Dirk Baecker | Essay | 18.10.2016
Offen? Geschlossen? Komplex!
Oder: Was heißt Gesellschaft?
„Geschlossene Gesellschaften“, im Plural, lautete der Titel des diesjährigen 38. Soziologentags in Bamberg. Er liefert eine gute Gelegenheit, sich dieses möglicherweise anspruchsvollsten Begriffs der Soziologie zu vergewissern. Viele Soziologen interessieren sich eher für Normen und Werte, Rollen und Handlungen, Armut und Ungleichheit, Komplexität und Ungewissheit. Viele folgen den Klassikern, Emile Durkheim, Max Weber oder Georg Simmel, und sprechen nicht von „der“ Gesellschaft, sondern von Situationen, Prozessen oder Formen der Vergesellschaftung, die immer ungewiss sind und von genau dem Erleben und den Handlungen abhängig sind, die sich ihrerseits an Vergesellschaftungsmodalitäten orientieren. Dieser zirkuläre Zusammenhang eines Makrophänomens wie „Gesellschaft“ und einer Mikrologik wie derjenigen einer „Handlung“ macht den Gesellschaftsbegriff soziologisch interessant. Wieviel Zwang und wieviel Gestaltbarkeit stecken in einer Gesellschaft? Wie ist die Abhängigkeit jeder einzelnen Handlung von Gesellschaft zu verstehen, wenn es nicht erst in der modernen und liberalen Gesellschaft darauf ankommt, Handlung als unabhängig zu denken? Sollte man, dazu neigen nicht nur manche Soziologen, von vornherein Gesellschaft normativ als „gute Gesellschaft“ denken und versuchen, die Abweichungen von der Norm zu verstehen und gesellschaftspolitisch zu korrigieren? Was heißt in diesem Zusammenhang „Geschlossenheit“? Und wären „geschlossene Gesellschaften“ im Plural verschiedene Varianten von Schließungen? Die einen schützen sich vor Zuwanderung, die anderen vor Kapitalbewegungen und die dritten vor Anfechtungen ihres Weltbilds?
Gesellschaft ist spätestens für Soziologen wie Talcott Parsons, Pierre Bourdieu oder Niklas Luhmann nicht das große Ganze, von dem wir Menschen die Teile wären, sondern ein intervenierender Faktor, eine Relation, die die Situation, in der wir gerade stecken, mit möglichen anderen Situationen verbindet oder sie von anderen unterscheidet. Schon Auguste Comte, der Erfinder der Soziologie, sprach davon, dass die eigentliche soziologische Herausforderung darin besteht, das zu verstehen, was er die „Statik“ der Gesellschaft nannte und was wir heute eher als dynamischen Zusammenhang des Verschiedenartigen beschreiben würden: Gesellschaft ist die Gleichzeitigkeit des Unterschiedlichen. Familie und Polizei, Schule und Betrieb, Politik und Kunst, Wissenschaft und Religion existieren gleichzeitig. Sie beziehen sich aufeinander, um sich voneinander abzugrenzen. Wie das funktioniert und funktionieren kann, war für Comte das große Rätsel. Und bereits Comte formulierte, dass eine Entwicklung zu einer „immer größeren Unvollkommenheit“ eine positive Rolle in dieser Dynamik spielen kann. Unvollkommenheiten schaffen Spielräume – ganz abgesehen davon, dass man wach und lebendig bleibt, wenn man es mit ihnen zu tun hat. Streit, Konflikt, Gegensatz und Widerspruch können in diesem Zusammenhang, wie es später vor allem Gabriel Tarde beschrieben hat, eine positive Rolle spielen. Sogar der Krieg – vielleicht sogar das Böse? – erfüllen eine positive Funktion, indem sie Grenzen nicht nur durchbrechen, sondern auch neu ziehen.
Die aktuelle Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die auf verschiedenen Ebenen mit verschiedenen Mechanismen der Schließung und Öffnung experimentiert. Die Familie öffnet sich für heterogene Lebensentwürfe und schließt sich im Werben darum, dennoch geliebt zu werden. Organisationen öffnen sich für die Wünsche der Kunden und schließen sich im Bemühen um ihre Identität. Programme politischer Parteien öffnen sich für neue Ideen und schließen sich zugunsten ihrer Klientel. Kirchen öffnen sich für das bunte Leben und schließen sich im Bestehen auf wenigen Dogmen. Die Wissenschaft öffnet sich für neue Gegenstände und schließt sich im Beharren auf Theorie und Methode. Jedes Individuum öffnet sich für eine unbekannte, nur in der Sterblichkeit abgesicherte Zukunft, und schließt sich im Bemühen um eine wiedererkennbare Biographie. Und so weiter und so fort.
Wenn es eine elementare soziologische Einsicht gibt, dann diese in das wechselseitige Bedingungsverhältnis, vielleicht sogar den gegenseitigen Steigerungszusammenhang von Öffnung und Schließung. Geschlossene Gesellschaften wehren sich dagegen, riskieren damit jedoch, umso mehr Interesse am Außen zu wecken. Wer ist gebannter von der „Dekadenz“ der Welt als ein Fundamentalist? Offene Gesellschaften machen es sich hier leichter, können sie doch darauf vertrauen, dass sich Schließungen bereits in dem Moment einstellen, in dem neue Handlungen an vorherige Handlungen anschließen. So oder so geht es nur um Nuancierungen entweder in die eine oder die andere Richtung. Man kann sich nicht vollständig und ausschließlich für die Öffnung oder die Schließung entscheiden.
Wegen dieser Nuancierung ist es lohnenswert, sich genauer anzuschauen, welche Art von Öffnung und von Schließung verschiedene Gesellschaften betreiben. Das lohnt sich regional und lohnt sich historisch. Regional hat man es zwar immer schon mit der Weltgesellschaft zu tun, die der Schweizer Soziologe Peter Heintz einst so präzise auf den Begriff einer Ereignisgesellschaft gebracht hat. Doch ändert dieser Umstand nichts daran, dass man sich politisch und wirtschaftlich, kulturell und religiös stets nur um ein Mehr oder Weniger an Schließung respektive Öffnung bemühen kann. Und jedes neue Ereignis kann die gerade gefundene Balance stören. Man kann nicht schließen, ohne immer wieder einen Blick über die Grenze zu werfen.
Der historische Blick ist eher intellektuell als soziologisch interessant. Darauf hat Comte ebenfalls bereits hingewiesen. Wer von historischen Epochen und Entwicklungen spricht, verliert das eigentlich problematische Detail zu schnell aus den Augen. Allerdings hat Comte sich an diese Regel selbst nicht gehalten. Die Unterscheidung eines „kindlich“ religiösen von einem „jugendlich“ metaphysischen und „männlich“ positiven oder wissenschaftlichen Zeitalter stammt immerhin von ihm. Versteht man solche Epochenunterscheidungen heuristisch, als Teil der Diagnose einer in ihren Konturen immer undeutlichen Gegenwart, darf man sich auf das mit solchen Epochenunterscheidungen angesteuerte, intellektuelle Spiel ruhig einlassen. Wie robust es den Kulturwissenschaften im Anschluss an Marshall McLuhan gelungen ist, orale Stammesgesellschaften von literalen Hochkulturen, der modernen Buchdruckgesellschaft und einer aktuellen Gesellschaft elektronischer sowie digitaler Medien zu unterscheiden, hat die Soziologie in jüngerer Zeit durchaus beeindruckt. Und in der Tat lässt sich der Gedanke einmal durchspielen, was Öffnung und Schließung unter den medialen Bedingungen der Mündlichkeit, der Schriftlichkeit, des Buchdrucks und der digitalen Medien bedeutet. Wir hätten es gegenwärtig dann mit einer Gesellschaft 4.0 zu tun.
Die Stammesgesellschaft (Gesellschaft 1.0) schließt sich um Haus, Clan und Dorf. Sie öffnet sich für Gäste, Fremde, andere Stämme und natürlich für die Geister. Gruppen, so hat die große britische Kulturanthropologin Mary Douglas derartige Vorgänge beschrieben, unterscheiden sich von Rastern oder Netzen. In Gruppen wird man vergemeinschaftet und in Netzen, das heißt im Vergleich des Innen mit anderen Möglichkeiten, wird man zum Individuum. Man kann sich für Drinnen oder Draußen entscheiden, aber entscheiden und immer wieder neu entscheiden muss man sich. Die antike Hochkultur (Gesellschaft 2.0) schließt sich um die Stadt, die soziale Schichtung und die aristokratische Herrschaft einschließlich der Haltung von Sklaven. Sie öffnet sich für den Fernhandel (zum großen Kummer von Platon und Aristoteles), das Schicksal und den ebenso kosmologischen wie theologischen Streit um Zweck und Ziel des großen Ganzen. Die moderne Buchdruckgesellschaft (Gesellschaft 3.0) schließt sich um Ideen des Humanismus, der Aufklärung und Vernunft und öffnet sich für die Neugier, das Wissen, die Kritik, die ungeordnete Ordnung der Bibliotheken, die wankelmütige öffentliche Meinung, die spekulative Investition, die in die Seele des Individuums zurückgenommene, fast schon private Religion, die allgemeine Schulbildung und das Experiment der Demokratie.
Fangen wir nicht jetzt erst an, die Dynamik der modernen Gesellschaft zu verstehen? Die Gesellschaft der digitalen Medien (Gesellschaft 4.0) stellt uns vor neue Herausforderungen. Sie schließt sich für eine neuartige Auseinandersetzung mit Technologien, die nicht mehr kausal kontrollierbar sind, sondern eine unvorhersehbare komplexe Eigendynamik an den Tag legen. Was offline stattfindet und nicht online vernetzt werden kann, verliert dramatisch an Interesse. Über Posts, Fotos und Videos wird es schnellstmöglich wieder ins Netz hineingeholt. Und zugleich öffnet sich diese Gesellschaft für neue Typen der Vernetzung von Politik und Wirtschaft, Kunst und Religion, Wissenschaft und Alltag, die den rationalen Vorstellungen der Moderne nicht mehr entsprechen. Es ist nicht mehr die Vernunft, sondern die Komplexität, die am meisten fasziniert. Die Idee der Komplexität bringt die Einsicht in den Zusammenhang, die Dialektik, von Öffnung und Schließung am besten auf den Punkt. Denn komplex ist, was von Umständen abhängig ist, die es selbst nur zum Teil kontrollieren kann. Das gilt für das Leben, das Bewusstsein und eben auch: die Gesellschaft.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.
Kategorien: Gesellschaft Gesellschaftstheorie
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