängen seit Mitte der 1950er-Jahren wurde eine regelrechte Dialektik zwischen fachlicher Verankerung der Soziologie und einer Kartografie in Gang gesetzt, die Strukturen, Grenzen und Möglichkeiten des Faches im Medium von Einführungen, Handbüchern und Lexika abbildete. Mit institutionellen Weihen wurde diese Praxis durch die Einrichtung des René König-Lehrbuchpreises der Deutschen Gesellschaft für Soziologie versehen, mit dem auch das vorliegende Kompendium im Jahre 2022 ausgezeichnet wurde. Unabhängig davon, ob man etwa die ersten, von René König herausgegebenen Methodenhandbücher der empirischen Sozialforschung, Raymond Arons Dogmengeschichte der Soziologie, die in kritischer Distanz zum Fach entwickelten „Soziologischen Exkurse“ des Instituts für Sozialforschung oder etwa die „Soziologischen Schlüsselbegriffe“ von Hans Paul Bahrdt als Maßstab nimmt:[2] Potenzielle Nachfolger müssten streng genommen nachweisen, dass und inwiefern sie auf den Schultern dieser Giganten zu stehen vermögen. Sie sollten überzeugend darlegen, ihre Vorgänger nicht nur durch eine redliche Dokumentation fachspezifischer Trends, sondern auch durch eine fundierte, innovative und didaktisch kluge Aufbereitung des Zusammenhanges eines Faches gewissermaßen überbieten und damit obsolet machen zu können. Wird diese legitime Erwartung unterboten, liegt der Verdacht nahe, es handle sich womöglich doch nur um eine kommerzielle Verwertung oft lästiger universitärer Pflichtveranstaltungen – also nicht um ein ernstzunehmendes Reflexionsangebot, sondern um einen Beitrag zu innerwissenschaftlicher Dauerkommunikation, der dann spätestens mit der Emeritierung ihrer Autor:innen nicht mehr der Aufgabe dient, Examina ordentlich vorbereiten zu können, folglich auch aus dem kollektiven Gedächtnis des Faches verschwinden wird.

Die Akademisierung der Soziologie seit den 1950er-Jahren anhand ihrer kanonisierenden Literatur zu rekonstruieren, wäre zweifelsohne ein lohnendes, bis heute allerdings weitgehend unbewältigtes Thema soziologischer Selbstaufklärung. Eine solche Selbsthistorisierung könnte nicht nur Qualifikationsarbeiten anregen, sondern für die Soziologie durchaus Bemerkenswertes zu Tage fördern. Obendrein wäre zu hinterfragen, ob es der akademischen Disziplin tatsächlich gelungen ist, ihren bereits von den „Klassikern“ der Soziologie formulierten Anspruch einzulösen, sich als eigenständige Gesellschaftswissenschaft von traditionellen Geisteswissenschaften zu emanzipieren. Nicht auszuschließen ist jedenfalls, dass sich die Soziologie über die Jahrzehnte in Gestalt zahlreicher Einführungen ein eigenes Dickicht von theoretischen Lehrmeinungen und professionellen Benimmregeln („Methoden“) geschaffen hat, die angesichts einer proliferierenden Disziplin die Zugänge zu akademischen Zirkeln und Schulen ebenso regulieren wie den prospektiven Eintritt in sich extrem ausdifferenzierende inner- und außeruniversitäre Arbeitsmärkte.

Fragt man so, wird das zentrale Anliegen des preisgekrönten Buches von Tilman Reitz sofort sinnfällig. Wie sein Autor unterstreicht, stellt ein Nachdenken über die gesellschaftlichen Funktionen der Soziologie die problematische Vorstellung infrage, Sozialwissenschaft lasse sich als ein rein selbstbezüglicher Bereich gesellschaftlicher Wahrheits- und Erkenntnisproduktion thematisieren. Erst wenn nicht nur die praktischen Ziele von soziologisch Forschenden, sondern auch die Entstehungs- wie Funktionskontexte soziologischen Wissens näher geklärt seien, könne die Frage beantwortet werden, weshalb „es in unserer Gesellschaft genau die Forschung, Lehre und Fachkenntnis [gibt], die wir heute als Soziologie kennen“ (S. 9). Wie für jeden anderen Beruf gilt auch für Soziolog:innen: „Irgendjemand muss sie beschäftigen.“ (S. 11) Und – so wäre dieser Feststellung von Reitz hinzuzufügen – von der Stellung des Faches und seiner Träger:innen innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung hängen letztlich seine soziale Funktion wie seine universitäre Gestalt gleichermaßen ab.

Bereits diese Ausgangsüberlegungen heben das Buch auf originelle und wohltuende Weise von einer ganzen Reihe zeitgenössischer Ansätze in der Wissenschaftsforschung ab. Während es den neueren „praxeologisch“ orientierten Erkundungen akademischer Felder um eine kraft dichter Beschreibungen gesättigte „Ökologie“ wissenschaftlichen Arbeitens geht, die wissenschaftliche Arbeitsmittel, -techniken und -methoden als Manifestationen eines kultürlichen Milieus eigener Art thematisieren,[3] stellt Reitz die historisch-gesellschaftlichen Produktionsbedingungen von Wissenschaft nachdrücklich in den Mittelpunkt. Derartige Akzentuierungen in einen wissenssoziologischen Kontext zu rücken, um von der Gegebenheit spezifischer sozialwissenschaftlicher Funktions- und Verwendungskontexte auf die Wahrscheinlichkeit und relative Stabilität von Forschungs- und Denkrichtungen einer akademischen Disziplin zu schließen, erscheint soziologisch ebenso vielversprechend wie plausibel. Zudem hätte sich das Buch auf eine wissenssoziologisch orientierte, inzwischen leider weitgehend in Vergessenheit geratene Linie sozialwissenschaftlicher Forschung berufen können, die in den 1970er-Jahren auf die Namen „reflexive Soziologie“ oder „radikale Soziologie“ hörte und instruktive, wiewohl ins Abseits geratene Ansätze einer soziologischen Wissenschaftsforschung hervorbrachte.[4] Dass Reitz diese Diskussionen – abgesehen von wenigen Hinweisen auf einzelne Texte und Autoren aus besagtem Kontext – so gut wie vollständig ignoriert, darf als eine verpasste Chance bedauert werden. Es wirft Fragen auf, die im weiteren Verlauf dieser Rezension noch zu bedenken sein werden.

Freilich schmälert dieser Mangel an historischer Rückversicherung keineswegs die zentrale Ambition des Buches, keine „Einführung in eine sehr besondere Form der Soziologie“ (S. 15) vorzulegen, vielmehr dem Trend zur fortschreitenden Binnendifferenzierung des Faches mit einer übergreifenden Grundlagenreflexion zu begegnen. Hierbei die mit Karl Mannheim und Max Scheler beginnende Tradition der Wissenssoziologie zum Referenzpunkt zu machen, ist schon deshalb konsequent, weil diese soziologische Denk- und Forschungstradition in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumindest kurzzeitig reklamierte, eine übergreifende Syntheseperspektive zur Verfügung zu stellen. Vereinzelte geisteswissenschaftliche Teildisziplinen sollten nicht mehr in ein neues philosophisches Korsett der Wissenschaftsorganisation gepresst werden, sondern ihren Zusammenhang im Lichte sozialer Zeitfragen gewinnen. Aufgabe der Wissenssoziologie war es, diesen bereits bestehenden, allerdings von politischen Parteilichkeiten und logischen Widersprüchen verdeckten Kontext zu erhellen. Das Wissen, das sie produzierte, war – um es mit den Worten von Reitz zu sagen – dem eigenen Anspruch zufolge „nicht bloß soziologisch, sondern gesellschaftlich“ (S. 256) grundiert.

Dementsprechend will die vorliegende wissenssoziologische Einführung in die Funktionen der Soziologie nicht einfach gelehrtes Wissen vermitteln und die Terminologie des Faches entlang unterschiedlicher binnensoziologischer Theorie-, Fach- und Genregrenzen sortieren. Differenzierungen innerhalb des Faches wie etwa die Unterscheidung zwischen Lehrstühlen und Arbeitsbereichen, soziologischer Theorie und Sozialstrukturanalyse, qualitativer und quantitativer Sozialforschung werden auf die sozialen Vermittlungs- und Verwendungszusammenhänge hin befragt, aus denen sie ihre relative Dauerhaftigkeit beziehen.

Dieser Zugriff rechtfertigt die episodische Gliederung des Buches. Trifft zu, dass die Soziologie ihre institutionelle Verfasstheit erst in zweiter Linie aus der innerbetrieblichen, universitären Arbeitsteilung bezieht, dann versteht sich die von Fachgesellschaften und Berufsvertretungen behauptete Einheit des Faches keineswegs mehr wie von selbst. Folglich gilt es „nicht eine einzige Geschichte, sondern viele Geschichten“ (S. 15) zu erzählen. Ausgebreitet werden diese Geschichten von Reitz entlang der Logik einer Lehrveranstaltung, die in „sieben Vorlesungsjahren“ gemeinsam mit „Jenaer Studierenden“ (S. 7) erprobt worden ist. Wie zahlreiche andere Einführungen in die Soziologie hebt diejenige von Reitz also historisch an, erzählt in mehreren Teilkapiteln hingegen nicht eine, sondern gleich fünf Gründungsgeschichten der Soziologie. Die Entstehung der Soziologie wird in ihren Abgrenzungsbemühungen gegenüber Ökonomie und Politik- beziehungsweise Staatswissenschaft nachgezeichnet, die Entdeckung der Gesellschaft als eine nach Maßgabe eigenständiger Regeln und Gesetze funktionierende Entität im „langen 19. Jahrhundert“ (Eric J. Hobsbawm) bei so unterschiedlichen Intellektuellen wie De Maistre, Marx, Spencer und Lorenz von Stein zum Thema gemacht. Dabei wird deutlich, wie sich die Soziologie entgegen der Behauptung etwa eines Georg Lukács nicht einseitig als eine „Favoritwissenschaft“ des Bürgertums konstituiert,[5] sondern aus den widersprüchlichen Weltanschauungen des 19. Jahrhunderts hervorgeht, die Reitz mit Karl Mannheim auf den Nenner einer Trias von Liberalismus, Sozialismus und Konservativismus bringt. Dass es gleichwohl verfehlt wäre, angesichts dieser Genealogie der Soziologie eine bloß ideologische Kopfgeburt der bürgerlichen Revolutionen zu unterstellen, verdeutlichen die folgenden drei Kapitel. Die intime Beziehung von Soziologie, Demografie und Sozialstatistik, die der Belgier Adolphe Quetelet mit dem Begriff Physique sociale vorwegnahm, reflektiert sich bereits in den komparativ angelegten statistischen Untersuchung Émile Durkheims, aber auch in jenen Auftragsforschungen, die zum Beispiel Max Weber dem Verein für Sozialpolitik zur Verfügung stellte. Schon aus derartigen Konstellationen kann eine bis in die Gegenwart fortwirkende Janusköpfigkeit soziologischer Aufklärung abgeleitet werden: Macht sich eine Soziologie, die im Gewand einer auf soziale Reformen setzenden gesellschaftlichen Modernisierungswissenschaft Vorschläge für die politische Regulation gesellschaftlicher Verhältnisse unterbreitet und dafür von staatlichen Verwaltungen zum Zwecke der besseren Regierungsführung erhobenes, sozialstatistisches Material verarbeitet, nicht automatisch mit den Interessen staatstragender Kräfte und Institutionen gemein?

Mit Blick auf die frühe deutsche Soziologie wird diese Skepsis dadurch bekräftigt, dass sich zahlreiche ihrer Gründer – man denke etwa an Max Weber oder Georg Simmel – auf ebenso schicksalhafte wie tragische Weise mit der staatstragenden bürgerlichen Kultur identifizierten. Dass vor dem Hintergrund des dann vielfach ausgerufenen Niedergangs ebendieser Kultur nicht wenige Vertreter der nächsten Generation wie Hans Freyer, Karl Mannheim und Robert Michels mit Interesse, teilweise sogar Sympathie die Anfänge des Faschismus verfolgten, ist sicherlich eines der aufschlussreichsten, wenn auch kompliziertesten Kapitel in der Intellektuellengeschichte der Soziologie, das Reitz wie zahlreiche andere ihrer Episoden leider allenfalls beiläufig streift.

Das letzte Kapitel dieses Abschnitts diskutiert die Gründung der Soziologie ausgehend von der frühen empirischen Sozialforschung, die in ihren Anfängen eng mit der kommerziellen Industrie-, Markt- und Militärforschung liiert war. Der österreichische Exilant Paul Lazarsfeld, Mitautor der bis heute in soziologischen Einführungskursen immer noch gelesenen Studie über die Arbeitslosen von Marienthal, erschuf sich in den USA ein eigenes Imperium soziologischer Auftragsforschung, das auf einer „öffentlich-private[n] Mischung“ (S. 84) von Forschungsfragen und Abnehmern beruhte. Themen wie „Massenbeeinflussung“ oder „Wählerverhalten“ standen hier im Schnittpunkt von methodischen Innovationen sozialwissenschaftlicher Expertise und den kommerziellen Verwertungsinteressen der Käufer warenförmig strukturierter, soziologischer Information.

Der zweite große Abschnitt des Buches konzentriert sich auf Theorieschulen und Forschungsgebiete. Reitz bemerkt, dass etwa die „Frankfurter Schule“, die in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zum Inbegriff der „linken“ Wissenschaft Soziologie wurde, faktisch eher Philosophen als Soziologen hervorgebracht habe. Insgesamt zeichne sich ausgerechnet in dieser Tradition, die doch für die gesellschaftliche Wirksamkeit der Soziologie einstand, eine Drift ab, mit der sich Sozialkritik in normative Rechtfertigung der Verhältnisse verwandle, somit zur „Akademisierung“ von Gesellschaftskritik beigetragen habe. Irritierend ist an diesem Kapitel, dass Reitz die Bedeutung der Kritischen Theorie für die politische Erziehung in der alten Bundesrepublik und ihr institutionelles Wirken im Feld der Lehrerbildung überhaupt nicht würdigt – ein Umstand, den selbst erklärte Gegner und Kritiker der Kritischen Theorie immer wieder hervorgehoben haben.[6] Auch hätte man die in der akademischen Diskussion stets mit Argwohn verfolgte Fortschreibung dieser Theorie im Kulturfeuilleton sowie ihre generationale Fortpflanzung nicht nur über Lehrstühle, sondern im publizistischen Medium eines außerordentlich einflussreichen Verlages – natürlich ist von Suhrkamp in Frankfurt die Rede – zum Thema machen können. In der Summe tragen solche Versäumnisse mit dazu bei, dass zumal dieses Kapitel den selbstgesteckten Anspruch seines Autors unterbietet. Gerade an der „Frankfurter Schule“ hätte sich die Funktionalisierung der Soziologie verfolgen lassen bis hinein in die anti-soziologischen Ressentiments, die während der 1970er-Jahre mit Erfolg geschürt wurden.

Auch die folgenden Kapitel sind nicht ganz frei von Engführungen. Dass Reitz der zugegebenermaßen schwierige Spagat zwischen einer seriös fundierten Einführung in das Fach und einer Thematisierung der gesellschaftlichen Funktionalisierung von Soziologie nicht durchgehend gelingt, ist ein sich aufdrängender Eindruck. Allzu oft bescheiden sich einzelne Abschnitte damit, lediglich das für untere Semester unabdingbare Vorwissen über bekannte und anerkannte Sachverhalte der Fachentwicklung herbeizuschaffen. Freilich reichert der Autor seine stets sachkundige Doxografie gelegentlich mit starken Beobachtungen an, die zum Vorteil der Leser:innen eine weitere Vertiefung verdient gehabt hätten. Dazu zählt beispielsweise die erhellende Feststellung, die Soziologie sei in ihrer Fachentwicklung selbst häufig zum Opfer jenes „cultural lag“ geworden, den sie aus vermeintlich überlegener Beobachterperspektive ihren jeweiligen Proband:innen unterstellte. Reitz beobachtet mit vollem Recht, dass Begriffsschöpfungen wie etwa der Terminus ‚Normalarbeitsverhältnis‘ in der Soziologie erst auftauchen, wenn die historisch-gesellschaftliche Epoche, auf deren Wirklichkeit sie Bezug nehmen, längst in Auflösung begriffen ist – eine Einsicht, die das Potenzial besitzt, eine sozialhistorisch grundierte Begriffsgeschichte der Soziologie zu animieren.

Zu den wirklich bemerkenswerten Entdeckungen des Buches zählt ferner der Hinweis auf die mangelhafte Rückverfolgbarkeit der aus der kommerziellen Sozialforschung entsprungenen, sogenannten SINUS-Milieus. Ob die zugeschriebenen Strukturveränderungen dieser Milieus durch das Heidelberger SINUS-Institut

„auf neue Interviews oder eher die Lektüre politischer Massenmedien zurückzuführen sind, ist den öffentlich zugänglichen Informationen nicht zu entnehmen. Möglicherweise erfährt man mehr, wenn man die ‚Milieu-Infopakete‘ bestellt, die zum kostenpflichtigen Angebot des Instituts gehören.“ (S. 136)

Allerdings habe dieser eklatante Mangel an öffentlich zugänglicher Information und allgemein publizierten Forschungsergebnissen keineswegs verhindert, dass dieses Modell einer Sozialstrukturanalyse der alten und neuen Bundesrepublik ohne nähere Überprüfung Eingang in die universitäre Forschung finden konnte.

An diese Beobachtung ließe sich die Rückfrage anschließen, ob ein derart selektiver Zugang zu gesellschaftsrelevanten Informationen nicht längst schon auch die akademisch generierte Wissens- und Publikationsregimes charakterisiert. Bekanntlich ist selbst der Zugang zu den gewichtigen Journalen einer wissenschaftlichen Disziplin mittlerweile eine Frage des Preises, den nicht mehr jede Universitätsbibliothek zu zahlen bereit (und vermögend) ist. Und welchen beunruhigenden Funktionswandel ein wissenschaftliches Wissen erleidet, das zwar der Idee nach „kommunistisch“ (Robert K. Merton) ist, faktisch aber den Monopolisierungstendenzen auf dem wissenschaftlichen Literaturmarkt unterworfen bleibt, ist eine Frage, die auch und gerade die Soziologie als Wissenschaft direkt betrifft. Global operierende Akteure, die Märkte im Interesse an Steigerung von Renditen durch Disruptionen revolutionieren, gehören schließlich zum Gegenstandsbereich jener rechts-, medien- und finanzsoziologischen Forschung, auf die Reitz im dritten und letzten Abschnitt seines Buches hinweist.

Überschrieben ist dieser Abschnitt mit „Konflikt- und Untersuchungsfelder“. Bisweilen lesen sich seine jeweiligen Kapitel jedoch eher wie die Aneinanderreihung von Kurzberichten, die Themen empirischer Forschung wie etwa Arbeit, Bildung, Geschlecht und Migration aufrufen, ohne sie wirklich zu entfalten. Von besonderem Belang sind die letzten beiden Kapitel, die das Verhältnis von Soziologie und Ökonomie traktieren sowie das Phänomen soziologischer Zeitdiagnostik. Insbesondere bezüglich Zeitdiagnosen ist ein skeptischer Grundton bei Reitz kaum zu überhören:

„Dass gesellschaftstheoretisches Wissen fortlaufend korrigiert, angereichert und ausgebaut wird, ist wohl nur von akademisch oder politisch stärker strukturierten Zusammenhängen zu erwarten, etwa von marktliberalen oder marxistischen Denkschulen. Zeitdiagnosen werden dagegen die Rolle behalten, die Soziologie in einem ihrer wichtigsten Aufgabenbereiche anzuregen – und nicht selten auf falsche Spuren zu führen.“ (S. 233)

Inwiefern sich das literarische Genre der Zeitdiagnostik zu einer sozialwissenschaftlichen „Theoriealternative“[7] eigenen Rechts entwickelt hat, scheint für Reitz keine Frage zu sein, die seine Aufmerksamkeit verdient. Dass Zeitdiagnosen auf falsche Spuren führen, liegt wohl in der Natur ihrer Sache und muss nicht unbedingt ihren jeweiligen Urheber:innen angelastet werden: Wer zukünftige Trends und mögliche Entwicklungen antizipiert, setzt sich selbstverständlich dem Risiko aus, durch Wirklichkeiten widerlegt zu werden. Interessanter wäre die Frage, welche Funktion ein Genre und Typus soziologischer Stellungnahme erfüllt, der im Gegensatz zu den meisten anderen soziologischen Diskussions- und Forschungsbeiträgen in der Regel mit direkten Resonanzen aus Gesellschaft und Wissenschaft rechnen darf. Wenn es so etwas wie öffentliche Soziologie gibt, ist es gewöhnlich diejenige Soziologie, die mit Zeitdiagnostik aufwartet.

Obwohl das letzte Kapitel mit der Frage nach der zeitgenössischen Beziehung von Soziologie und Ökonomie ein nächstes Problemfeld eröffnet, kann es durchaus als Resümee gelesen werden. Die gesellschaftliche Wirksamkeit ökonomischen Denkens wird auf den vorgeblich klaren und gut definierten, disziplinären Zuschnitt der Wirtschaftswissenschaften zurückgeführt. Der reduktionistische Charakter zeitgenössischer ökonomischer Modell- und Theoriebildung erleichtert die Ausbreitung ökonomischen Denkens. Es vereinfacht seine Vermittlung und griffige Erlernbarkeit an den Business-Schools. Dass die Soziologie in diesem Vergleich den Kürzeren zieht und als eine nur mühselig zu vermittelnde Disziplin abschneidet, leuchtet unmittelbar ein. Tatsächlich spricht die Soziologie nie mit nur einer Stimme und überfordert sich mit ihrem Ehrgeiz, „für das ganze soziale Leben zuständig“ (S. 256) zu sein:

„Allgemein tut sich das Fach schwer damit, jenseits formalisierter qualitativer und quantitativer Forschung anderes zu bieten als abstrakte Großtheorien. Die mittlere Ebene, auf der etwa Formen und Folgen der Naturbeherrschung, die politischen und kulturellen Bedingungen der Profitwirtschaft oder die ökonomische Nachgeschichte des Kolonialismus mit empirischen und theoretischen Mitteln untersucht werden könnten, bleibt oft merkwürdig leer bzw. anderen Fächern überlassen. Wo die Soziologie konkrete ökonomische Zusammenhänge zu denken versucht, begnügt sie sich oft mit Diskursanalysen. […] Die Soziologie sieht sich für Normen, Werte und Deutungsmuster zuständig; zur harten Welt der Eigeninteressen, Marktprozesse und Naturbeherrschung gibt sie höchstens kritische Urteile ab.“ (S. 255)

Ohne den Punkt zu vertiefen, deckt Reitz mit dieser Kontrastierung von Soziologie und Ökonomie einen Grundwiderspruch soziologischen Wissens auf. Dort, wo sich die Soziologie in alltagsweltlichen Praxiszusammenhängen vergesellschaftet, verschwindet nicht selten ihr spezifischer, an wissenschaftlichen Eigensinn gebundener Charakter. Aus Fachwissen werden soziale Gemeinplätze und aus Fachsoziolog:innen wohlmeinende Berater:innen für je singuläre gesellschaftliche Problemlagen.[8] Die traditionelle Wissenssoziologie versuchte diese Eigenart des Faches produktiv zu wenden, indem sie die Soziologie als eine quer zu allen wissenschaftlichen und sozialen Spezialisierungen stehende Bildungsdisziplin verstand. Unter anderem vermittelt über Lebensreform, Jugend- und Volkshochschulbewegung sollte die Nebenfachdisziplin „par excellence“ (Ralf Dahrendorf) in die Gesellschaft eindringen und ihren genuinen Beitrag zur Transformation der bürgerlichen Kultur leisten. Dass sich diese Situation des Faches durch seine Institutionalisierung an den Universitäten und die damit verbundene Wahrnehmung der Disziplin in der Gesellschaft von Grund auf veränderte, die Soziologie sich seither in notorisch krisenhafter Weise auf selbstinduzierte Eigenprobleme borniert, wäre aus der erwähnten, an die wissenssoziologische Tradition anschließende, amerikanischen Debatte um eine „radikale Soziologie“ zu lernen: Eine akademische Disziplin, die sich einerseits willentlich zum Sprachrohr einer weitgehend esoterischen akademisch-intellektuellen Kultur macht, ihren eigenen Erkenntnisfortschritt andererseits an den Fortschritt der Militär-, Industrie- und Werbeforschung koppelt, sorgt dafür, dass ihr an den Universitäten verbleibendes Personal „is to be continually confronted by the contradiction of the roles of teacher, researcher, professional, bureaucrat and radical.“[9]

Womöglich erklärt sich vor dem Hintergrund dieser disziplinären Widersprüche, die zugleich gesellschaftliche Widersprüche sind, warum etwa die von Michael Burawoy angestoßene Diskussion um eine „öffentliche Soziologie“[10] trotz ihrer Reminiszenzen an progressive soziale Bewegungen eine innerakademische Angelegenheit geblieben ist. Einen oft stiefmütterlich behandelten Vordenker des Faches variierend, könnte man in diesem Zusammenhang vielleicht doch daran erinnern, dass auch die Soziologie ohne ihre Aufhebung in sozialen Bewegungen ihre praktische Verwirklichung verfehlen wird.[11] Wie gerade das Buch von Tilman Reitz verdeutlicht, vollzieht sich die Aufhebung oder Verwirklichung von Soziologie freilich nicht selten an Orten, für die sie als akademische Disziplin kein Auge hat. Die grundsätzliche Frage, ob man in die Aufhebung einer Disziplin überhaupt einführen kann oder sich streng genommen nicht nach anderen Vermittlungsformen jenseits von Lehrbüchern, Vorlesungen und Propädeutika umsehen sollte, steht selbstredend auf einem anderen Blatt. Auch das lesenswerte und gedankenreiche Buch von Tilman Reitz vermag auf diese Frage keine definitive Antwort zu geben.

  1. Vgl. M. Rainer Lepsius, Ansprache zur Eröffnung des 17. Deutschen Soziologentages: Zwischenbilanz der Soziologie, in: ders. (Hg.), Zwischenbilanz der Soziologie. Verhandlungen des 17. Deutschen Soziologentages, Stuttgart 1976, S. 1–13.
  2. Vgl. René König (Hg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 1, Stuttgart 1967; ders. (Hg.) Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 2, Stuttgart 1967; Raymond Aron, Hauptströmungen des soziologischen Denkens, Bd. 1, Montesquieu, Auguste Comte, Karl Marx, Alexis de Tocqueville, Köln 1971; ders., Hauptströmungen des soziologischen Denkens, Bd. 2, Émile Durkheim, Vilfredo Pareto, Max Weber, Köln 1971; Institut für Sozialforschung, Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen, Frankfurt am Main 1956; Hans Paul Bahrdt, Schlüsselbegriffe der Soziologie. Eine Einführung mit Lehrbeispielen, München 1984.
  3. Die „Verkulturwissenschaftlichung“ wissenschaftlichen Arbeitens nimmt bekanntlich in einer Fülle von Studien ihren Ausgang, die inzwischen unter dem Oberbegriff „Science and Technology Studies“ firmieren und überwiegend auf den Bereich der Naturwissenschaften bezogen blieben. Jüngere Publikationen dokumentieren, dass auch die Geistes- und Sozialwissenschaften in diese Diskussionen längst miteinbegriffen werden (vgl. etwa Christian Dayé, Historische Epistemologie der Soziologie? Probleme eines Theorietransfers, in: Martin Endreß / Stephan Moebius (Hg.), Zyklos. 5. Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie, Wiesbaden 2019, S. 17–40; Steffen Martus / Carlos Spoerhase, Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften, Berlin 2022.
  4. Vgl. Ulrich Beck, Objektivität und Normativität. Die Theorie-Praxis-Debatte in der modernen deutschen und amerikanischen Soziologie, Reinbek bei Hamburg 1974; Alvin Gouldner, Die Krise der westlichen Soziologie, Reinbek bei Hamburg 1974; J. David Colfax / Jack L. Roach (Hg.), Radical Sociology, New York / London 1971.
  5. Georg Lukács, Die deutsche Soziologie vor dem 1. Weltkrieg, in: Aufbau 2 (1946), S. 476–489.
  6. Vgl. Günter C. Behrmann, Die Erziehung kritischer Kritiker als neues Staatsziel, in: Clemens Albrecht / Günter C. Behrmann / Michael Bock / Harald Homann / Friedrich H. Tenbruck, Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt am Main 1999, S. 448–496.
  7. Fran Osrecki, Die Diagnosegesellschaft. Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität, Bielefeld 2011, S. 291.
  8. Ulrich Beck, Vertreibung aus dem Elfenbeinturm. Anwendung sozialwissenschaftlichen Wissens als Konfliktsteuerung, in: Soziale Welt 31 (1980), S. 415-441.
  9. J. David Colfax / Jack L. Roach, Introduction – The Roots of Radical Sociology, in: dies (Hg.), Radical Sociology, New York / Lindon 1971, S. 3–21, S. 14.
  10. Michael Burawoy, Public Sociology. Öffentliche Soziologie gegen Marktfundamentalismus und globale Ungleichheit, Weinheim 2015.
  11. Vgl. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1976, S. 378–391, S. 384.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer, Stephanie Kappacher.

Kategorien: Epistemologien Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaftstheorie Wissenschaft

Oliver Römer

Dr. Oliver Römer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Georg-August-Universität Göttingen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind soziologische Theorie, Geschichte und Wissenschaftstheorie der Soziologie sowie politische Philosophie.

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