Frank Nullmeier | Essay |

Ontologiepolitik

Eine Skizze

I. Eine Beobachtung und ein Benennungsversuch[1]

In den letzten Jahren ist eine große Anzahl an wissenschaftlichen und politischen Stellungnahmen erschienen, die sich mit Fragen nach dem „Wesen“, der „Identität“, der „Grundcharakteristik“, den zentralen „Merkmalen“ oder den „Eigenschaften“ von Nicht-Menschen beschäftigen. In diesen Debatten wird der Status von natürlichen und technischen Entitäten gleichermaßen zum Thema. Das gilt zunächst und zuvorderst für das grundlegende Verständnis von Natur, das unter anderem in Diskursen über „Rechte der Natur“ oder eine „Überwindung des Natur-Kultur-Dualismus“ verhandelt wird.[2] Es gilt ebenso für das Verständnis (derzeit noch nicht existierender) hochentwickelter technischer Artefakte wie autonome und empfindungsfähige Roboter oder KI-Systeme.[3] Ebenfalls diskutiert wird in diesem Zusammenhang über die Bedeutung von technologischen Grundmodifikationen des Menschen im Zuge von Enhancement-Strategien des Transhumanismus, gegen die sich wiederum kritische posthumanistische Ansätze einer Überwindung des Anthropozentrismus wenden.[4] Einen besonderen Stellenwert nehmen Diskussionen über Tierrechte und Tierschutz ein.[5] Und schließlich wird auch über die Vielfalt von Arten und Lebewesen im Zuge der Biodiversitätsdiskussion gesprochen,[6] ergänzt um Überlegungen, nicht nur Tiere und Pflanzen als Rechteträger anzuerkennen, sondern auch Flüsse, ganze Ökosysteme oder das Klima. In der Philosophie von alters her traktierte Fragen[7] erhalten im Zuge dieser Debatten einen neuen politischen Sinn und angesichts der Entwicklung neuer, potenziell naturzerstörerischer Technologien auch zunehmend Brisanz: Was ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier? Was zählt als Lebewesen? Stellt die Erschaffung eines Übermenschen eine reale Möglichkeit dar? Schafft der Mensch sich ab? Sind Roboter oder KI-Systeme den Menschen überlegene Akteure?

In einem weitgefassten Sinne geht es in diesen Diskursen um die „Identität“ nicht-menschlicher Entitäten, mithin eine neue Form von Identitätskonflikten. Wenn man politische Auseinandersetzungen um soziale Identitäten als „Identitätspolitik“ bezeichnen will (ohne damit negative oder positive Wertungen zu verbinden), so ließen sich die neuartigen Deutungskonflikte um den Status von nicht-menschlichen Entitäten als eine Art zweite Identitätspolitik verstehen. Um etwaige Missverständnisse zu vermeiden und zudem nicht gleich zwischen die verhärteten Fronten einer festgefahrenen politischen Kontroverse zu geraten, möchte ich für die hier zu erörternden Deutungskämpfe jedoch stattdessen den Begriff der „Ontologiepolitik“ vorschlagen,[8] definiert als die Gesamtheit gesellschaftlicher Auseinandersetzungen um den Seinsstatus, also den ontologischen Status von Nicht-Menschen und die damit verbundenen Konsequenzen für deren soziale, politische und rechtliche Behandlung. Der Begriff der „Ontologiepolitik“ ist bewusst so angelegt, dass er die unterschiedlichsten Entitäten erfassen kann. Das hat den entscheidenden Vorteil, nicht jede einzelne Entität und deren jeweiligen Status gesondert diskutieren zu müssen, was oft dazu führt, dass argumentative Zusammenhänge, Parallelen oder Widersprüche im unverbundenen Nebeneinander der Spezialdiskurse unentdeckt bleiben oder verloren gehen. Ein weiterer Vorteil des Begriffs liegt darin, dass er einen Überblick über die verschiedenen Diskursstränge bietet und den gemeinsamen Bezug auf die behauptete Zentralstellung des Menschen als dem einzigen der reflexiven Vernunft fähigen Lebewesen bewahrt.

Ontologiepolitik in dem hier verstandenen Sinne umfasst nicht nur die Verortung von Entitäten in einem naturwissenschaftlich-philosophischen Klassifikationssystem,[9] das jeder Entität einen bestimmten ontologischen Status zuweist, sondern auch die Erörterung der mit jeder Klassifizierung verbundenen rechtlichen, politischen und sozialen Konsequenzen. Ontologische Statuszuweisungen schaffen Identitäten und beeinflussen damit die Art und Weise, wie Menschen mit den derart bestimmten Entitäten umgehen. Sie sind mithin nicht bloße Ordnungskategorien, sondern Akte, mittels derer Entitäten eine in allen sozialen Kontexten wirksame Wertigkeit verliehen wird. Es ist vor allem dieser Aspekt, der Fragen der ontologischen Klassifikation von Entitäten zu einem ebenso brisanten wie umkämpften Feld politischer Macht- und Deutungskämpfe werden lässt – vom Natur- und Tierschutz über den Artenschutz bis hin zur Klimapolitik und dem Schutz vor der Enteignung des Menschen durch Roboter oder KI-Systeme.

II. Wie lässt sich im Feld der Ontologiepolitik argumentieren?

Die aktuellen Diskussionen über den ontologischen Status nicht-menschlicher Entitäten speisen sich aus recht unterschiedlichen, ja durchaus widersprüchlichen Motiven. Auf der einen Seite sind es Hoffnungen auf einen ökologischen, von Nachhaltigkeitskriterien bestimmten Umgang mit der Natur, die in Forderungen nach einem anderen Status und einem besseren Schutz natürlicher Entitäten zum Ausdruck kommen. Leitend ist hier ein Streben des Menschen nach Selbstdezentrierung, Selbsteinschränkung oder Selbstentmächtigung gegenüber Tieren, Pflanzen, dem Klima, Ökosystemen, relativ unberührten Gebieten etc.: Wir wollen uns als Menschen argumentativ davon überzeugen und diskursiv dazu verpflichten, in Zukunft weniger mächtig und beherrschend zu sein, indem wir bestimmte natürliche Entitäten ontologisch aufwerten.

Auf der anderen Seite sind es Ängste, dass Menschen im Zuge immer neuer Innovationen ungewollt entmächtigt werden, sei es von Robotern, KI-Systemen, Algorithmen oder anderen technischen Eigenschöpfungen, sei es von Enhancement-Strategien, Züchtungsmodellen oder weiteren Versuchen, über die bestehenden biologischen Grenzen des Menschen hinaus zu gelangen.

Hoffnungen wie Ängste führen zu einer wachsenden Unsicherheit über den zukünftigen Stellenwert des Menschen zwischen (sonstiger) Natur und technischen Eigenschöpfungen. Was ist der Mensch? Die klassische Frage der Anthropologie ist eine Frage der Selbstvergewisserung gegenüber nicht-menschlichen Entitäten geworden – und sie wird heute durchaus in defensiver Haltung gestellt. Sie ist positiv-defensiv, wenn es darum geht, Naturentitäten aufzuwerten, um eine nachhaltigere Lebensweise gegen uns selbst durchzusetzen. Sie ist negativ-defensiv, wenn sie darauf abzielt, eine Gleich- oder Höherrangigkeit von technischen Entitäten zu verhindern, die in bestimmten Leistungsdimensionen bessere Ergebnisse erzielen als die fähigsten Menschen.

Dieser kleinen und stark vereinfachenden Skizze der politisch-emotionalen Hintergründe der aktuellen Debatten liegt jedoch bereits ein erster ontologischer Klassifikationsversuch zugrunde: Mit der Unterscheidung zwischen Naturentitäten und technischen Eigenschöpfungen ist eine ontologische Klassifikation ins Spiel gebracht worden, die selbst erst kritischer Reflexion standhalten müsste. Solange man diese rudimentäre Klassifikation jedoch versuchsweise weiterverwendet – und das soll hier geschehen –, stellt sich sofort die Frage, wie es gelingen könnte, selbstgewählte Entmächtigung gegenüber Naturidentitäten mit einer Selbstbehauptung gegenüber technischen Eigenschöpfungen zu verbinden. Die Vernunftbegabung, die traditionell herangezogen wird, um die Sonderstellung des Menschen zu begründen, kann bei nicht-menschlichen Naturentitäten bestenfalls ansatzweise festgestellt werden, wohingegen von KI-Systemen angenommen wird, dass sie den Menschen zumindest in bestimmten Dimensionen der Vernunft überlegen sein werden.

II.1. Argumentationsmöglichkeiten

Angesichts dieser Ausgangslage bestehen vier Möglichkeiten der Argumentation. Die Bezeichnungen für die einzelnen Argumentationstypen lassen sich sowohl deskriptiv als Bezeichnungen für zukünftige Entwicklungen des argumentativen Verständnisses von nicht-menschlichen Entitäten als auch normativ als Bezeichnungen für anzustrebende oder abzulehnende Argumentationen interpretieren.

1) Eine doppelte Entmächtigung erfolgte dann, wenn sowohl Naturentitäten als auch technische Entitäten in ihrem jeweiligen ontologischen Status gegenüber dem Status von Menschen aufgewertet würden. Dafür müssten sich beide Reklassifizierungen argumentativ durchsetzen und entsprechende gesellschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen. Einige würden eine solche Entwicklung vermutlich als konsequente Selbstrelativierung des Menschen beschreiben, andere hingegen als eine die Aufklärung hinter uns lassende Dezentrierung des Menschen.

2) Dem steht als weitere Möglichkeit die Bewahrung eines tradierten Humanismus mit seiner Befestigung der Grenze zwischen dem Menschen und allen anderen, natürlichen wie technischen Entitäten gegenüber. Die Versuche, derartige Entitäten aufzuwerten, ihnen einen anderen Stellenwert zu geben als im modernen Dualismus von Natur und Kultur, würden in diesem Fall argumentativ zurückgewiesen, was auch hieße, dass die Bestrebungen zugunsten eines anderen Naturverhältnisses sich auf einzelne umweltpolitische Maßnahmen beschränkten, ohne die Ebene des ontologischen Verständnisses zu erreichen, geschweige denn zu verändern.

3) Als Hypertechnizismus oder (etwas weniger klar, aber mit einem eingeführten Terminus) Transhumanismus ließe sich eine Entwicklung bezeichnen, bei der es zu einer Statusermächtigung der technologischen Schöpfungen käme, einer Anerkennung ihres überlegenen Status gegenüber Menschen. Dagegen würden Naturentitäten weiterhin in ihrem subhumanen Status verbleiben und keine neue ontologische Wertigkeit erhalten.

4) Den vorstehend formulierten Ängsten und Hoffnungen entspräche am ehesten der Pfad des neuen Humanismus oder des humanzentrierten Animismus, wie man ihn auch nennen könnte. Während den technologischen Entitäten in diesem Szenario eine Statuserhöhung verweigert würde, gelänge ein Abbau des strikten Statusgefälles zwischen Menschen und Naturidentitäten. Nicht-humane Naturbereiche würden mit Eigenschaften oder Bezügen ausgestattet, die eine Annäherung an den ontologischen Status von Menschen und eine Aufhebung der strikten Trennung zur Folge hätten – mit entsprechenden Konsequenzen für eine naturzentrierte Politik und Lebensweise. Eine solche Denkbewegung in Richtung einer stärkeren Zuschreibung des Akteurstatus an nicht-menschliche Entitäten könnte in der Terminologie von Philippe Descola[10] als Weg vom Naturalismus hin zum Animismus (oder Totemismus) beschrieben werden.[11]

Die hier entwickelte Typologie skizziert nur mögliche Argumentationszielsetzungen, gibt aber nicht an, welche Gründe im Einzelnen zu nennen wären, um einer konkreten natürlichen oder technischen Entität einen bestimmten ontologischen Status zuzuschreiben. Ob man in Kategorien denkt, die – gleichsam subjektzentriert – eher auf die Eigenschaften und Fähigkeiten einzelner Entitäten ausgerichtet sind oder relational angelegt sind und Interaktions- und Interdependenzbeziehungen bezeichnen, ist dabei nicht entscheidend.[12] Zentrale Ansatzpunkte für die Zuweisung ontologischer Status, die letztlich aus dem Vergleich zum Menschen oder menschlichen Interaktionen erfolgen, sind Begrifflichkeiten aus dem Umfeld von „Agency“. Ganz gleich, ob die Begriffe „Agency“, „Handlungsfähigkeit“, „Erlebensfähigkeit“, „Leidensfähigkeit“ oder „Empfindungsfähigkeit“, „Person“ oder „Akteur“/„Aktant“ verwendet werden, ausschlaggebend ist die Frage, ob einer Entität der Status eines Akteurs oder Relations- beziehungsweise Interaktionsbeteiligten zugeschrieben werden kann, der Elemente jener Akteurs- und Interaktionseigenschaften mitbringt, die bisher ausschließlich Menschen oder menschlichen Interaktionen zugeschrieben wurden. Der ontologische Status einer Entität wird in diesen Diskussionen also im Verhältnis beziehungsweise in Abstufung zu menschlichen Eigenschaften oder Interaktionsbefähigungen verhandelt.[13]

Um zum Beispiel weiteren Naturentitäten den Akteurstatus zuschreiben zu können, muss ein rationalistisches Verständnis zugunsten eines basaleren Verständnisses von Handlungsfähigkeit aufgegeben werden. Kommunikation, Leidens- beziehungsweise Erlebensfähigkeit, Feststellbarkeit eines eigenen Befindens oder Wirksamkeit der Präsenz sind solche substitutiven Kategorien. Wenn man zeigen könnte, dass autonome KI-Systeme und Roboter zwar vielleicht einem rationalistischen Verständnis von Handlungsfähigkeit entsprechen, aber keinem basaleren Verständnis, ließe sich zudem in Richtung eines neuen „digitalen Humanismus“ argumentieren.[14] Welche argumentativen Folgen eine solche Dezentrierung von Vernunft im Gefolge eines basalen, nicht-rationalistischen Verständnisses von Handlungs- und Interaktionsfähigkeit für die Sozial- und Humanwissenschaften hätte, wäre erst noch auszuloten.

Das Ziel all dieser Bemühungen ist es, die Ontologie der Moderne, die nur Menschen oder Vereinigungen von Menschen den Akteurstatus zuspricht – unter Absehung von Gottheiten oder anderen naturwissenschaftlich nicht aufklärbaren Entitäten –, zu durchbrechen: Es soll gezeigt werden, dass menschenanaloge Fähigkeiten, Eigenschaften, Interaktionsmöglichkeiten für bestimmte Entitäten oder ihr Zusammenwirken mit anderen Entitäten vorhanden sind.

II.2. Personen und Sachen. Der privatrechtliche Dualismus als Paradigma

Eine besonders klare Unterscheidung zwischen Menschen und Nicht-Menschen findet sich im Privatrecht, das mit Hilfe der Kategorien von „Person“ und „Sache“ eine allumfassende Ontologie bietet: Alles, was nicht Person ist, ist Sache. Erstere wiederum wird noch einmal unterschieden in „natürliche Personen“ und „juristische Personen“. Während eine „natürliche Person“ durch das Menschsein bestimmt ist, werden mit der Kategorie der „juristischen Person“ auch Personenverbindungen oder Vermögensmassen als rechts- und deliktsfähige Einheiten anerkannt. Jede natürliche oder juristische Person ist Rechtssubjekt, während Sachen auf der Seite der Rechtsobjekte verortet sind. Soweit die Grundversion. Nur zum Vergleich: Politikwissenschaft und Soziologie kennen individuelle, kollektive und korporative Akteure, sie haben aber keinen zusammenfassenden Begriff für jene Entitäten, denen kein Akteurstatus zukommt. Sie haben, mit anderen Worten, also kein theoretisch ausgearbeitetes Äquivalent für „Sachen“.

Im aktuell geltenden Bürgerlichen Gesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland finden sich einige Spezifizierungen, die für den hier erörterten Problemzusammenhang von Interesse sind. Die zur Kennzeichnung der rechtlichen Kompetenz eines Rechtssubjekts verwendete Kategorie der „Rechtsfähigkeit“ etwa ermöglicht wichtige Differenzierungen im Personenbegriff. So ist Rechtsfähigkeit zunächst vollinklusiv auf alle Menschen ab einem bestimmten Zeitpunkt bezogen.[15] Das Konstrukt der Teilrechtsfähigkeit ermöglicht allerdings Abstufungen, die sich bei natürlichen Personen auf Menschen vor der vollzogenen Geburt (juristisch: nasciturus) beziehen. Betreute Personen besitzen hingegen inzwischen die volle Rechtsfähigkeit. Der Personenbegriff ist eher inklusiver geworden, er hat seine Basisreferenz auf die Entität Mensch aber nicht verändert.

Die oben sehr stilisiert vorgestellte Eindeutigkeit der Unterscheidung zwischen Personen und Sachen findet sich so nicht im BGB, weil Sachen dort nicht einfach als Nicht-Personen definiert sind, sondern als „körperliche Gegenstände“.[16] Diese Körperlichkeitsbedingung ist zum Beispiel die Grundlage dafür, Daten nicht als Sachen und damit nicht als Gegenstand der Regelung von Eigentumsrechten zu betrachten.[17] „Sachen“ in der Definition des BGB sind mithin nur eine Subkategorie der größeren Kategorie der „Nicht-Personen“. Für nicht-körperliche Nicht-Personen, zu denen neben Immaterialgütern und Forderungen auch Tiere zählen, scheint sich noch kein übergreifender Begriff gefunden zu haben. Offenkundig kommt das deutsche Privatrecht mit dem Begriff der „Sache“ und der ihr zugrundeliegenden exklusiven Ontologie nicht mehr aus, um alle Entitäten, die nicht Personen sind, juristisch angemessen zu erfassen.

Der Eindruck, dass das rechtliche Instrumentarium zu starr ist, um der Vielfalt der Entitäten gerecht zu werden, dürfte teilweise bereits eine Folge der einleitend skizzierten ontologiepolitischen Bestrebungen sein. Bereits 1990 wurde mit dem „Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres im bürgerlichen Recht“ der uneingeschränkte Sachenstatus für Tiere im BGB abgeschafft. Der neugeschaffene § 90a BGB[18] macht in seinem ersten Satz klar, dass Tiere keine Sachen sind. Während der dritte Satz wieder in den Bereich des Sachenrechts zurückführt, eröffnet der zweite Satz die Möglichkeit, eine eigene, vollständig auf den Schutz von Tieren als besondere Kategorie von Nicht-Sachen zugeschnittene Gesetzgebung zu entwickeln.

In Art. 20a GG[19] werden seit 2002 neben den „natürlichen Lebensgrundlagen“ auch „die Tiere“ rein grammatikalisch als gleichgestellte Objekte der Schutzverpflichtung des Staates genannt. Da es noch keine politisch entwickelte, spezifisch auf Pflanzen ausgerichtete Naturschutzbewegung gibt, ist die Formulierung politisch verständlich, jedoch auch sehr unklar. Entweder sind Pflanzen in Art 20a GG nicht mitgemeint oder sie sind unter die natürlichen Lebensgrundlagen zu subsummieren – wie vieles andere auch. Diese semantische Unklarheit verweist nur darauf, dass eine allgemein anerkannte juristische Kategorisierung der (schützenswerten) Natur auf der Ebene der Verfassung noch nicht vorliegt. Wollte man zum Beispiel einen § 90b in das BGB einfügen mit dem Wortlaut „Natürliche Lebensgrundlagen sind keine Sachen. Sie werden durch besondere Gesetze geschützt.“, so würde eine solche Formulierung mit Blick auf sämtliche Naturentitäten, die keine Tiere sind, erhebliche Rechtsunsicherheiten und Auslegungsprobleme nach sich ziehen. „Tiere“ sind bisher diejenige Teilkategorie nicht-menschlicher Natur, die sich noch am leichtesten in ein Rechtssystem einfügen lässt, das noch über weite Strecken von der Entgegensetzung von „Person“ und „Sache“ geprägt ist.

Das zentrale juristische Scharnier zwischen den Kategorien der „Person“ und der „Sache“ ist das Institut des Eigentums. Eigentum verbindet exklusiv Personen und Sachen. Es kann kein Eigentum von Sachen an Sachen und keines von Personen an Personen geben. Eine konsequent durchgeführte Herausnahme von Tieren aus der Kategorie der „Sache“ müsste somit auch das Eigentumsrecht betreffen. Dieses besteht aber bei Tieren – wenn auch in eingeschränkter Form – weiter fort.[20] Die Definition von Tieren als „Nicht-Sache“ hat für das Eigentumsrecht bislang nur einschränkende, aber keine aufhebenden Folgen gezeitigt. Tiere sind und bleiben weiterhin Eigentum von Personen.[21] Doch erst die prinzipielle Unmöglichkeit, Eigentum einer Person zu sein, würde einer Nicht-Person potenziell oder annähernd den gleichen rechtlichen (Schutz-)Status verleihen, wie ihn bislang nur die Kategorie der „Person“ gewährt, da Personen einander mit der Abschaffung der Sklaverei nicht mehr besitzen dürfen.

Welche rechtlichen und rechtswissenschaftlichen Strategien zur Veränderung grundlegender Klassifizierungen sind in diesem Rahmen denkbar, um nicht-menschlichen Entitäten einen besonderen Status zuzuweisen? Neben der Gruppe der „Tiere“ könnte man weitere Sonderkategorien – wie zum Beispiel die eines „empfindungsfähigen Wesens“ – im Bereich des Sachenrechts einführen. Dann müsste man einen eigenen Rechtskreis für die unter dieser neuen Kategorie zusammengefassten Entitäten einführen oder dürfte nur noch in eingeschränktem Maße auf die rechtlichen Regelungen aus dem Bereich des Sachenrechts zurückgreifen.[22] Orientierte man sich dagegen bei der Statusbestimmung nicht-menschlicher Entitäten stärker am Personenbegriff, wie dies in den Diskussionen über Tierrechte oder Rechte der Natur häufig der Fall ist, käme man nicht umhin, die Art der Rechte und ihr Verhältnis beziehungsweise ihre Entsprechung zu Menschenrechten zu klären. Neu eingefügte Statuszuweisungen könnten mithin eine stärker personenrechtlich oder eine mehr sachenrechtlich zugeschnittene Ausgestaltung erhalten.

II.3. Typologie der Argumentationsweisen

Vielleicht ist diese rechtswissenschaftliche Argumentationslage aber so spezifisch, dass sie sich gar nicht auf alle Formen ontologiepolitischer Auseinandersetzungen anwenden lässt. Deshalb soll hier der Versuch gemacht werden, ausgehend von der grundlegenden Dichotomie Mensch – Nicht-Mensch eine an keine wissenschaftliche Disziplin und keine bestimmten nicht-menschlichen Entitäten gebundene Typologie möglicher klassifikatorischer Strategien aufzustellen.

Eine erste mögliche Strategie hat die rechtswissenschaftliche Diskussion anhand der vorstehend skizzierten Statuszuweisung an Tiere vorgestellt. Diese Strategie soll hier als Subdifferenzierung bezeichnet werden: Unter Beibehaltung einer grundsätzlichen Dichotomie werden auf einer Seite der dichotomischen Unterscheidung zusätzliche Differenzierungen eingeführt, um unterschiedlichen Existenzweisen, Fähigkeiten und Bedürfnissen Rechnung zu tragen (Tiere sind keine Sachen, werden aber im Wesentlichen wie Sachen behandelt).

Eine Aufhebung und vollständige Überwindung der Dichotomie, die hier als Strategie der Gleichstellung oder Entdifferenzierung bezeichnet werden soll, bedeutete dagegen, alle Entitäten gleichzustellen. Am konsequentesten entfaltet ist dieser Argumentationstypus in der bekannten Actor-Network-Theorie (ANT) Bruno Latours, auf die noch einzugehen sein wird.

Eher an traditionelle naturphilosophische Modelle knüpft eine dritte Strategie an, die als Gradualisierung bezeichnet werden kann und auf eine Überführung der Dichotomie in eine Stufenfolge von Entitäten abzielt. Wichtige Unterschiede bleiben hier erhalten, aber sie werden argumentativ nicht mehr um die Zentraldifferenz Mensch – Nicht-Mensch gruppiert. Als Konsequenz einer solchen Stufen-Klassifikation ließe sich etwa eine Graduation von Rechten behaupten: Menschenrechte, Tierrechte, Pflanzenrechte, Bakterienrechte, Klimarechte etc.

Eine vierte denkbare Strategie ist schließlich die der Pluralisierung. Auch hierbei bleiben Unterschiede erhalten, aber es kommt zu keiner Anordnung der Entitäten in einer an Vorstellungen von Höher- oder Niederstufigkeit orientierten Rangfolge. Vielmehr wird für ein Nebeneinander unterschiedlicher Status als Grundkategorisierung argumentiert und für die Anerkennung der Selbstständigkeit und eigenen Wertigkeit jedes einzelnen Status geworben.

Die Argumentationsweisen der Subdifferenzierung und der Gradualisierung weisen eine besondere Nähe zueinander auf, ja sie können sogar ineinander überführt werden. Denn durch die Einführung von Subdifferenzierungen kann die zentrale Dichotomie in ihrer Kraft geschwächt werden und allmählich durch ein System von Abstufungen ersetzt werden. So ließe sich beispielsweise die umfassende Kategorie der „Sache“ mittels der Einführung von Binnendifferenzierungen in Subkategorien aufspalten, die eine Unterscheidung von stark geschützten, schwach geschützten und nicht geschützten Sachen (im Sinne der ungehinderten Anwendung der Eigentumsrechte) ermöglichten. Eine solche Einführung unterschiedlich starker Schutzzonen berührte schließlich auch die Dichotomie zwischen Personen – Sachen und könnte zu einer erweiterten Skala mit drei elementaren Typen führen, zum Beispiel Personen – Schutzentitäten – Sachen.

Die weitreichendste Überwindung der neuzeitlichen Dichotomien erfolgt in Gleichstellungs- und Entdifferenzierungsstrategien, wie sie insbesondere Bruno Latour mit der ANT anstrebt, die sowohl menschliche als auch nicht-menschliche Entitäten (natürlicher und technischer Art) gleichermaßen als „Aktanten“ adressiert. Latours soziologischem Ansatz geht es jedoch nicht um die Eigenschaften von Entitäten, um von diesen auf ihre Eignung als Aktant zu schließen.[23] Die Erfassung der spezifischen Eigenschaften einer Entität interessiert Latour nicht. Kennzeichnend für die von ihm propagierte Entdifferenzierung von Entitäten ist vielmehr eine folgenreiche theoretische Verschiebung, die den Begriff des „Sozialen“ nicht mehr zur Beschreibung oder Analyse eines eigenen Sektors oder Realitätsbereichs nutzt, sondern zur generellen Untersuchung wirksamer Relationen. Damit wird es möglich, Formen des Zusammenwirkens unabhängig von den typisch soziologischen Zumutungen an anspruchsvolle Handlungs-, Person- oder Akteurbegriffe zu untersuchen. Die Aufmerksamkeit der soziologischen Beschreibungen gilt vielmehr den Verkettungen und dem Zusammenwirken von Entitäten aller Art. Ganz ohne Rekurs auf Agency kommt jedoch auch Latours Ansatz nicht aus, denn als Aktant in Netzwerken gelten ihm nur solche Entitäten, die nicht bloß als Zwischenglieder („intermediaries“) fungieren, also lediglich deterministisch einen Input in einen Output weiterreichen. Als Aktanten kommen Entitäten nur infrage, wenn sie als Mittler („mediators“) wirken, mithin zwischen Input und Output eine Übersetzung oder Verschiebung vornehmen. Ein Aktant leitet die auf ihn wirkende Kausalität also nicht einfach weiter, sondern fügt ihr etwas hinzu in der Veränderung des Inputs zum Output.[24]

Die Frage nach der Agency verwandelt sich somit im Zuge der Konzentration auf Netzwerke und Relationen in die der Wirkfähigkeit. Was immer in Netzwerken wirkt, gilt als Aktant. Das impliziert aber auch, Prozesse des Zusammenwirkens nur auf der Ebene bestimmter Kausalitäten zu betrachten. Sowohl rein symbolische Zusammenhänge als auch deterministische Naturkausalitäten finden in der ANT entsprechend keine Berücksichtigung. Als wirksame Mittler in Netzwerken sind alle Aktanten einander gleichgestellt. Wirkfähigkeit tritt an die Stelle von Handlungsfähigkeit – und auf dieser Ebene lässt sich die ontologische Gleichstellung begründen. Gleichstellung aller Entitäten scheint daher mit der theoretischen Umstellung von Handlungsfähigkeit auf Wirksamkeit einherzugehen. Diese Strategie will ich hier versuchsweise als Kausalisierung des Akteurverständnisses interpretieren. Die normativ motivierte ontologische Neuverteilung versperrt aber den Weg zu einer Erklärung des bisherigen Entwicklungspfades des Lebens auf der Erde, der bis hin zum Anthropozän zunehmend menschenzentriert verlaufen ist. Die naheliegende Alternative, bestimmten nicht-menschlichen Entitäten eingeschränkte oder abgestufte Formen der Intentionalität zuzusprechen, wird von Latour nicht gewählt, in seinen Augen ist Effekterzeugung allein ausreichend, um menschliche wie nicht-menschliche, natürliche wie technische Entitäten für den Aktantenstatus zu qualifizieren. Eine kausalistische setzt sich damit gegen eine intentionalistische oder breiter sinnbezogene Herangehensweise an Agency durch. Um eine nicht-anthropozentrische Theoriebildung zu ermöglichen, werden die spezifischen Möglichkeiten menschlichen Handelns als eines intentionalen Handelns einem genuin kausalzentrierten Denkstil untergeordnet. Agency wird reduziert auf die Fähigkeit, Effekte zu erzeugen.

Latours Ansatz wird bis heute kontrovers debattiert. Aus der Vielzahl der Beiträge ist mit Blick auf die hier verhandelte Problematik ein Beitrag des Soziologen Frank Adloff relevant,[25] der die beiden folgenden Argumente gegen Latours Version der ANT vorbringt: Erstens seien nicht alle Relationen gleichwertig, was zur Folge habe, dass sich auf der Ebene der Relationen erneut Fragen stellen könnten, die durch den Ebenenwechsel zu Netzwerken gerade ausgeschlossen oder überwunden werden sollten. Und zweitens ließen sich die Differenzen zwischen Materie, Leben und bewusstem Leben nicht einfach einebnen. Tue man dies, lande man unweigerlich in einer theoretischen Sackgasse, weil damit unbelebter Materie Agency zugeschrieben werde.[26]

Adloff will seinerseits den Unterschied zwischen Leben und unbelebter Materie zum entscheidenden Statusunterschied erheben. Leitend ist dabei die Absicht, eine Grundlage für Solidaritätsbeziehungen zwischen Menschen und nicht-menschlichen Akteuren zu schaffen, während er Solidarität mit unbelebten Dingen nicht für denkbar hält.[27] Theoriebildung wird hier mit einem starken normativen Bias versehen: Es wird ein ontologischer Statusunterschied postuliert, um dann eine werthaltige Beziehung namens Solidarität zu ermöglichen. Adloff startet mit einer Dreierklassifikation von Materie, Leben und bewusstem Leben, um ausgehend von dieser Unterscheidung eine Neusortierung vorzunehmen, in deren Rahmen er zwischen reiner Materie und bloßen Dingen einerseits sowie lebenden und Agency besitzenden Naturformen mit der Fähigkeit zu Solidaritätsbeziehungen andererseits unterscheidet.

Adloffs Ansatz zeigt die Möglichkeit einer Strategie, die Grenzlinie zu verschieben, aber weiterhin streng dichotomisch zu denken. Bei dieser Strategie, die hier als Relokation bezeichnet werden soll, wird einem sehr weiten Bereich der Natur Agency zugeschrieben, nicht nur Tieren, sondern allen Pflanzen, Bakterien und Pilzen (abgesehen von Viren, die biologisch nicht als Lebewesen gelten). Sie geht damit weit über das hinaus, was an Agency-Zuschreibungen im Bereich der Tierethik für sinnvoll gehalten wird. Zugleich lässt sich in entgegengesetzter Richtung fragen, warum Solidarität mit Dingen – die Gleichsetzung von Dingen und Materie lasse ich hier einmal außen vor – nicht auch denkbar sein soll. Vermutlich, weil im Begriff der „Solidarität“ aktive Wechselseitigkeit vorausgesetzt ist. Aber diese ist ja auch im Verhältnis zu Bakterien wohl kaum gegeben.

Die Gleichstellungs- wie auch die Relokationsstrategie müssen zwar nicht für jede einzelne Entität beziehungsweise jeden Entitätstyp die Art der Agency bestimmen. Sie können sich auf summarische Kennzeichnungen verlegen. Das ist bei Strategien, die auf Subdifferenzierungen, Gradualisierungen und Pluralisierungen setzen, schon weit weniger möglich. Für alle Elemente eines Entitätstypus das Vorliegen der Voraussetzung von Agency nachzuweisen, dürfte in einige Schwierigkeiten führen. Lässt man sich auf derartige konkretere Bestimmungen der Agency oder des Agency-Ersatzes ein, sieht man sich für eine Vielzahl von Entitäten mit einem zusätzlichen Problem konfrontiert: Die Zuweisung von Agency ist nur bei Entitäten unproblematisch, die sich aus individuellen Exemplaren zusammensetzen. Ein Mensch ist ebenso wie ein bestimmtes Tier eine einzelne Entität. Auch bei Artefakten wie Maschinen oder Robotern ist die Existenz einer Einzelentität als Grundlage für die Zuschreibung von Agency durchaus denkbar. Und selbst in Fällen, in denen keine physische Körperlichkeit gegeben ist, wie zum Beispiel bei Algorithmen, lässt sich eine Einzelentität zumindest noch postulieren. Aber schon bei Pflanzen wird es problematisch, da sich die Unterscheidung von individuellen und kollektiven Akteuren in diesem Bereich vielleicht schwerer durchhalten lässt. Und vollends vertrackt wird die Sache, wo Klima, natürliche Lebensgrundlagen, Artenvielfalt, Flüsse, Berge, Ökosysteme etc. ins Spiel kommen, lassen sich diese doch kaum als Einzelentitäten erfassen oder sind immer in andere Einzelentitäten auflösbar. Will man bestimmten Entitäten aber beispielsweise besondere Rechte zuweisen, muss der Träger dieser Rechte, das Rechtssubjekt, eindeutig zu identifizieren sein. Wenn diese Zuordnung wegen fehlender Einzelentität nicht möglich ist, lässt sich die angestrebte Analogie zum Begriff der „Rechtsperson“ kaum mehr fortführen.

III. Abschattung eines zentralen Begriffs: Eigentum

Statuszuweisungen an einzelne Entitäten verändern nicht nur die relative Position der Entitäten zueinander, sondern potenziell auch die politisch-rechtlichen Machtverhältnisse zwischen ihnen. Die Auswirkungen jedes denkbaren Neuarrangements müssen aber solange strikt begrenzt bleiben, wie nicht die Zentralstellung des Eigentums in der Beziehung von Entitäten zueinander thematisiert und grundlegend verändert wird. Die durchgreifendste Veränderung wäre sicherlich der Verlust der Möglichkeit, überhaupt Besitz und Eigentum an bestimmten Entitäten haben zu können.[28] Dies wäre eine Art ‚Entsklavung‘ nicht-menschlicher Entitäten, da auf diese Weise die Möglichkeit der Etablierung von Eigentumsverhältnissen für diese Beziehungen ausgeschlossen würde. In Konzepten wie Latours „Parlament der Dinge“[29] oder der von Donaldson und Kymlicka vorgeschlagenen „Citizenship“[30] für Tiere wird die Eigentumsfrage allerdings nicht artikuliert. Die vorgeschlagenen Analogiebildungen vermögen die demokratisch-parlamentarische Idee der Selbstbeteiligung und Selbstbestimmung daher nicht angemessen auf nicht-menschliche Entitäten zu transferieren. Verantwortlich dafür ist deren Stellung als Eigentum anderer, ausschließlich menschlicher Entitäten.[31] So führen die konsequente Anwendung von Konzepten wie „Parlament“ und „Bürgerschaft“ oder der Rekurs auf die Vorstellung von Entitäten als Rechteinhabern immer nur zu verschiedenen Modellen von Stellvertretung, denen es jedoch an einem Modus des Auswählens der Stellvertreter*innen durch die Grundgesamtheit der zu vertretenden Entitäten mangelt. Modelle, die mit Formen von Beauftragung oder Vertretung arbeiten, zeigen praktikable Wege auf, wie die Belange bestimmter Entitäten in den politischen Prozess und den gesellschaftlichen Alltag eingehen können. Darin liegt ihr großer Vorteil. In jedem Fall aber, und darin besteht der nicht minder große Nachteil, geht es um die Wahrnehmung fremder Rechte und Interessen durch menschliche Entitäten. Es handelt sich mithin nicht um Eigenvertretung, sondern um Fremdvertretung, eine Form des wohlmeinenden Paternalismus.[32] Die politischen Analogien tragen daher nur sehr bedingt, führen teilweise sogar in die Irre, da keine politisch-institutionellen Modelle, keine Verfahren und auch keine überzeugenden Legitimationen für Vertretungen entwickelt werden, die demokratischen Mindeststandards auch nur annähernd entsprechen könnten.

Zudem werden in solchen Stellvertretungskonzepten Entitäten vertreten, die man zugleich als Eigentum versteht, als Sache oder sachenanalog zu behandelnde Nicht-Sache. Es verbietet sich jedoch, Eigentümer und Eigentum auf die gleiche Ebene zu stellen und als politisch gleichwertig zu verstehen. Wo es dennoch geschieht, handelt es sich schlicht um einen Kategorienfehler: Wer oder was Eigentum anderer ist, kann diesem nicht gleichwertig sein oder in gleicher Weise Mitglied einer Gemeinschaft sein wie diese.

Der entscheidende Schritt hin zu einer theoretisch begründeten wie praktisch wirksamen veränderten Statuszuweisung an nicht-menschliche Entitäten besteht daher, so meine These, in der Aufhebung von Eigentumsbeziehungen und der Durchsetzung einer Art no property rule für bestimmte nicht-menschliche Entitäten. Zusammen mit der Aufhebung des Eigentumsstatus der betreffenden Entitäten muss allerdings gewährleistet werden, dass sie nicht in den Status freier Güter zurückfallen, von denen jede Person jederzeit Besitz nehmen kann. Es bedarf mithin der Formulierung eines Status, der auf Nichtnutzung oder strikt kontrollierte Nutzung einerseits sowie eine verpflichtende Sorge- und Schutzbeziehung andererseits hinausläuft. Für technologische Schöpfungen wäre in diesem Zusammenhang auch die Variante „Sharing“ bei voller Transparenz des Zugangs zu dieser Entität denkbar. Es bedarf daher einer komplexen Auseinandersetzung mit dem Eigentumsrecht und der eigentumstheoretischen Tradition der politischen Theorie,[33] um hier zielführende Vorschläge machen zu können. Eigentum ist als Bündel von Einzelverfügungsrechten zu verstehen – ein Bündel, das sich auch auflösen und zerlegen lässt und zu einem neuen Konzept der Beziehungen zwischen Entitäten unterschiedlicher Art zusammengesetzt werden kann. Das sind Themen für zukünftige Diskussionen; hier ging es mir nur um den Nachweis, dass eine Ausklammerung des Eigentumsverhältnisses keine angemessene Debatte zur Frage der Stellung nicht-menschlicher Entitäten zulässt.

IV. Entkopplung von Ontologiedebatten und effektivem Schutz der Natur?

Als Ontologiepolitik wurden hier Auseinandersetzungen um den Seinsstatus, den ontologischen Status von Nicht-Menschen bezeichnet, die zugleich Folgen für die rechtliche, soziale, kulturelle und politische Verortung und Behandlung dieser Entitäten zeitigen. Ob es dieser ontologiepolitischen Auseinandersetzungen bedarf, um zu politischen Lösungen zu kommen, oder ob sich Verbesserungen beim Tier-, Klima- und Artenschutz eventuell auch ohne Änderungen am ontologischen Status nicht-menschlicher Entitäten erzielen lassen, wird in Zukunft zu klären sein. Zeichnen sich die meisten der diskutierten Strategien durch die Verkopplung von ontologischen Debatten und politischen Konsequenzen aus – nicht zuletzt deshalb, weil bisherige Schutzkonzepte unzureichend waren oder nicht schnell genug umgesetzt wurden –, so ist auch eine Entkopplung von Ontologiedebatten und politischen Lösungsmodellen denkbar. Diese Argumentationsstrategie legt nahe zu prüfen, ob nicht einige politische Verbesserungen möglich sind, ohne den ontologischen Begründungsweg einzuschlagen.

So lassen sich Vertretungs-, Wächter- und Mitentscheidungsmodelle durchaus realisieren, ohne dass Natur, Ökosysteme oder andere Naturentitäten zu Personen erklärt werden müssen oder sich in ontologischen Debatten als mindestens leidens- oder erlebensfähig erweisen müssen. Auch zur Rolle technischer Entitäten sind politisch-rechtliche Regelungen begründbar, wenn keine Klarheit darüber besteht, wie diese Entitäten ontologisch einzuschätzen sind. Es ist also jeweils zu klären, wann ein Einstieg in Ontologiepolitik sinnvoll und erforderlich ist und wann bereits die Fortsetzung alter Schutzpolitiken ausreichend oder erfolgversprechend sein kann. Ontologiepolitik ist mithin kein zwingender Entwicklungsschritt einer zukünftigen Natur- und Technikpolitik. Dass aber überhaupt eine ontologiepolitische Debatte in der theoretischen Literatur und in der Politik aufgekommen ist, ist ein wertvoller Impuls, angesichts der Verunsicherung des Selbstverständnisses dessen, was es bedeutet Mensch zu sein, generell mehr Demut walten zu lassen.

  1. Es handelt sich bei dem Text um die überarbeitete Version eines Vortrags, den ich im Rahmen der von der DVPW-Sektion „Politische Theorie und Ideengeschichte“ veranstalteten Konferenz „Personen und Subjekte des Politischen“ am 23. März 2022 in Aachen gehalten habe. Ich danke den Veranstaltern Michel Dormal, Jürgen Förster, Emanuel Richter und insbesondere Hans-Jörg Sigwart für die Einladung und die Möglichkeit, diese Überlegungen dort vortragen und diskutieren zu können.
  2. Stellvertretend für viele seien hier genannt: Andreas Fischer-Lescano, Natur als Rechtsperson – Konstellationen der Stellvertretung im Recht, in: Zeitschrift für Umweltrecht 29 (2018), 4, S. 205–216; Jens Kersten, Natur als Rechtssubjekt. Für eine ökologische Revolution des Rechts, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 70 (2020), 11, S. 27–32; ders., Die dritte Revolution. Plädoyer für ein ökologisches Grundgesetz, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 67 (2022), 6, S. 91–102; Wolfgang Janisch, Im Namen der Natur, in: Süddeutsche Zeitung, 2.6.2022.
  3. Janina Loh, Roboterethik. Eine Einführung, Berlin 2019; Julian Nida-Rümelin / Nathalie Weidenfeld, Digitaler Humanismus. Eine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz, München 2018.
  4. Janina Loh, Trans- und Posthumanismus zur Einführung, Hamburg 2018.
  5. Aus der Vielzahl der Beiträge erwähne ich hier nur: Sue Donaldson / Will Kymlicka, Zoopolis. Eine politische Theorie der Tierrechte, übers. von Joachim Schulte, Berlin 2013; Bernd Ladwig, Politische Philosophie der Tierrechte, Berlin 2020; Elke Diehl / Jens Truder (Hg.), Haben Tiere Rechte? Aspekte und Dimensionen der Mensch-Tier-Beziehung, Bonn 2019. Eine sehr gut lesbare Einführung in die Gesamtthematik bietet Lawrence Wright, The Elephant in the Courtroom, in: The New Yorker, 28.2.2022.
  6. Frank Adloff / Tanja Busse (Hg.), Welche Rechte braucht die Natur? Wege aus dem Artensterben, Frankfurt am Main / New York 2021.
  7. Einen Überblick über die philosophische Diskussionslage bietet Daniel Martin Feige, Die Natur des Menschen. Eine dialektische Anthropologie, Berlin 2022.
  8. Der hier vorgeschlagene Begriff der „Ontologiepolitik“ dient der Zusammenführung und vergleichenden Analyse unterschiedlicher Debatten, er steht Diskussionen um eine „politische Ontologie“ durchaus fern.
  9. Zur Geschichte derartiger Klassifikationssysteme vgl. Arthur O. Lovejoy, Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, übers. von Dieter Turck, Frankfurt am Main 1985.
  10. Die Kategorisierung bei Philippe Descola (Jenseits von Natur und Kultur, übers. von Eva Moldenhauer, Berlin 2011) verläuft allerdings ein wenig anders, da nur Naturentitäten betrachtet werden. Descola entwickelt vier mögliche Ontologien. Diese Typologie hat den Sinn, den europäisch-westlichen Dualismus von Natur und Kultur auf der Wissensbasis indigener Weltkonstruktionen zu überwinden. Dazu bedarf es allerdings einer metatheoretischen Sicht auf die Klassifikation aller Entitäten, die selbst wieder auf ontologische Basiskategorisierungen zurückgreifen muss. Descolas Konstruktion unterstellt, dass menschliche Denksysteme auf Annahmen über andere Wesen (Mensch oder Nicht-Mensch) beruhen, die als gleich oder ungleich in Bezug auf zwei Größen beurteilt werden: einerseits „Geist“, „Seele“, „Bewusstsein“, „Intentionalität“ oder „Reflexivität“, zusammengefasst im Terminus „Interiorität“, und andererseits „Körperlichkeit“, „Substanz“, „Anatomie“ oder „äußere Form“, erfasst im Begriff „Physikalität“. Ausgehend von dieser Unterscheidung entwirft Descola eine Typologie mit vier grundlegenden Weltsichten: Der Animismus (Ähnlichkeit bei Interioritäten, Unterschied bei Physikalitäten) behauptet, dass Pflanzen und Tiere als Personen aufgefasst werden können, es sich aber um ganz andere physische Wesen handelt. Als Totemismus (Ähnlichkeit bei Interioritäten, Ähnlichkeit bei Physikalitäten) bezeichnet Descola eine Weltsicht, die Pflanzen und Tieren ein geistiges Prinzip zuschreibt, so dass man mit ihnen interagieren kann wie mit Menschen. Der Analogismus (Unterschiede bei Interioritäten, Unterschiede bei Physikalitäten) kennt nur Unterschiede, ordnet diese aber in einer Äquivalenzkette an, sodass es zu einer Analogie, einer doppelten Reihe von Unterschieden kommt. Der Naturalismus (Unterschied bei Interioritäten, Ähnlichkeit bei Physikalitäten), unsere heutige Denkweise, unterstellt die Universalität der Naturgesetze für alle Wesen, behauptet aber einen grundlegenden Unterschied zwischen Mensch und Natur auf der Ebene der Interioritäten.
  11. Wenn oft nur von Animismus als möglicher Zielsetzung der ökologisch inspirierten Ontologiepolitik gesprochen wird, so ist doch innerhalb des Descolaschen Systems der Übergang vom Naturalismus zum Totemismus eine diskussionswürdige Alternative, da dieser mit dem Naturalismus die Annahme der Ähnlichkeit auf Seiten der Physikalität teilt. Der Übergang zum Totemismus würde nur die Sichtweise von Interioritäten ändern, von der Annahme grundlegender Unterschiede hin zur Unterstellung von Ähnlichkeiten, während der Animismus auf Seiten der Interioritäten wie der Physikalitäten die Annahmen des Naturalismus durchbricht.
  12. Vgl. in diesem Zusammenhang die Position von Peter Niesen, Der political turn und die Erhaltung der Arten, in: Adloff/Busse (Hg.), Welche Rechte braucht die Natur?, S. 177–192. Siehe hierzu auch das Gefährtenmodell von Donna Haraway, Das Manifest der Gefährten. Wenn Spezies sich begegnen – Hunde, Menschen und signifikante Andersartigkeit, übers. von Jennifer Sophia Theodor, Berlin 2016.
  13. Einen guten Überblick über die aktuellen Befunde der Kognitionsforschung bietet Ludwig Huber, Das rationale Tier. Eine kognitionsbiologische Spurensuche, Berlin 2021.
  14. Vgl. Nida-Rümelin/Weidenfeld, Digitaler Humanismus.
  15. BGB § 1: „Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt.“
  16. § 90 BGB: „Sachen im Sinne des Gesetzes sind nur körperliche Gegenstände.“
  17. Siehe dazu Frank Nullmeier, Dateneigentum, in: Tanja Klenk / Frank Nullmeier / Göttrik Wewer (Hg.), Handbuch Digitalisierung in Staat und Verwaltung, Wiesbaden 2020, S. 255–264.
  18. Wortlaut: „Tiere sind keine Sachen. Sie werden durch besondere Gesetze geschützt. Auf sie sind die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist.“
  19. Wortlaut: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“
  20. § 903 BGB: „Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen. Der Eigentümer eines Tieres hat bei der Ausübung seiner Befugnisse die besonderen Vorschriften zum Schutz der Tiere zu beachten.“
  21. Vgl. Anne Peters, Tiere sind keine Sachen mehr – was jetzt?, in: Norbert Sachser / Niklas Kästner / Tobias Zimmermann (Hg.), Das unterschätzte Tier, Hamburg, 2022, S. 184–202, hier insbes. S. 192.
  22. Ebd., S. 193.
  23. Diese Ausführungen stützen sich insbesondere auf Bruno Latour, Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford 2005.
  24. Ebd., S. 38–40.
  25. Frank Adloff, „It`s the end of the world as we know it”: Sozialtheorie, symbiotische Praktiken und Imaginationen im Anthropozän, in: ders. / Sighard Neckel (Hg.), Gesellschaftstheorie im Anthropozän, Frankfurt am Main / New York 2020, S. 95–121.
  26. Ebd., S. 103.
  27. Ebd. S. 104.
  28. Siehe dazu Kersten, Die dritte Revolution, S. 98.
  29. Vgl. Bruno Latour, Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, übers. von Gustav Roßler, Frankfurt am Main 2001.
  30. Vgl. Donaldson/Kymlicka, Zoopolis.
  31. In seiner Kritik an Donaldson und Kymlicka bezieht sich Thomas Saretzki auf diese Asymmetrie zwischen Eigentum (Tiere) und Eigentümern (Menschen): Thomas Saretzki, Taking Animals Seriously: Interpreting and Institutionalizing Human-Animal Relations in Modern Democracies, in: Historical Social Research 40 (2015) 4, S. 47–54.
  32. Ebd. – Derartige paternalistische Konstruktionen gibt es auch im Bereich der Sozialpolitik. Dort werden die möglichen problematischen Konsequenzen, wenn keine wirkliche Selbstbeteiligung ermöglicht wird, als „Klientelisierung“ und „Aneignung von Vertretungsrechten durch Professionsvertreter*innen“ sowie als „Expertokratisierung“ beschrieben.
  33. Christopher Pierson, Just Property: A History in the Latin West, Volume One: Wealth, Virtue, and the Law, Oxford 2013; ders., Just Property: A History in the Latin West, Volume Two: Enlightenment, Revolution, and History, Oxford 2016.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Anthropologie / Ethnologie Gesellschaft Interaktion Kultur Lebensformen Normen / Regeln / Konventionen Ökologie / Nachhaltigkeit Recht Technik

Frank Nullmeier

Prof. Dr. Frank Nullmeier ist Politikwissenschaftler am SOCIUM – Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen. 2021 hat er eine Monografie zum Thema „Process Tracing und kausale Mechanismen. Perspektiven qualitativer Politikforschung“ vorgelegt.

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