Manfred Gangl | Rezension |

Noch eine Geschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung

Rezension zu „Café Marx. Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule“ von Philipp Lenhard

Philipp Lenhard:
Café Marx. Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule
Deutschland
München 2024: C.H. Beck
624 S., 34,00 EUR
ISBN 978-3-406-81356-6

Den Anlass für dieses neue Buch zur Geschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung bietet der hundertste Jahrestag von dessen Gründung am 3. Februar 1923. Grund genug, sich der ebenso beeindruckenden wie wechselhaften Historie der Einrichtung wiederum zu versichern. Die vorliegende Studie konzentriert sich dabei bewusst auf die Gründergeneration des Instituts, die den Kern jenes Forschungsprogramms ausgearbeitet hat, das dann später als Kritische Theorie bekannt werden sollte.

Unterscheidung von früheren Darstellungen

So legitim das ambitionierte Vorhaben ist, so unvermeidlich stellt sich bei der Lektüre die Frage, worin sich diese neue, immerhin über 600 Seiten umfassende Institutsgeschichte von früheren Darstellungen unterscheidet, allen voran den Pionierarbeiten von Martin Jay, Helmut Dubiel und Rolf Wiggershaus.[1] Jay hatte mit The Dialectical Imagination vor nunmehr 50 Jahren die erste umfangreiche Studie zur Geschichte der frühen Kritischen Theorie und des Instituts für Sozialforschung vorgelegt. Seine Arbeit, die noch auf der Basis einer Oral History möglich gewesen war, berücksichtigte zwar die Lebenserfahrungen der Beteiligten, befasste sich aber hauptsächlich mit dem philosophischen und sozialwissenschaftlichen Denken der Institutsmitglieder. Dubiel analysierte kurz darauf besonders die theoretische Verarbeitung der historischen Erfahrungen und die spezifische interdisziplinäre Forschungsorganisation des Instituts, beschränkte sich aber auf den Zeitraum von 1930 bis 1945. Etwas später lieferte schließlich Wiggershaus mit der weitgehenden Einbeziehung der publizierten Nachlassquellen von Max Horkheimer und Friedrich Pollock und in zeitlicher Ausweitung eine umfassende Darstellung der gesamten Geschichte und theoretischen Entwicklung des Instituts bis in die späten Fünfzigerjahre.

Philipp Lenhard, als Herausgeber von Pollocks Gesammelten Schriften und Autor von dessen Biografie bestens ausgewiesen, wählt einen anderen Zugang zum Thema als seine Vorgänger. Gegenstand seiner Untersuchung ist das Institut für Sozialforschung, das er unter verschiedenen Bedeutungsaspekten analysiert: als ein architektonisch konkretes Gebäude an einem spezifischen Ort; als Treffpunkt von Wissen­schaftler:innen und wissenschaftlich Interessierten; als eine von einem Verein und einer Stiftung getragene und vertraglich in die jeweiligen Wissenschaftsinstitutionen eingebundene Forschungseinrich­tung; und schließlich auch als eine stets sich verändernde Idee, an der sich die Institutsmitglieder orientierten.

Sodann konzentriert sich seine Analyse auf konkrete und abstrakte Räume des Instituts und die jeweils mit diesen verbundenen personellen und institutionellen Netzwerke. Mit diesem spezifischen Ansatz verfolgt Lenhard auch das Ziel, den bislang in der Forschung vernachlässigten Randfiguren, besonders auch den am Institut arbeitenden Frauen, mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Um die verschiedenen Räume zu veranschaulichen, leitet Lenhard jedes Kapitel mit einer literarisch-fiktiven, aber nah an den konkreten Begebenheiten orientierten Darstellung als Eröffnungsszene ein.

Und auch durch die Wahl des Ausgangspunktes unterscheidet sich Lenhards Arbeit von denen seiner Vorgänger. Er beginnt seine Geschichte des Instituts für Sozialforschung nicht mit dessen formeller Gründung, sondern mit dem Kriegserlebnis der Gründergeneration. Das ist insofern konsequent, als die Auswirkungen von Krieg und Revolution und der Zerfall der bürgerlichen Ordnung prägende Schlüsselerlebnisse waren, die für die späteren Mitarbeiter des Instituts politisch und philosophisch bestimmend bleiben sollten. Ist darin eine Reminiszenz an Dubiels Institutsgeschichte zu sehen, die ja systematisch die gesamte Theorieproduktion des Instituts als reflexiven Ausdruck einer historischen Erfahrung zu fassen sucht und der Lenhard nach eigenem Eingeständnis viel verdankt? Mit ebenso viel, wenn nicht noch mehr Berechtigung hätte man allerdings auch vom Revisionismusstreit der deutschen Sozialdemokratie um die Jahrhundertwende ausgehen können, der mit der Debatte zwischen Eduard Bernstein, Karl Kautsky und Rosa Luxemburg nicht nur die wichtigsten Lager repräsentiert, sondern auch die künftigen Spaltungslinien der Partei aufscheinen lässt. Auch der Revisionismusstreit war bereits Ausdruck unterschiedlich interpretierter historischer Erfahrungen, und verstärkt durch Krieg und Revolution erwies er sich für die Gründungsphase des Instituts für Sozialforschung und darüber hinaus als entscheidend für die Theoriebildung.[2] Aber reine Theoriegeschichte will Lenhard gerade nicht betreiben.

Die Vorgeschichte des Instituts

Die Vorgeschichte des Instituts beginnt also mit dem Ersten Weltkrieg. In der fiktiven Einleitungssequenz, mit der Lenhard das erste Kapitel eröffnet, führt er uns durch eine luxuriöse neoklassizistische Villa in Frankfurt am Main, die augenscheinlich zu einem großen Kriegslazarett umgestaltet wurde. Als deren wohltätiger Besitzer, der seine prachtvolle Villa den verwundeten Soldaten als Dienst am Vaterland zur Verfügung stellt, erweist sich Hermann Weil, der spätere Stifter des Instituts für Sozialforschung.

Nach diesem Einstieg erzählt Lenhard nun dessen Biografie und schildert, wie Hermann – 1868 als zehntes Kind des jüdischen Viehhändlers Josef Weil und dessen Frau Fanny in eher bescheidenen Verhältnissen in Deutschland geboren – in Argentinien Karriere machte und binnen weniger Jahre „der weltweit bedeutendste Getreidehändler seiner Zeit“ (S. 18) wurde. 1898 kam Sohn Felix zur Welt, der bereits mit neun Jahren vom Vater zurück nach Frankfurt aufs Gymnasium geschickt wurde, wo er Leo Löwenthal, einen der späteren langjährigen Mitarbeiter des Instituts, kennenlernte. Aus gesundheitlichen Gründen folgten die Eltern bald nach. Während des Ersten Weltkriegs stellte Hermann Weil nicht nur seine Villa als Lazarett zur Verfügung, sondern trat auch als finanzieller Unterstützer der Reichsregierung sowie als Berater des Admiralstabs in Erscheinung. Seine anfängliche harte Haltung, von der besonders sein Eintreten für den uneingeschränkten U-Boot-Krieg zeugt, der bekanntlich den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten zur Folge hatte, wandelte sich erst gegen Kriegsende, als er zunehmend resigniert für einen Verständigungsfrieden eintrat.

Nach diesem Präludium schließt sich das eigentliche Thema des Kapitels an, das Kriegserlebnis der Gründungsgeneration des Instituts für Sozialforschung. Eindringlich und mit über­raschenden Details schildert Lenhard, wie sich Karl Korsch zunächst als Kriegsfreiwilliger meldete, bevor er das Grauen des Krieges kennenlernte und, nach zweimaliger schwerer Verwundung und ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse, schließlich Kriegsgegner und Marxist wurde. Ähnlich erging es Richard Sorge, der – ebenfalls schwer verletzt und ausgezeichnet – sich unter dem Eindruck des Krieges schon früh politisch radikalisierte. Felix Weil litt anfangs darunter, als argentinischer Staatsbürger nicht zum Kriegsdienst eingezogen zu werden. Zwischenzeitlich auf freiwilliger Basis vom Heeresamt als Büro-Offizier eingestellt, wurde augenscheinlich auch er in den letzten Kriegsjahren in seinem Patriotismus gebremst. Sein zwei Jahre jüngerer Schulfreund Leo Löwenthal war während des Krieges in einem Eisenbahnregiment in Hanau stationiert, wo ihm vor allem der alltägliche Antisemitismus zu schaffen machte. Kurt Mandelbaum, der aufgrund seines jungen Alters nicht zum Heeresdienst eingezogen werden konnte, wurde zum Hilfsdienst für Ernte- und Gleisarbeiten nach Schweinfurt abkommandiert. Die vollen Züge mit verwundeten Soldaten, die er während seines Dienstes zu sehen bekam, bestätigten auch ihn schon bald in der Ablehnung des Krieges. Horkheimer und Friedrich Pollock schließlich waren vom Kriegsdienst zunächst zurückgestellt worden, da die väterlichen Unternehmen als kriegswichtig galten, wurden später dann aber doch eingezogen. Im Unterschied zu Horkheimer, der großbürgerliche Distanz zu den Massen wahrte, ließ sich Pollock anfänglich von der weitverbreiteten Kriegseuphorie anstecken. Beide waren zwar weit von der Front entfernt stationiert, fanden aber dennoch genügend Grund zur Verurteilung des Krieges und zur Solidarität mit den Opfern.

Mit dem Ende des Krieges – so Lenhard resümierend – „war die Welt, in der Felix Weil, Karl Korsch, Richard Sorge, Kurt Mandelbaum, Leo Löwenthal, Max Horkheimer und Friedrich Pollock aufgewachsen waren, untergegangen. Für sie, die die erste Phase der Geschichte des Instituts für Sozialforschung gemeinsam mit einigen anderen maßgeblich bestimmen sollten, war der Weltkrieg ein Schock gewesen, der sie zum radikalen Umdenken zwang. Sie wollten die Gesellschaft, die eine solche Barbarei zugelassen, ja hervorgebracht hatte, von Grund auf verändern.“ (S. 28)

Im darauffolgenden Kapitel bilden die Novemberrevolution, der Spartakusaufstand und die Räterepubliken den gesellschaftlichen Erfahrungshintergrund, in den Lenhard die Biografien der weiteren späteren Institutsmitglieder einbettet: So erfahren wir von Herbert Marcuses Tätigkeit im Soldatenrat in Berlin, erleben die Radikalisierung Kurt Albert Gerlachs, des späteren designierten ersten Institutsdirektors, treffen Henryk Grossmann, dessen politische Radikalisierung nicht erst durch den Krieg, sondern schon während seiner Jugend in Polen erfolgte, und begleiten Karl August Wittfogel, der sich 1918 zunächst der USPD und zwei Jahre später dann der KPD anschloss.

Nachdem damit die wichtigsten Protagonisten des Buches samt ihrer biografisch prägenden Erfahrungen eingeführt sind, widmet sich Lenhard sodann den komplizierten Verhandlungen, die Felix Weil und Gerlach Anfang der Zwanzigerjahre mit der Frankfurter Universität und dem in der Angelegenheit zuständigen Preußischen Kultusministerium über die Gründung des Instituts führten. Dabei war es nicht nur dem Verhandlungsgeschick von Weil und Gerlach und der von ihnen verfassten Denkschrift zu verdanken, dass der Plan schließlich zur Ausführung gelangte. Maßgeblichen Anteil daran hatte auch ihr umfangreiches soziales Netzwerk, in dem besonders der Freundeskreis um Felix Weil, Horkheimer und Pollock eine wichtige Rolle spielte.

Ein Blick auf die Liste der Teilnehmer:innen der sogenannten Ersten Marxistischen Arbeitswoche, die Felix Weil auf Anregung von Karl Korsch vom 20. bis zum 28. Mai 1923 einberufen hatte, zeigt, dass das persönliche Netzwerk noch viel weiter gespannt war und zu diesem Zeitpunkt auch noch alle Fraktionen des kommunistischen Lagers umfasste. Das Netzwerk musste ebenfalls mobilisiert werden, als es nach dem plötzlichen Tod Kurt Albert Gerlachs im Oktober 1922 galt, einen Nachfolger für den Posten des Institutsdirektors zu finden. Die Wahl fiel bekanntlich auf Carl Grünberg.

Neue Akzente

An dieser Stelle, wo die Gesamtdarstellungen des Instituts normalerweise beginnen, zeigt sich Lenhards Bemühen um neue Akzente. Im entsprechenden fünften Kapitel, das mit der Festrede Carl Grünbergs zur Institutseröffnung am 22. Juni 1924 einsetzt, zitiert zwar auch Lenhard die bekannte Stelle von der „Diktatur des Direktors“, die im Gegensatz zu den Kollegialverfassungen der meisten anderen Forschungsinstituten stehe. Aber da, wo Grünberg als Gegenbeispiel das kurz zuvor auf die politische Initiative des damaligen Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer hin gegründete Kölner Institut für Sozialwissenschaften anführt – mit den gleichberechtigten Direktoren Max Scheler, Hugo Lindemann, Leopold von Wiese und dem geschäftsführenden Direktor Christian Eckert an der Spitze –, konstruiert Lenhard einen von den geläufigen Deutungen abweichenden Zusammenhang. So nutzt er Grünbergs Erklärung, der zufolge er eine Teilung der Leitung mit „weltanschauungsmäßig und methodisch anders Gerichteten“ ausschließt und darauf besteht, dass an seinem Institut „von vornherein Einheitlichkeit in der Problemstellung und Problembewältigung“ herrschen solle, für eine eigentümliche assoziative Parallele zum Demokratischen Zentralismus Lenins:

„Aber Grünbergs Konzept eines neuartigen Typus der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation ähnelte Lenins Theorie der Avantgarde, wonach das Proletariat aus sich selbst heraus nicht zu revolutionärer Politik fähig sei, weil ihm die tiefen Einsichten des wissenschaftlichen Marxismus fehlten.“ (S. 90)

Die naheliegende Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen dem Frankfurter und dem Kölner Institut wird von Lenhard leider weder hier noch an anderer Stelle geführt.

Auch Grünbergs programmatische Rede wird von ihm nicht weiter analysiert, sondern es werden lediglich dessen (in den ersten beiden Kapiteln bereits eingeführte) Mitarbeiter, Sorge, Grossmann, Pollock, Weil und Wittfogel in Kurzbiografien vorgestellt. Sodann (S. 102–104) widmet sich Lenhard der architektonisch detaillierten Beschreibung des Institutsgebäudes. Wir werden durch alle Stockwerke geführt und auch durch das Kernstück des Hauses: die Bibliothek. Sein Architekt Franz Roeckle, eine politisch sehr schillernde Figur, der sich später offen zum Nationalsozialismus bekennen sollte, hätte zumindest mehr Aufmerksamkeit verdient als die bloße Erwähnung in dem kurzen Text der Bildunterschrift (S. 84).

Außer dem Leiter sind alle übrigen Angestellten der Bibliothek Frauen, einige davon, wie Christiane Sorge oder Rose Wittfogel, die Ehefrauen von wissenschaftlichen Mitarbeitern des Instituts. Lenhard rekonstruiert nicht nur die Lebenswege von allen, sondern kommentiert auch ihre bisher vernachlässigte Beachtung durch die Forschung:

„Es ist bezeichnend, dass nach fünf Jahrzehnten Geschichtsschreibung zur Frankfurter Schule noch immer diese Wissenslücken existieren – für all diejenigen, die das Institut für Sozialforschung jenseits der Welt der ,großen Männer der Geschichte‘ mit Leben füllten und seinen alltäglichen Betrieb am Laufen hielten, interessierte sich bislang kaum jemand.“ (S. 113)

Seinem Vorsatz, den in der Forschung zu wenig beachteten Randfiguren des Instituts, und hier insbesondere den Frauen, mehr Aufmerksamkeit zu schenken, geht Lenhard auch in den anderen Kapiteln der Institutsgeschichte nach. So wird beispielsweise die Arbeit aller Instituts­sekretärinnen ausgiebig gewürdigt. Ohne Juliette Favez, die sich in der Genfer Zweigstelle um alles kümmerte, sowie Alice Maier in New York, „hätte das transnationale Netzwerk, zu dem das Institut für Sozialforschung sich inzwischen ausgewachsen hatte, nicht bestehen können“ (S. 332). Dabei waren die Einflüsse keineswegs nur organisatorischer, sondern auch intellektueller Natur. So waren sowohl Gretel Adorno als auch Margot von Mendelsohn, eine der New Yorker Haupt­sekretärinnen und spätere Privatsekretärin von Horkheimer in Los Angeles, stark in die Ausarbeitung der Dialektik der Aufklärung involviert. Dennoch wurden sie „weder auf dem Buchcover noch in der Vorrede genannt“ (S. 408).

Das Muster der Ortsbegehung wiederholt sich an jeder Wirkungsstätte des Instituts. Auch den New Yorker Sitz auf den Morningside Heights, ein fünfstöckiges Privathaus, durchleuchtet Lenhard Stockwerk für Stockwerk und ordnet jedes Büro den einzelnen Mitarbeiter:innen zu (S. 327). Als Horkheimer, Adorno und Marcuse dann nach Kalifornien umzogen, wandelte sich die Situation. Abgesehen von der Hauptstelle in New York – die europäischen Zweigstellen in Genf, Paris und London waren bereits geschlossen –, gab es nun kein Institutsgebäude mehr.

„Mit dem Umzug nach Kalifornien veränderte sich also auch der räumliche Charakter des Instituts, weg von einem repräsentativen Bürogebäude als Sammelpunkt, hin zu einer dezentralen Netzwerk­struktur.“ (S. 394)

Erst mit der Rückkehr nach Frankfurt und dem Wiederaufbau des Instituts 1951 verfügte die Kritische Theorie dann erneut über ein räumliches Zentrum, das von Lenhard ebenfalls minutiös begangen und beschrieben wird, vom Untergeschoss und Erdgeschoss über die beiden Obergeschosse bis hin zur Dachterrasse und dem späteren Glasaufbau (S. 468).

Die wissenschaftlichen Arbeiten und Forschungsprojekte des Instituts

Neben den maßgeblichen Orten und Personen widmet sich Lenhard in seiner Geschichte auch den wissenschaftlichen Arbeiten und Forschungsprojekten des Instituts. Dazu gehörte etwa die Edition der ersten historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), die in enger Zusammenarbeit mit dem von David Rjazanov geleiteten Marx-Engels-Institut in Moskau erfolgte. Erste Quellentexte veröffentlichte Rjazanov 1925 in der das Editionsprojekt begleitenden und von ihm herausgegebenen Zeitschrift Marx-Engels-Archiv. Neben Teilen der Deutschen Ideologie war es vor allen Dingen der Briefwechsel zwischen Marx und der russischen Sozialrevolutionärin Vera Sassulitsch, der seinerzeit große Aufmerksamkeit auf sich zog.

Inhaltlich ging es in dem Austausch um die (nicht nur) für die Marxisten im vorrevolutionären Russland brennende Frage, ob Russland vor einer Revolution zunächst die leidvollen Erfahrungen des Kapitalismus historisch notwendig durchmachen müsse, oder ob man im Falle eines erfolgreichen Umsturzes nicht vielmehr an die historischen Erfahrungen und existenten Bedingungen der gemeinschaftlich bewirtschafteten Dorfgenossenschaften anknüpfen könne. Marx räumte in einem seiner Briefe ein, dass die von ihm im Kapital entfaltete Analyse weder Gründe für noch gegen die Lebensfähigkeit der ländlichen Dorfgemeinschaft enthalte, er aber davon überzeugt sei, „daß diese Dorfgemeinschaft der Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Rußlands ist“. Lenhard zitiert diese Stelle und fügt dem hinzu:

„Dieses Argument kam den Bolschewiki gerade recht, die ja begründen mussten, warum eine Gesellschaft, die zu über 80 Prozent aus Bauern bestand, einer ,Diktatur des Proletariats‘ unterstellt werden sollte.“ (S. 139)

Aber war dem wirklich so? Kam ihnen Marx’ Antwort nicht vielmehr ungelegen, da sie eher die Position der mit den Bolschewiki konkurrierenden Narodniki unterstützte?

Doch davon unabhängig: Eigenartig ist, dass Lenhard die in diesem Zusammenhang einschlägige Studie Kurt Mandelbaums übergeht, die genau diesen Problemkomplex behandelt und dabei auch die vorstehend zitierte Antwort von Marx an Vera Sassulitsch diskutiert. Kurt Mandelbaum hatte 1929 die Erstveröffentlichung des Briefwechsels von Marx und Engels mit dem russischen Übersetzer des Kapitals besorgt, die er mit einer fundierten Einleitung der darin behandelten Thematik versah,[3] die auch Karl Korschs Anerkennung fand. Neuerliche Beachtung erfuhren Mandelbaums Dokumentation und seine Analyse rund vierzig Jahre später im Kontext der Studentenbewegung, wo sie eine prominente Rolle in den Debatten um organisa­torisch-strategische Fragen spielten. Seine Schriften wurden wieder aufgelegt und sowohl Bernd Rabehl als auch Rudi Dutschke setzten sich intensiv mit Mandelbaums Thesen auseinander. Hinweise auf diese Rezeptionslinien sucht man bei Lenhard vergeblich.[4]

Stattdessen begegnen wir Mandelbaum in der Diskussion mit einem japanischen marxistischen Studenten. Lenhard schildert die Episode zum einen, um das intellektuelle Niveau zu verdeutlichen, auf dem am Institut Ende der Zwanzigerjahre im Pollock-Kreis diskutiert wurde, hier im Zusammenhang der Marx’schen Wertformanalyse (S. 160 ff.), zum anderen aber auch, um die politische Bedeutung der Begriffsdifferenzierungen von Wertgröße und Wertsubstanz bei Karl Korsch zu demonstrieren. Die Analyse des Werts als abstrakte menschliche Arbeit wird dann in anderem Zusammenhang, in Bezug auf den Antisemitismus, nochmals aufgenommen (S. 384 ff.).

Die unentbehrliche theoretische Auseinandersetzung mit den präsentierten Arbeiten und Forschungsprojekten des Instituts fällt ansonsten unterschiedlich intensiv aus. Beginnend mit Horkheimers Bemerkungen zu Wissenschaft und Krise, werden alle Beiträge im legendären Doppelheft des ersten, 1932 erschienenen Jahrgangs der Zeitschrift für Sozialforschung sehr gründlich vorgestellt und analysiert (S. 284–300). Die übrigen Vorstellungen der theoretischen wie empirischen Arbeiten des Instituts sind hingegen eher summarischer Natur: Von den Studien über Autorität und Familie (1936) werden die theoretischen Einleitungsartikel von Erich Fromm, Horkheimer und Marcuse in gerade mal einer einzigen Zeile lediglich erwähnt, aber nicht diskutiert; besprochen werden dafür dann wiederum alle fünf Berichte über verschiedene empirische Erhebungen (S. 307–311), darunter der wichtige Vorbericht zur Arbeiter- und Angestellten­erhebung von Fromm. Bei der Präsentation der großen, weitgehend empirischen Arbeiten der Studies in Prejudice, die zwischen 1949 und 1950 in fünf Bänden erschienen, beschränkt sich Lenhard auf eine knappe Vorstellung der Autoren und Titel der Einzelbände (S. 397–400), wohingegen Entstehungskontext, Arbeitsweise und Inhalt der Dialektik der Aufklärung ausführlich präsentiert (S. 413 ff.) und besonders die Thesen zum Antisemitismus eingehend These für These analysiert (S. 423–430) werden.

Überraschendes und Kritisches

Möchte man nun die genannten Arbeiten im Text ausfindig machen, so erweist sich das Inhaltsverzeichnis als keine große Hilfe, im Gegenteil. Es versteckt den Inhalt mehr als dass es ihn anzeigt. Nur die Studien über Autorität und Familie sind – in leicht abgewandelter Schreibweise – explizit genannt. Die Antrittsreden Grünbergs und Horkheimers, immerhin markante programmatische Beiträge zur Geschichte des Instituts, sucht man im Inhaltsverzeichnis vergebens. Letztere findet sich im Text am Ende des Kapitels „Im Kaffeehaus“, allerdings unter falschem Datum (S. 227). Da, wo man unter der Überschrift „Die Angestellten am Vorabend des Dritten Reiches“ die erst in den 1980er-Jahren unter dem Titel „Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches“ veröffentlichte Studie von Fromm vermuten würde, ist sie nicht zu finden, da sie bereits vorher im Kapitel „Auf der Couch: Das Frankfurter Psychoanalytische Institut“ abgehandelt worden war, wo man sie nun wahrlich nicht erwartet hätte.

Auch an anderer Stelle ist man nicht vor Überraschungen gefeit. Im 15. Kapitel, „In der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts: Die Pariser Zweigstelle“ überschrieben, geht es zwar tatsächlich um Walter Benjamin, wie der Titel vermuten ließ, aber weniger um dessen Arbeiten zu Paris, als vielmehr um dessen finanzielle Probleme. Auch die Pariser Zweigstelle wird knapp auf ein, zwei Seiten erwähnt, das Hotel Lutétia architektonisch von innen und außen ausführlich beschrieben, und die Autoritätsstudie ebenfalls noch abgehandelt. Den größten Teil umfasst jedoch die völlig verrückte Geschichte des Horkheimer-Schülers Willy Dörter, der in Deutschland wegen antifaschistischer Aktivitäten festgesetzt wurde und im KZ einen Schwerverbrecher, einen gewissen Eugen Weidmann kennenlernte, den er nach seiner eigenen Entlassung und der durch das Institut ermöglichten Flucht nach Paris unvermutet dort wiedertreffen sollte. Jener Weidmann hatte inzwischen mehrere Morde verübt – auch Dörter stand angeblich auf der Todesliste –, wurde aber von der französischen Polizei gefasst, zum Tode verurteilt und öffentlich hingerichtet. Die plötzliche öffentliche Aufmerksamkeit, in die Dörter nun rückte und aus der er Kapital zu schlagen versuchte, wurde für das Institut ein zunehmendes Risiko, weshalb man sich schließlich dazu veranlasst sah, alle Kontakte abzubrechen.

Kritisch zu vermerken ist schließlich die wenig benutzerfreundliche Organisation der Fußnoten, die nicht im laufenden Text, sondern als „Anmerkungen“ gebündelt am Ende des Bandes untergebracht und unübersichtlich in Einzelkapitel aufgeteilt sind, wo sie wenig zum Verständnis und zur Orientierung beitragen. Ärgerlich ist zudem, dass dem Buch ein Sachverzeichnis fehlt. So bleibt einem nur das für die Themensuche ungeeignete Personenverzeichnis, das zudem nur die Namensnennungen im Text, nicht aber in den Fußnoten verzeichnet. Hier hätte man sich vom Verlag mehr Sorgfalt bei der Gestaltung einer derart umfangreichen Publikation gewünscht.

Blättert man in dem Personenverzeichnis, so fällt unter anderem auf, dass Axel Honneth, der langjährige Leiter des Instituts für Sozialforschung, darin nur zwei Mal genannt ist: einmal als Urheber eines Zitats zu seinem Vorgänger Ludwig von Friedeburg, das andere Mal in seiner Eigenschaft als dessen Nachfolger. Zu der Arbeit des Instituts unter Honneths Leitung jedoch erfährt man sonst nichts weiter. Der Umgang mit Honneth steht dabei exemplarisch für die geringe Aufmerksamkeit, welche die Rezeptionsgeschichte der älteren Frankfurter Schule und die jüngere Geschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in Lenhards Buch erfahren.

Der Einstieg in das „(Nach-)Kritische Theorie“ überschriebene Schlusskapitel ist durchaus originell. So demonstriert Lenhard anhand der Redner des im Juni 1974 in Frankfurt veranstalteten Festakts zum 50. Jahrestag der Institutseröffnung, „dass das Institut für Sozialforschung nicht mehr das Zentrum dieser Schule [der Frankfurter Schule] war. Sie war jetzt überall, in San Diego [Marcuse], in Berkeley [Löwenthal], in Hannover [Negt], in Starnberg [Habermas], und ja, auch in Frankfurt [Schmidt].“ (S. 528) Zwar gibt es das Institut für Sozialforschung in Frankfurt bis heute, aber die Frankfurter Schule wirkte auch außerhalb von Frankfurt nach und weiter: In Hannover hatte der kürzlich verstorbene Oskar Negt seine Theorievariante gelehrt und Gleichgesinnte um sich geschart; in Lüneburg hatte der Adorno-Schüler Hermann Schweppenhäuser einen kleinen Kreis aufgebaut, der zudem mit dem von seinem Sohn Gerhard Schweppenhäuser und Dietrich zu Klampen gegründeten Verlag über ein eigenes Publikationsorgan verfügte; in Bremen war Alfred Sohn-Rethel höchst aktiv und bemühte sich zusammen mit Helmuth Reichelt und Hans-Georg Backhaus um eine Rekonstruktion der Kritik der politischen Ökonomie und die sogenannte neue Marx-Lektüre. Geht man über Philosophie und Sozialwissenschaften hinaus und berücksichtigt nicht nur institutionelle akademische Zusammenhänge, so sind es heute auch viele verstreute einzelne Forscherinnen und Forscher in den verschiedensten Disziplinen, die das Erbe der Frankfurter Schule hochhalten. Dessen Umfang und Reichweite werden bei Lenhard allerdings nur ansatzweise deutlich. So wird das gerade einmal sieben Seiten umfassende Kapitel, das nicht weniger als 50 Jahre abdecken soll, zwar seinem Titel, nicht aber den Leseerwartungen gerecht.

Resümee

Welchen Gesamteindruck hinterlässt Lenhards Studie und wie verhält sie sich zu den anderen, eingangs erwähnten Arbeiten? Bemerkenswert ist zunächst der weite von ihr behandelte Zeitraum: von der Vorgeschichte des Instituts, beginnend mit dem Ersten Weltkrieg, zu dessen Gründung, über die frühen Jahre unter Grünberg und die Neuausrichtung unter Horkheimer sowie die Zeit des Exils in Europa und den USA bis hin zur Phase des Neubeginns in der frühen Bundesrepublik und den Jahrzehnten bis zu Horkheimers Tod 1973 – ergänzt um kursorische Bemerkungen zur jüngeren, bis in die Gegenwart reichenden Institutsgeschichte. Interessant und originell sind auch die formalen und inhaltlichen Akzente von Lenhards Darstellung. In jedes der 22 Unterkapitel werden die Leser:innen mit einer fiktiven Einleitungsgeschichte eingeführt; die verschiedenen Standorte des Instituts, aber auch viele andere Gebäude werden architektonisch detailliert von außen und innen beschrieben, die Orte mit ihrer jeweiligen Umgebung topografisch dargestellt; die Institutsangehörigen und die vielen, die mit dem Institut Kontakt hatten, werden in Kurzbiografien vorgestellt, wobei Lenhards besondere Aufmerksamkeit den Frauen des Instituts und bisher vernachlässigten Randfiguren gilt; zudem werden die persönlichen und institutionellen Netzwerke dargestellt und schließlich auch die verschiedenen Etappen der Theoriebildung der Kritischen Theorie analysiert. Die Umsetzung der verschiedenen Inhalte ist dabei nicht immer gelungen. Auch sind die häufig dicht ineinander verwobenen Stränge und Aspekte mitunter verwirrend und irritierend.

Ins Positive gewendet, lassen sich die vorstehend geschilderten Eindrücke aber auch als Leseempfehlung formulieren. Wenn man keine bestimmten Erwartungen an den Text hegt, sondern sich einfach in die Erzählung hineinziehen lässt, in ihre Verzweigungen und Verästelungen, hat man nicht nur das größte Lesevergnügen an dem unterhaltsam komponierten und spannend geschriebenen Text, sondern zieht auch inhaltlich den größten Gewinn aus der in ihrem Facettenreichtum überwältigenden Darstellung. Sie tritt neben die anderen, klassisch gewordenen Gesamtdarstellungen und bietet mit ihrer Konzentration auf bislang weniger prominent behandelte Personen und Aspekte ganz neue und unvermutete Einblicke in die hundertjährige Geschichte des Instituts für Sozialforschung.

  1. Martin Jay, The Dialectical Imagination: A History of the Frankfurt School and the Institute of Social Research 1923–1950, Boston, MA / Toronto 1973 (dt.: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950, Frankfurt am Main 1976; Helmut Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Studien zur frühen Kritischen Theorie, Frankfurt am Main 1978; Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte – Theoretische Entwicklung – Politische Bedeutung, München/Wien 1986.
  2. Vgl. Manfred Gangl, Politische Ökonomie und Kritische Theorie. Ein Beitrag zur theoretischen Entwicklung der Frankfurter Schule, Frankfurt am Main / New York 1987, Kap. 1 u. 2.
  3. Die Briefe von Karl Marx und Friedrich Engels an Danielson (Nikolai-on), mit einem Vorwort von Prof. Gustav Mayer, hrsg. u. eingel. von Kurt Mandelbaum, Leipzig 1929. Mandelbaums Einleitung wurde wieder veröffentlicht unter dem Titel „Marx, Engels, Lenin. Zur Vorgeschichte der Russischen Revolution“, in: Kurt Mandelbaum, Sozialdemokratie und Leninismus. Zwei Aufsätze, Berlin 1974, S. 48–78.
  4. Dies ist umso erstaunlicher, als Lenhard die biografischen Beiträge von Matthias Greffrath und Martin Jay aus dem zu Mandelbaums 75. Geburtstag erschienenen Sonderheft der Zeitschrift Development and Change zitiert, in dem auch eine von Mandelbaum selbst ins Englische übersetzte Version der Einleitung abgedruckt ist. Vgl. Development and Change 10 (1979), Heft 4.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

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Manfred Gangl

Manfred Gangl war von 1992-2012 Maître de conférences für Germanistik an der Université d’Angers, Département d’Allemand. Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter für Soziologie und Politologie an der Hochschule Fulda, Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften. Von 1999-2012 leitete er die ‘Groupe de recherche sur la Culture de Weimar’ am Maison des Sciences de l’Homme in Paris, der er seit 1982 angehört. Publikationen in den Bereichen Politische Philosophie, Kritische Theorie, Philosophische Anthropologie, Intellektuelle Strömungen der Weimarer Republik, Disziplinengeschichte, Deutsch-französischer Wissenschaftstransfer.

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