Nicola Spakowski | Rezension | 14.11.2023
Orientierung mit Abstrichen
Rezension zu „Contemporary China. 1949 to the Present“ von Gilles Guiheux

Das Bedürfnis nach Orientierung ist groß: Die Politik ruft nach China-Kompetenz, China findet Eingang in die Lehrpläne der Gymnasien, und sich schnell wandelnde globale Konstellationen werfen Fragen zur Rolle Chinas auf, die in der Tagespresse nicht ausreichend beantwortet werden. Gilles Guiheux’ Buch, eine aktualisierte Übersetzung der 2018 aufgelegten französischen Ausgabe, trägt mit einer Gesamtdarstellung der Geschichte Chinas seit 1949 zu solcher Orientierung bei – mit einigen Abstrichen. In einem Meer von China-Literatur, die mit rotem Cover und alarmistischem Titel nach Aufmerksamkeit heischt, fallen bereits der sachlich formulierte Buchtitel und das in Blautönen gehaltene Coverfoto angenehm auf. Zur Seriosität des Buches trägt auch die Transparenz des Verfassers bei. Nachdem er in der Einleitung seine Absicht erklärt hat, nimmt er in den Folgekapiteln, wo geboten, fachwissenschaftliche Kontroversen auf. In seinen Ausführungen geht es nicht nur um Wissen – und Nichtwissen –, sondern auch um Perspektiven. Leser:innen mit Chinesischkenntnissen dürften zusätzlich begrüßen, dass zentrale chinesische Begriffe auch in Umschrift und chinesischen Schriftzeichen wiedergegeben sind.
Guiheux versteht sein Werk als multidisziplinäre Darstellung, die größtenteils auf dem neuesten Forschungsstand beruht und von drei „Ambitionen“ (S. 2) geleitet ist. Er möchte erstens die Neuartigkeit des kommunistischen Regimes relativieren, indem er die Kontinuitäten zu früheren Phasen aufzeigt, insbesondere zur Republik China (seit 1912), bei der es vor allem personelle und ökonomische Anleihen gab. Teilweise zieht er aber auch Kontinuitätslinien ins späte 19. Jahrhundert, als die politische Elite sich der Aufgabe verschrieb, China „reich und stark“ zu machen. Seinen ersten Anspruch löst der Verfasser gut ein.
Zweitens findet er, mit einer zu starken Fokussierung auf die Politikgeschichte werde die Transformationskraft des Regimes überbewertet. Längerfristig hätten ökonomische und gesellschaftliche Kräfte – die sich den Impulsen von oben auch durchaus widersetzt hätten – die Entwicklung des Landes stärker geprägt. Der Verfasser möchte eine „Geschichte von Menschen [schreiben], die weit entfernt ist vom offiziellen Diskurs“ (S. 3) – tut dies aber nicht besonders konsequent: Die chronologischen Kapitel sind ganz auf das Regime und seine Entscheidungsträger zugeschnitten. Kritiker und Gegner erhalten demgegenüber wenig Raum. Die Kapitel, in denen Guiheux die Gesellschaft unter verschiedenen Aspekten beleuchtet, schaffen zwar ein quantitatives Gegengewicht, korrigieren aber nicht den Eindruck einer allein „von oben“ geprägten Entwicklung des Landes.
Das gegenwärtige China ist für Guiheux weder einzigartig, noch befindet es sich auf dem Weg der Konvergenz mit westlichen Formen; es vereint vielmehr Integration in den kapitalistischen Weltmarkt mit einer autoritären politischen Praxis.
Der dritte Anspruch besteht darin, gegen eine Exotisierung des Landes anzuschreiben: „Industrialization, urbanization, bureucratization and globalization“ (S. 3) seien Phänomene, die Modernisierungsprozesse weltweit geprägt hätten. Das gegenwärtige China ist für Guiheux weder einzigartig, noch befindet es sich auf dem Weg der Konvergenz mit westlichen Formen; es vereint vielmehr Integration in den kapitalistischen Weltmarkt mit einer autoritären politischen Praxis. Hierin liegt im Prinzip die große Leistung des Buches: China „im Lichte anderer menschlicher Gesellschaften, unter Verwendung der gleichen Instrumente aus den Sozialwissenschaften“ (S. 3, meine Übers., N.Sp.), verständlich zu machen. Dass das Licht anderer Gesellschaften an einigen Stellen des Buches Spezifika der chinesischen Entwicklung ausblendet, ist unten zu problematisieren.
Das Buch ist übersichtlich gegliedert und verständlich geschrieben. Es unterteilt sich in vier chronologische Kapitel, auf die sechs thematische Kapitel folgen, wobei die zweifache Struktur nicht zu vermeidende Doppelungen produziert. Dass einzelne Sätze im gleichen Wortlaut an zwei Stellen des Buches auftauchen (z.B. über den Künstler Ai Weiwei auf den Seiten 170 und 355), ist allerdings ärgerlich.
Die chronologischen Kapitel folgen den üblichen Zäsuren: 1949 für die Gründung des sozialistischen Staates; 1958 als Übergang in die maoistischen Exzesse von „Großem Sprung nach vorn“ (1958–1960) und „Großer proletarischer Kulturrevolution“ (1966–1969, unter Einbezug der Nachfolgekrise gilt das Jahr 1976 als Ende); der Tod Maos 1976 als Voraussetzung für die Einleitung der Politik von „Reform und Öffnung“; und 1992 als der Beginn einer entschlossenen Umgestaltung des ökonomischen Systems unter Beibehaltung der autoritären Strukturen. Sie zeichnen die Geschichte Chinas entlang der politischen Strategien, richtungsgebenden Entscheidungen und der Zusammensetzung der Führungselite nach. Unterkapitel sind einzelnen Etappen gewidmet, wie der Errichtung neuer Institutionen, der Durchführung bestimmter Kampagnen oder der Verfolgung neuer Ansätze. In einem abschließenden Teil nimmt der Verfasser jeweils die Gesamtcharakterisierung und Bilanz einer Periode vor.
Die angestrebte Entexotisierung leistet Guiheux im ersten Kapitel, wo er die Rationalität und die nicht von der Hand zu weisenden Erfolge des frühen sozialistischen Regimes deutlich macht. Im zweiten Kapitel widmet er sich ausführlich den Intentionen, Inhalten, Phasen, Verantwortlichkeiten und Opferzahlen der maoistischen Kampagnen, die den meisten westlichen Leser:innen nur als Metapher für Überambition („Großer Sprung“) beziehungsweise Exempel menschlicher Inhumanität („Kulturrevolution“) bekannt sein dürften. In den beiden darauffolgenden Kapiteln legt er dar, wie die nach Maos Tod in Angriff genommenen Reformen („incremental, progressive, hesitant“, S. 139) in eine Regimekrise führten, die in den Tian’anmen-Demonstrationen von 1989 gipfelte und den Weg bereitete für das heute bekannte Modell. Letzteres besteht seit 1992, seitdem blieb die Entwicklung dynamisch. Sie war gekennzeichnet von Richtungsentscheidungen, Wechseln an der Führungsspitze, internationalen Großereignissen, Naturkatastrophen und Pandemien sowie politischen Unruhen an den Rändern und in Hongkong.
In den sechs thematischen Kapiteln erklärt Guiheux zunächst grundsätzliche politische und wirtschaftliche Strukturen in China und benennt die Unterschiede zwischen der sozialistischen Periode und heutigen Strukturen. Kapitel 5 („Forms of Government“) wirft den Blick auf Partei, Staatsapparat und die Interaktion zwischen Parteistaat sowie Gesellschaft und konkretisiert so, was autoritär im Falle Chinas bedeutet. Kapitel 6 („Creation of Wealth”) versteht den Übergang von Plan- zu Marktwirtschaft als schrittweisen Transformationsprozess und erläutert die strukturellen Besonderheiten des heutigen ökonomischen Modells. Hierbei erhalten Fragen der sozialen Stratifizierung, Mobilität und Ungleichheit erfreulich viel Raum: In Kapitel 7 („Society on the Move“) zeigt der Verfasser, wie das Regime Stratifizierung steuert, Gleichheit schafft beziehungsweise Ungleichheit toleriert, sozialen Status fixiert und neue Klassen kreiert. Er behandelt überdies, wie Stratifikation in der chinesischen Wissenschaft thematisiert und reflektiert wird. In Kapitel 8 („The Towns versus the Countryside“) umreißt der Autor die getrennten Lebenswelten von Stadt und Land und problematisiert die Benachteiligung der ländlichen Bevölkerung – eine Grundstruktur, die die chinesische Gesellschaft bis heute prägt. Dies sind zwei besonders lesenswerte Kapitel des Buches.
Die sowohl für die Wissenschaft als auch die Kunst aufgestellte Behauptung „China is now fully integrated with the rest of the world“ (S. 340) ist aus mehreren Gründen nicht haltbar.
Mit Kapitel 9 („Populations“) – hier geht es um Demografie, Wohlfahrt, die Privatsphäre und Individualisierung – sowie dem sehr kurzen Kapitel 10 („Education and Culture“) verlässt der Verfasser offensichtlich seine Komfortzone. Er greift vermehrt auf Einzelstudien zurück, die Schlaglichter auf spezifische, aber nicht generalisierbare Phänomene werfen. Weder die genannten Zahlen noch die herangezogene Literatur geben die Entwicklungen der letzten fünf bis zehn Jahre wieder. (Wo etwa ist die 2021 erlassene Drei-Kind-Politik, wenn die 2016 verfügte Zwei-Kind-Politik immerhin Erwähnung findet?) Fragwürdig sind besonders die in einem eigenen Unterkapitel festgehaltenen Ausführungen zur Individualisierung, die als „große Veränderung in der chinesischen Gesellschaft seit den 1980er-Jahren“ (S. 321, meine Übers., N.Sp.) ausgegeben wird. Hier wäre eine Differenzierung dringend geboten, denn starke familiale Loyalitäts- und Abhängigkeitsbeziehungen sowie die vom Staat geförderte Rückkehr zu traditionellen Geschlechterrollen setzen dem Individuum deutliche Grenzen. Keine homosexuelle Person in China würde die Zwischenüberschrift „Homosexuality is now tolerated“ (S. 317) unterschreiben. Auch die meisten chinesischen Wissenschaftler:innen, besonders solche in den Sozial- und Geisteswissenschaften, dürften sich kaum in Guiheux’ Darstellung der wissenschaftlichen Entwicklungen seit 1979 wiederfinden, die er unter den Begriffen „professionalization and internationalization“ (S. 337) abhandelt, wohlgemerkt ohne nach der Wissenschaftsfreiheit zu fragen. Staatliche Zensur, Lenkung und Überwachung bleiben ebenfalls unerwähnt. Die sowohl für die Wissenschaft als auch die Kunst aufgestellte Behauptung „China is now fully integrated with the rest of the world“ (S. 340) ist aus mehreren Gründen nicht haltbar. Nicht zuletzt schränkt das Regime mit seiner restriktiven Reisepass- und Visapolitik die reale Begegnung zwischen Wissenschaftlerinnen und Künstlern aus China und dem Rest der Welt stark ein.
Die internationale Dimension der Entwicklung Chinas ist in Guiheux’ Buch insgesamt nicht überzeugend geraten. Wird sie im Bereich Wissenschaft und Kunst überbewertet, fehlt sie an anderer Stelle ganz. So finden einzelne außenpolitische Ereignisse und Maßnahmen wie der Korea-Krieg in den 1950er-Jahren oder die Neue Seidenstraße unter Xi Jinping zwar Erwähnung, es gibt aber kein eigenes Kapitel zur Außenpolitik. Auf die Außenwirtschaft entfallen immerhin fünf Seiten, in denen aber keine Brücke zu sozialen Phänomenen geschlagen wird, etwa dem Zusammenhang zwischen Produktion für den Weltmarkt und der immensen Zahl der Wanderarbeiter:innen innerhalb des Landes. Hier sind nicht nur die Leser:innen enttäuscht, die Chinas Position in der Welt verstehen möchten, sondern es stellen sich auch konzeptuelle Probleme: Fragen der Regimelegitimität und -stabilität hängen eng mit der internationalen Dimension der chinesischen Entwicklung zusammen, zunächst der Integration in den Weltmarkt, die Voraussetzung des schnellen Wohlstandszuwachses war. Als das Wachstum zurückging, setzte das Regime auf einen neuen Nationalismus, befeuert von einem zunehmend konfrontativen außenpolitischen Kurs. Chinas Verflechtung mit der Welt aufzuzeigen, wäre schließlich auch eine Strategie weiterer Entexotisierung, denn über Handel, Investitionen und den Konsum chinesischer Produkte sind wir selbst ein untrennbarer Teil der Geschichte des gegenwärtigen China.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Geschichte Politik Politische Ökonomie Sozialer Wandel Staat / Nation
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