Hannes Bajohr | Essay |

Passive Ungerechtigkeit in Zeiten des Klimawandels

Reflexionen im Anschluss an Judith N. Shklar

Als der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts am 24. März 2021 sein sogenanntes Klimaurteil verkündete, war er zwar nicht Vorreiter, sondern nur Nachzügler ähnlicher Entscheidungen in den Niederlanden und Frankreich.[1] Aufsehen erregte das höchste deutsche Gericht mit seiner Entscheidung aber doch, erklärte es schließlich das seit 2019 in Deutschland geltende Bundes-Klimaschutzgesetz in Teilen für verfassungswidrig. Dieses schreibt fest, dass Deutschland seine CO2-Emissionen bis 2030 gegenüber 1990 um 55% reduzieren müsse. Das im Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 festgehaltene Ziel, die Erderwärmung auf maximal 2 °C oder besser noch 1,5 °C zu begrenzen, um die schlimmsten Folgen des Klimawandels abzuwenden, ist aber nach Ansicht von Kritiker*innen im globalen Maßstab nur zu erreichen, wenn nach 2030 auf alle weiteren Emissionen verzichtet wird. Doch über die Zeit nach 2030 schwieg das Klimaschutzgesetz sich aus. Der Erste Senat urteilte, dass damit vor allem die Angehörigen der jüngeren Generationen in ihren Freiheitsrechten bedroht seien: Man bürde ihnen die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Lasten der nach 2030 noch ausstehenden Emissionsminderung auf, die dann aller Voraussicht nach so radikal und kurzfristig erbracht werden müssten, dass sie in der Ausübung ihrer grundrechtlich geschützten Freiheitsrechte stark eingeschränkt würden.[2]

Das Urteil war wegweisend, weil es mit ihm und vielen ähnlichen Beschlüssen nun möglich wird, künftige Gesetzesvorhaben ebenfalls auf ihre Vereinbarkeit mit den Zielen der Emissionsreduktion hin zu überprüfen. Damit öffnet sich dem Klimaschutz der Rechtsweg. In der Tat wurden weltweit bereits knapp zweitausend solcher Prozesse angestrengt. Climate litigation nennt sich die Strategie, die Klimagerechtigkeit juristisch durchsetzen will. Ein wichtiger Präzedenzerfolg wurde 2015 vor einem niederländischen Gericht errungen, das der Regierung strengere Klimaziele auferlegte. „Zum ersten Mal“, schrieb das Wissenschaftsmagazin Nature, hatte seinerzeit „ein Gericht bestätigt, dass eine Regierung die Fürsorgepflicht für seine Bürger verletzt, wenn es zu wenig gegen Emissionen unternimmt.“[3]

Tatsächlich haben die meisten dieser Verfahren gemein, dass sie Regierungen für etwas in die Verantwortung nehmen, was diese nicht tun. Das ist etwas anderes als ein simpler Verstoß gegen eine Regel, sei es ein explizites Gesetz oder auch nur ein implizites moralisches Verbot. Um die normativen Implikationen dieses Nichttuns zu verstehen, sind Einsichten der politischen Theoretikerin Judith N. Shklar hilfreich. Sie ist vor allem für das von ihr geprägte Konzept eines „Liberalismus der Furcht“ bekannt, der kein höchstes Gut sichern, sondern die schlimmsten Übel vermeiden will – Furcht und Grausamkeit. Shklars methodischen Einsatz könnte man als Verschiebung des Blickwinkels auf die Perspektive der Opfer bezeichnen.[4] Ähnliches geschieht auch in ihrer Studie Über Ungerechtigkeit. Darin findet sich der Begriff der „passiven Ungerechtigkeit“, der präzise beschreibt, was die Protagonisten von Climate litigation umtreibt.[5]

„Passive Ungerechtigkeit“ ist der Widerpart zu ihrer aktiven Form, die von einem Staat, einer Körperschaft oder einer Person ausgehen kann. Der Begriff trägt dem Umstand Rechnung, dass Ungerechtigkeit nicht immer die Folge einer Handlung sein muss, sondern auch durch Unterlassung in die Welt kommen kann: Wer nichts tut, obwohl er oder sie etwas tun könnte, um Ungerechtigkeit zu verhindern oder das Ausmaß ihrer Folgen zu mindern, verhält sich passiv ungerecht. Das, was als Ungerechtigkeit gilt, ist dabei wandelbar und die Erfahrung von passiver Ungerechtigkeit zeigt sich oft, so Shklar, in Form enttäuschter Erwartungen, die man als Bürger*in einer liberalen Demokratie plausiblerweise an staatliche Akteure und seine Mitbürger*innen stellen kann – etwa vor Katastrophen geschützt zu werden oder Hilfe zu bekommen, wenn sie eintreten. Shklar versteht passive Ungerechtigkeit daher als „spezifisch bürgerliches Versagen, private und öffentliche Akte aufzuhalten“. Es ist ein Vergehen gegen die eigenen Mitmenschen, das aus Desinteresse folgt: „Als Bürger sind wir auf passive Weise ungerecht, wenn wir Verbrechen nicht anzeigen, beiseite schauen, wo wir Betrügerei und kleinere Diebstähle sehen, wenn wir politische Korruption tolerieren und schweigend Gesetze akzeptieren, die wir für ungerecht, unklug oder grausam halten.“[6] Aber auch Akteure staatlicher Behörden können passiv ungerecht sein, etwa wenn sie säumig sind und ihre Dienstpflichten vernachlässigen, Maßnahmen verschleppen oder Missmanagement betreiben. Das Ziel, passive Ungerechtigkeit zu verhindern, erschöpft sich dabei für Shklar nicht in der Suche nach den Schuldigen. Statt zu viele Ressourcen darauf zu verschwenden, die Verantwortlichen ausfindig zu machen, müsse es vor allem darum gehen, dem Leid der Opfer abzuhelfen. Sie leiden auch, wenn nicht das Tun, sondern das Nichtstun katastrophale Auswirkungen hat und Grausamkeit, Leid und Unfreiheit hervorbringt – und dazu zählt auch, wie das Verfassungsgericht feststellte, ein nicht eingehegter Klimawandel.

Enttäuschte Erwartungen in liberalen Demokratien

Der „Sinn für Ungerechtigkeit“, der jedem Menschen von Natur aus zukommt, ist für Shklar von zentraler epistemischer Bedeutung.[7] Er erlaubt es, die blinden Flecken einer Mehrheitsmeinung über gesellschaftliche Zustände offenzulegen, indem er die Stimmen der Opfer hört und hörbar macht.[8] So leiden etwa gerade marginalisierte Gruppen unter den Folgen von Umweltverschmutzung und Erderwärmung, weil dadurch entweder bereits bestehende Ungerechtigkeiten verschärft oder neue geschaffen werden.[9] Der Sinn für Ungerechtigkeit bricht sich hier etwa Bahn in den ausdauernden Protesten der Standing Rock-Sioux im Jahr 2016 und 2017 gegen den Bau der Dakota Access-Ölpipeline, der durch ihr Reservat geleitet und ihr Trinkwasser gefährdet hätte.[10] Oder in der Rede, die der Außenminister von Tuvalu vor der UN Klimakonferenz 2021 hielt, während der er knietief im Meerwasser stand, um zu zeigen, dass der steigende Meeresspiegel den pazifischen Inselstaat in Zukunft unbewohnbar zu machen droht.[11] Der Sinn für Ungerechtigkeit ist damit sowohl aktive Protestform wie auch epistemische Ressource für politische Veränderung – ohne ihn wären Missstände schwerer zu identifizieren oder würden gar nicht gehört.[12]

Der Ursprung der blinden Flecken jeder Mehrheitsmeinung liegt in dem, was Shklar das „gewöhnliche Modell von Gerechtigkeit“ nennt – jene expliziten und impliziten Weisen über Gerechtigkeit zu sprechen, die in den westlichen Denktraditionen vorherrschend sind.[13] Bis auf wenige Ausnahmen wurde in der Geschichte der Philosophie von Aristoteles bis John Rawls Ungerechtigkeit schlicht als Abwesenheit von Gerechtigkeit verstanden – als sekundäres, von der eigentlichen Sache nur abgeleitetes Phänomen. Mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit hat man daher unzählige Theorien der Gerechtigkeit entwickelt, ohne dass die Ungerechtigkeit als selbstständiges Phänomen betrachtet worden wäre – und dass, obwohl der Sinn für Ungerechtigkeit Shklar, jeder ausgearbeiteten Konzeption von Gerechtigkeit vorausgeht. Diese Auffassung entspricht durchaus der Alltagserfahrung: Im täglichen Leben sagt man regelmäßig, etwas sei ungerecht, während es den meisten Menschen schwerfallen würde, spontan Beispiele von Gerechtigkeit beizubringen.

Das gewöhnliche Modell, dem die meisten Gerechtigkeitstheorien folgen, geht davon aus, dass Bürger*innen Ansprüche an den Staat und aneinander haben, und dass diese Ansprüche in einem geordneten Satz expliziter Regeln niedergelegt werden können. Shklar nennt dies die „primäre Gerechtigkeit“. Sie organisiert in einer Gesellschaft die Verteilung von Dingen, Lasten oder Vorteilen.[14] Da Ungerechtigkeit hier nur als Abwesenheit der so definierten Gerechtigkeit gelten kann, ist das gewöhnliche Modell ein allzu grobes Sieb, das eigentlich nur zwei Arten von Ungerechtigkeiten aufzufangen vermag: Entweder, es wird eine Regel verletzt – wenn etwa ein großes Unternehmen gesetzliche Vorgaben zum Umweltschutz nicht einhält –, oder aber, es wird eine bestehende Regel auf kriminelle Weise nicht angewandt – wenn etwa eine diesem Unternehmen wohlgesinnte Regierung ein Auge zudrückt und den Verstoß gar nicht weiter verfolgt. Beide Formen von Ungerechtigkeit sind weitgehend durch die Bestimmungen des Straf- beziehungsweise Zivilrechts und des Öffentlichen Rechts abgedeckt. Immer aber wird angenommen, dass nur solche Ansprüche verletzt werden können, die einmal positiv formuliert worden sind, und dass solche Verletzungen tendenziell aktive Handlungen darstellen müssen.[15] Alles, was keine explizite Ungerechtigkeit ist, erscheint schlicht als ein Unglück – bedauerlich, aber niemandem anzulasten, denn keine Regel wurde gebrochen.[16] Wer trotzdem leidet, hat schlicht und einfach „Pech gehabt“.

Dass genau das aber nicht immer der Fall ist, dass so nur ein kleiner Teil der Masse möglicher Ungerechtigkeiten überhaupt erfasst ist, lässt Shklar Einspruch gegen das gewöhnliche Modell der Gerechtigkeit erheben. Denn im gesellschaftlichen Zusammenleben existieren noch viele andere, oft nur implizit formulierte Ansprüche, die erst zu Bewusstsein kommen, wenn sie enttäuscht werden. Aus diesem Grund achtet Shklar immer auf die ausgesprochenen oder unbewussten Erwartungen, die Bürger*innen in einer liberalen Demokratie aneinander und an ihre Regierung stellen. Sie sind selten kodifiziert, leiten aber den täglichen Umgang von Bürger*innen miteinander sowie das Verhältnis zwischen ihnen und ihren Institutionen; zudem sind sie historisch wandelbar, wären also auch niedergelegt immer wieder zu aktualisieren.

Shklars Denken lässt sich am besten verstehen, wenn man es als Übunge der politischen Urteilskraft und weniger als Ausformulierung und Anwendung von Regeln begreift. Regelgeleitete Gerechtigkeitstheorien setzen, wie Katrina Forrester verdeutlicht hat, zu sehr auf einen schon bestehenden Konsens über gerechtfertigte Erwartungen, statt, wie es Shklar vorzieht, den Prozess, das je gerechter- und gerechtfertigterweise zu Erwartende im gegebenen Fall festzustellen, mit der Aushandlung und Artikulation der entsprechenden Erwartungen beginnen zu lassen. Gewöhnliche Gerechtigkeitstheorien haben daher oft einen ausgeprägten Vertragscharakter, so als ob sich alle Handlungsgründe auf bloß abstrakte Ja/Nein-Entscheidungen herunterbrechen ließen, statt vor allem Beziehungen zwischen leidensfähigen Menschen, zwischen Starken und Schwachen, eben zwischen Bürger*innen mit Erwartungen aneinander zu sein.[17] Die Bedeutung dieser Erwartungen liegt dabei in ihrer normativen Kraft: Selbst, wenn man ihnen in der Praxis oft nicht gerecht wird, bleibt die Überzeugung lebendig, dass sie idealerweise erfüllt werden sollten – und jede Abweichung von dieser Norm ruft den Sinn für Ungerechtigkeit auf. Je demokratischer eine Gesellschaft ist, aber auch je enger ihre Funktionen miteinander verzahnt sind, desto umfassender können diese Erwartungen werden; je autoritärer ein Staat dagegen, desto geringer die Kraft positiver Erwartungen – in einer Willkürherrschaft gäbe es gar keine, die daher auch kaum enttäuscht werden können.[18]

Auch die zweite Annahme, die hinter dem gewöhnlichen Modell der Gerechtigkeit steht, dass es nämlich immer aktive Handlungen sein müssen, die ungerecht sind, hält Shklar für unplausibel, und setzt dem ihr Konzept passiver Ungerechtigkeit entgegen. Das Konzept ist freilich keine ganz neue Idee. Shklar selbst zitiert als älteste Belegstelle Ciceros De officiis, deren Einsicht allerdings in kaum eine Gerechtigkeitstheorie aufgenommen worden sei: „Wer dem Schlechten nicht entgegentritt oder es verhindert, hat er die Macht dazu, ist ebenso schuldig, unrecht gehandelt zu haben, als verriete er sein Vaterland“, schreibt Cicero und plädiert für eine republikanische Politik, bei der die politische Identifikation mit dem Staat bis ins Private hineinreicht.[19] Aus republikanischer Perspektive ist Untätigkeit, die zulässt, dass etwas Schlechtes geschieht, auch dann ungerecht, ja unpatriotisch, wenn kein Gesetzes- oder Regelverstoß vorliegt. Das gilt sowohl für das Handeln von Regierungsstellen als auch für die Handlungen der Bürger*innen, weshalb Charakter und internalisierte Tugend wichtige Vokabeln des Republikanismus sind. Sie entsprechen einer ganz bestimmten Vorstellung von Staatsbürgerschaft, die jener des Liberalismus entgegenzustehen scheint: So hat etwa der Philosoph Michael Sandel moniert, der Liberalismus kenne kein gemeinsames bürgerschaftliches Engagement, da er Gesellschaft nur als bloßes Konglomerat „ungebundener Selbste“ denke, die einander durch keinerlei Verpflichtungen verbunden seien und nur nach uneingeschränkter Wahlfreiheit strebten.[20] Die Pflichten, die officia, von denen in Ciceros Titel die Rede ist, wären so betrachtet nichts anderes als Einschränkungen der staatsbürgerlichen Freiheit und gerade nicht ihr Kern.

Für Shklar gibt die republikanische Idee von Staatsbürgerschaft gleich in mehrfacher Hinsicht Anlass zur Skepsis. Sie neige dazu, der liberalen „fraglosen Akzeptanz kultureller Vielfalt“ zu widersprechen, homogenisierend und fremdenfeindlich zu sein.[21] Überdies seien die Bürger*innen hier oft in einem solchen Maße in das politische Leben eingebunden, dass die für den Liberalismus so zentrale Unterscheidung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten hinfällig zu werden drohe.[22] Dennoch kennt und schätzt auch Shklars Liberalismus „gute Staatsbürger*innen“: Sie erheben die Stimme, wenn Dritte ungerecht behandelt werden, achten auf deren Freiheit und Freiheitsbedingungen und engagieren sich für das Funktionieren ihrer demokratischen Institutionen. Das ist die „Demokratie des täglichen Lebens“, die ihren Ausdruck findet „in den Gebräuchen der Gleichheit und in der Gegenseitigkeit gewöhnlicher Verpflichtungen zwischen Staatsbürgern“.[23]

Egal ob sie von staatlichen Stellen oder privaten Bürger*innen ausgeht: Passive Ungerechtigkeit ist die im gewöhnlichen Modell nicht vorgesehene Verletzung einer spezifisch demokratischen Erwartung – dass jede Stimme zählt und deswegen gehört werden muss. Es ist in gewisser Weise eine Erwartungserwartung, denn sie begleitet den Umgang mit unseren anderen Erwartungen – seien sie nun rechtlich kodifiziert oder nicht –, in denen sich die Anerkennung als demokratische*r Staatsbürger*in ausdrückt.[24] Shklar gibt eine Reihe von Beispielen, in denen diese Erwartungserwartung zum Ausdruck kommt: Vor Grausamkeit geschützt zu sein ist demnach das Minimum, auf das Bürger*innen eines funktionierenden liberalen Staates Anspruch haben. Zur weitergehenden Forderung nach Anerkennung gehört, garantierte Partizipationsmöglichkeiten in diesem Staat und gleiche Rechte zu besitzen wie alle anderen, aber auch, keine Diskriminierung zu erfahren. Und schließlich ist das Gehörtwerden selbst eine Erwartung in einer Demokratie, die schmerzt, wenn sie enttäuscht wird. In all dem drückt sich die urdemokratische Kernerwartung aus, dass jede Stimme zählt und daher jede Stimme gehört werden muss.

In einem 1992 gehaltenen Vortrag, in dem Shklar noch einmal ihren „Liberalismus der Furcht“ erläuterte, klärte sie darüber hinaus auf, dass sich Erwartungen auch ändern und anpassen können: „[D]ie Einhegung aller Quellen vermeidbarer Furcht“ sei ein fortschreitender Prozess, der in der Gegenwart auf die „Verringerung jeder Form von sozialer Ungleichheit“ abziele.[25] In ihrem letzten Buch American Citizenship, das im selbem Jahr erschien, argumentiert Shklar mit Blick auf die US-amerikanische Gesellschaft ihrer Gegenwart, dass zur vollgültigen Staatsbürgerschaft in den USA neben dem (kodifizierten) Wahlrecht auch die (nicht kodifizierte) Stellung als Lohnempfänger*in gehört. Die Erwartung, den eigenen Lebensunterhalt durch Arbeit zu bestreiten zu können, um als Staatsbürger*in vollgültig anerkannt zu sein, begründet für Shklar ein informelles Recht auf Arbeit. Dieses Recht, so Shklar, „mag kein Recht mit Verfassungsrang sein […], aber es sollte doch eine Annahme sein, die unsere politischen Entscheidungen leitet“.[26] Die jeweiligen Erwartungen, die die Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft plausiblerweise an ihre Institutionen wie auch aneinander richten, sind also historisch variabel. Sie hängen von Faktoren ab, die selten explizit niedergelegt sind: Der Stand der verfügbaren Technik spielt hier ebenso eine Rolle wie eben die Quellen von gesellschaftlicher Stellung oder das Ideal von Staatsbürgerschaft, das in einer Gesellschaft herrscht. Ein nicht unwesentlicher Teil der Politischen Theorie besteht für Shklar daher darin, diese unausgesprochenen Erwartungen offenzulegen und zu explizieren.[27] Von ihnen hängt ab, ob sich der Sinn für Ungerechtigkeit auch dann erhebt, wenn kein Gesetz gebrochen oder gegen eine Norm verstoßen, sondern eine passive Ungerechtigkeit begangen wurde.

Ein Recht auf Zukunft

Sind gesellschaftliche Erwartungen veränderbar, muss sich auch die größte Veränderung in der Geschichte der Menschheit auf sie auswirken. Der Klimawandel, darauf zielte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, schürt Erwartungen an die Schutzpflicht des Staates – und zwar, was neu ist, in der Zeit. Es dürfe, heißt es da, „nicht einer Generation zugestanden werden […], unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2-Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine – von den Beschwerdeführenden als ‚Vollbremsung‘ bezeichnete – radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben schwerwiegenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde.“[28] So, wie Shklar für die US-amerikanische Gesellschaft ein Recht auf Arbeit herleitet, könnte man im Geist dieses Rechtsspruchs von einem implizit formulierten Recht auf Zukunft sprechen. Dabei geht das Urteil nicht so weit, wie es die Shklar’sche Ungerechtigkeitstheorie vorsähe. So stellten die Karlsruher Richter*innen explizit keinen Gesetzesverstoß (und also noch nicht einmal eine juristische Ungerechtigkeit) in der Vergangenheit fest – weder gegen Artikel 20a des Grundgesetzes, das sogenannte Klimaschutzgebot, noch gegen die Artikel 2 und 14, in denen die grundrechtliche Schutzpflicht des Gesetzgebers festgelegt ist. Das wäre nur dann der Fall gewesen, so das Urteil, wenn gar kein Konzept zur Klimaneutralität vorgelegen hätte. Statt um eine bereits begangene Ungerechtigkeit ging es in dem Beschluss also um die Verhinderung einer zukünftigen, und so wurde der Gesetzgeber lediglich zur Nachbesserung im Sinne „intertemporale[r] Freiheitssicherung“ aufgefordert.[29]

Jenseits des Rechts, aber mit einem Blick auf die Erwartungen einer Gesellschaft, wären hingegen weitergehende Forderungen abzulesen. Die Protestbewegungen der letzten Jahre, etwa Fridays for Future oder Extinction Rebellion, sowie die klimapolitische Debatte allgemein zeigen, dass die gesellschaftliche Selbstverständigung über ein solches Recht auf Zukunft in Teilen unserer Diskussionen, kulturellen Zuschreibungen und Praktiken bereits eine Realität geworden ist, sich aber noch nicht übergreifend durchgesetzt hat. In diesem diskursiven Schwebezustand ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nur eine, wenngleich gewichtige Stimme unter anderen. Es ist, anders gesagt, einerseits juristisch relevant – innerhalb des Rechts als einem klar von allen anderen gesellschaftlichen Bereichen isoliertem Regelsystem –, zugleich aber auch ein Teil der sehr viel umfassenderen gesamtgesellschaftlichen Verständigung über genuin politische Fragen; in der Tat sind Politik und Recht in vielen Fällen nicht zu trennen, weshalb es falsch wäre das Urteil nur unter legalistischen Aspekten zu betrachten.[30]

Ein Recht auf Zukunft wäre dagegen „kein Recht mit Verfassungsrang“, sondern hätte vor allem politischen Status und müsste im Anschluss an Shklar aus gesellschaftlichen Erwartungen abgelesen werden. Es wäre das Recht, die Veränderungen in den Lebensbedingungen kommender Generationen nicht größer werden zu lassen als unbedingt nötig und sie nicht noch fahrlässig zu verstärken. Diese Idee erinnert an das von dem Philosophen Hans Jonas formulierte „Prinzip Verantwortung“, das explizit davon ausgeht, dass sich mit der Reichweite menschlichen Handelns – in diesem Fall der zunehmenden Umweltverschmutzung, der sich abzeichnende Klimawandel war bei Erscheinen des gleichnamigen Buches 1979 nur ein Randthema – auch die Reichweite von Ethik verändert. Sie umfasst nun nicht nur den zeitlichen und räumlichen Nahbereich, sondern erhebt zudem die Forderung, uns ferne Gruppen ebenso zu berücksichtigen wie zukünftige Generationen.[31] Auch Jonas spricht von einem „summum malum“, einem größten Übel als Ausgangspunkt. Dabei hat die Konzentration auf dieses Übel bei ihm vor allem heuristische Funktion: In der Vorstellung des zu Verlierenden wird das Bewahrenswerte überhaupt erst sichtbar. Man muss sich die Folgen einer verheerten Natur ausmalen, um daraus die Motivation zum Handeln zu erhalten. Wenn Jonas von einer „Heuristik der Furcht“ spricht,[32] liegt es daher fast auf der Hand, seine Überlegungen mit dem „Liberalismus der Furcht“ kombinieren zu wollen.

Es ist aber für die Bewertung von Shklars Ansatz und seiner – von ihr freilich nie selbst formulierten[33] – Anwendung auf die Klimapolitik hilfreich, die Unterschiede zu Jonas zu benennen. Zum einen ist der Status der Furcht heute ein anderer: Ging Jonas seinerzeit davon aus, dass die Furcht nur eine um die noch Ungeborenen sein könne, weshalb er versuchte, uns durch möglichst drastische Szenarien „zu der passenden Furcht anzuhalten“[34], so sind es heute bereits die Mitlebenden, die von den Folgen des Klimawandels betroffen sind. Furcht ist hier kein heuristisches Mittel mehr, sondern immer häufiger eine Tatsache, die als „climate anxiety“ bereits offiziell psychopathologischen Rang erlangt hat.[35] Schon den jetzt erwachsenen Generationen stehen die Folgen des Klimawandels vor Augen, vom Verlust von 28 Billionen Tonnen Eis in den letzten vier Jahrzehnten[36] bis hin zur Tatsache, dass die vergangenen sieben Jahre die in Folge wärmsten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen waren, mit neuen Hitzerekorden im Sommer 2022.[37] Zugleich aber hat die Furcht um die zukünftigen Generationen nicht abgenommen, sie ist nur näher in die Gegenwart gerückt. Ein Kind, das 2019 geboren wurde, würde die 4 °C Erderwärmung eines ungebremsten Klimawandels – unter denen kein normales Leben mehr möglich wäre – spätestens zu seinem 70. Geburtstag am eigenen Leib spüren.[38] Aus diesem Grund waren die Kläger*innen in Karlsruhe als unmittelbar Betroffene auch Kinder und Jugendliche.

Im Unterschied zu Shklar hat Jonas aber nicht nur ein summum malum, sondern auch weiterhin ein summum bonum im Blick. Er besitzt eine sehr genaue Vorstellung nicht nur von einem gelungenen Leben, sondern auch vom Wert des Lebens überhaupt. Aus diesem Grund bietet er eine ganze naturphilosophische Metaphysik auf, um zunächst die Frage zu klären, wieso überhaupt Menschen in der Welt sein sollen, um dann aus der „Pflicht zum Dasein“ auf eine Pflicht zur Erhaltung der Menschheit zu schließen.[39] Die Pflicht zum Dasein ist nicht nur sehr viel voraussetzungsvoller als eine Vermeidung von Furcht und Grausamkeit als summum malum, sondern auch philosophisch folgenreicher. Es entzieht die Entscheidung über politisches Handeln aller politischen Aushandlung und macht es zur Sache eines „Seins“, einer Ontologie. Aus Einsicht in ein wie immer geartetes Sein praktische Handlungsanweisungen abzuleiten, ist, wie Hans Blumenberg es einmal genannt hat, politischer „Platonismus“[40] – es gemahnt an die Philosophenkönige aus Platons Republik, in der eine kleine Elite mit dem unumstößlichen Wissen der Wahrheit die Staatsgeschäfte führt, und zwar zur Not auch um den Preis einer Täuschung der großen Masse.

Aus der Perspektive von Shklars skeptischem „Liberalismus der Furcht“ ist ein solcher politischer Platonismus unbedingt zu vermeiden. Shklars nur von einem summum malum her entwickelter Ansatz bietet keine Gewissheiten und plädiert daher für eine Politisierung von Gerechtigkeitsfragen, statt sie mit Verweis auf vermeintlich unbestreitbare Tatsachen oder letzte philosophische Gründe politisch zu neutralisieren.[41] Für die Wissenschaft heißt das, dass ihre Ergebnisse – selbst im Fall des Klimawandels – nie unmittelbare politische Folgen zeitigen können, sondern immer erst politisch diskursiviert werden müssen. Diese Differenz bringt Jonas zum Verschwinden, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass er – der sich selbst als „Fremdling“ in der „Zwielichtzone des Politischen“ bezeichnet hat – am Ende „eine wohlwollende, wohlinformierte und von der richtigen Einsicht beseelte Tyrannis“ als politisch wünschbar beschreibt.[42] Solche Konsequenzen wären mit Shklar unmöglich – was politisch aus der Heuristik der Furcht bei Jonas folgt, liegt dem „Liberalismus der Furcht“ gänzlich fern.

„Notwendigkeit“, diese auf Machiavelli zurückgehende politische Trope,[43] schneidet alle Deliberation und alle Politik ab und ersetzt sie wahlweise durch Staatsräson, die Macht des Stärkeren oder politischen Platonismus. Man erkennt schnell, dass Jonasʼ Rede vom notwendigen Handeln nur das ökologische Gegenstück zur konservativen Rhetorik der „Sachzwänge“ ist, die immer dann zu hören ist, wenn Einsparungen durchgesetzt oder Beschränkungen der gegenwärtigen Generation zugunsten der kommenden abgewehrt werden sollen. So wird jedes Tempolimit bereits zur Vorwegnahme der drohenden Ökodiktatur. Solche Positionen sind nicht neu: Schon 1957, in ihrem ersten Buch After Utopia, klagte Shklar jenen „konservativen Liberalismus“ an, der sich jeglicher kollektiven politischen Veränderung im Namen einer rein individuellen Freiheit entgegensetzte, und den „Weg zur Knechtschaft“ des Totalitarismus mit Akten staatlicher Regulierung gepflastert sah.[44] So unsinnig das damals war und heute noch ist, so naiv ist die mitunter von Klimaaktivist*innen geäußerte Hoffnung, der Hinweis auf die wissenschaftlichen Fakten reiche aus, um mit der Einsicht auch die Bereitschaft zum Handeln hervorzubringen. Beide Positionen, die liberalkonservative ebenso wie die wissenschaftsgläubige, wirken auf ihre jeweilige Weise depolitisierend, weil sie bestimmte Themen der politischen Aushandlung von vornherein entziehen.

Ein Shklar’sches Recht auf Zukunft dagegen ist sich der Unausweichlichkeit des Politischen bewusst. Um ein solches Recht zu begründen, braucht es einen anderen, weniger kategorischen Begriff von „Notwendigkeit“, der gerade nicht das Ende von Aushandlungen bezeichnet, sondern das je Hinnehmbare zum ständigen, allererst auszuhandelnden Thema macht. Das Notwendige kann nur eine Sache von Diskussionen, nicht von Setzungen sein. Schließlich ist das, was an Veränderung für gegenwärtige und künftige Generationen notwendig erscheint, selbst eine Sache von sich verändernden und artikulierten Erwartungen. „Zustimmung als ununterbrochener Prozess unter den Bedin­gungen persönlicher Freiheit“[45] nennt Shklar diese liberaldemokratische Alternative zur Politik der Sachzwänge. Jonas’ ökologisch begründete Tyrannis ist der falsche Weg, der gerechtfertigten Furcht vor der Klimakatastrophe zu begegnen; aber die liberaldemokratische Lösung richtet sich auch gegen den „liberalkonservativen“ Impuls, aus Trotz gegen jede kollektive politische Veränderung und unter Hinweis auf individuelle Freiheit als Nicht-Einschränkung nichts oder nur wenig zu tun. Denn auch das Nichtstun kann Ungerechtigkeit, Furcht und Grausamkeit hervorrufen; eben das ist die Lehre der passiven Ungerechtigkeit.

Anthropozänische Ungerechtigkeit

Der Rhetorik der Notwendigkeit nicht unähnlich ist die Rhetorik des Natürlichen. In unserem alltäglichen Sprachgebrauch kann das, was natürlich ist, keine Ungerechtigkeit sein, sondern höchstens ein Unglück, denn es gibt hier keine Verantwortlichen. Eine Strategie, einschneidende politische Veränderungen angesichts des Klimawandels zu verschleppen, mag nicht nur darin bestehen, ihn zu leugnen oder Gegenmaßnahmen unter Hinweis auf die zu großen Lasten für die Gegenwärtigen in die Zukunft zu verschieben, sondern ihn als bedauerliches, aber letztlich natürliches Phänomen zu rationalisieren. Denn selbst, wenn er als menschengemachtes Ereignis anerkannt wird, kann doch sein Ausmaß derart gravierend erscheinen, dass der Eindruck entsteht, nichts oder nur wenig gegen ihn tun zu können. Aus dieser Perspektive wird der Klimawandel zu einer Naturgewalt – ein Unglück, bedauerlich für jene, die es trifft. Vor allem mit dem gewöhnlichen Modell von Gerechtigkeit, das nur explizite Regelverletzungen als ungerecht anerkennt, läuft man Gefahr, zum Unglück zu erklären, was viele Protestbewegungen der letzten Jahre als Ungerechtigkeit brandmarken.

„Wann ist eine Katastrophe ein Unglück und wann eine Ungerechtigkeit?“ fragt Shklar zu Beginn ihres Buches Über Ungerechtigkeit und vermutet: „Sind äußere Naturgewalten Ursache des furchtbaren Ereignisses, handelt es sich um ein Unglück, und wir müssen uns in unsere Leiden fügen. Sollte es jedoch ein menschliches oder übernatürliches Wesen mit üblen Absichten herbei­ geführt haben, dann handelt es sich um eine Ungerechtigkeit und wir dürfen unsere Empörung und unseren Zorn zum Ausdruck bringen.“[46] Dass diese auf den ersten Blick einleuchtende Unterscheidung bei genauerer Betrachtung nicht weit trägt, zeigt Shklar am Beispiel eines Erdbebens, einer offensichtlich nicht von Menschen verursachten Katastrophe: Dass sie geschah, mag niemandes Schuld gewesen sein; aber wie sie sich auswirkte, das heißt wie für diesen Fall vorgesorgt oder auf sein Eintreten reagiert wurde, wird von politischen Entscheidungen beeinflusst. Gibt es technische Lösungen der Prävention oder der Rettung – und kann man in einer demokratischen Gesellschaft plausibel erwarten, dass der Staat über sie verfügt und einsetzen sollte –, dann ist das Unterbleiben von Hilfe eine passive Ungerechtigkeit.

Flutkatastrophen wie die im Ahrtal, an der Erft und Teilen Belgiens, die im Sommer 2021 über 220 Menschen das Leben kosteten und Schäden in Höhe von fast 6 Milliarden Euro anrichteten, sind so betrachtet keine Unglücksfälle, mit denen man eben rechnen und in deren Folgen man sich fügen muss. Vielmehr zeugen die dort angerichteten Verheerungen von zwei Arten passiver Ungerechtigkeit: Die erste ist unmittelbar menschlicher Natur und betrifft die Vorbereitung auf und das Verhalten während und nach der Flut. Die zweite ist Ausdruck einer „menschlich-natürlichen“, einer, wie man sie nennen könnte, anthropozänischen Ungerechtigkeit. Sie wurde von niemandem direkt herbeigeführt, aber durch eine komplexe Verkettung von direkten und indirekten Folgen des Klimawandels wahrscheinlicher gemacht.

Ein Jahr nach dem Hochwasser im Ahrtal berichtete Der Spiegel von einer ganzen Reihe Verfehlungen, die jener Form passiver Ungerechtigkeit ähneln, die Shklar im fiktiven Fall des Erdbebens beschrieb. Ein Betroffener beklagt, „so viel laufe schief, die schleppende Aufklärung, der bürokratische Umgang mit den Opfern, der mangelhafte Katastrophenschutz“[47] – und benennt damit Aspekte, die auch bei Shklar eine Rolle spielen: Passive Ungerechtigkeit kann neben zu langsamer oder fehlerhafter Reaktion im Katastrophenfall auch in unzureichender Vorsorge bestehen oder sich darin zeigen, dass man sich nach dem Ereignis nicht oder nur unzureichend um die Opfer kümmert. So auch hier. Im Nachhinein wurde klar, dass die Vorsorge für eine derartige Katastrophe völlig mangelhaft war, weil man einen Pegelstand von bis zu 10 Metern für unwahrscheinlich gehalten hatte. Am 14. Juli 2021, dem Tag der Flut, waren zudem die Behörden schlecht miteinander vernetzt und Bezirksregierungen gaben wichtige Informationen nicht an die Landkreise weiter. Auch blieben die Pläne, die vorlagen, ungenutzt, und die Evakuierung begann vielerorts viel zu spät. Vor allem der rheinland-pfälzische Innenminister Lewentz stand in der Kritik: Warum wurden die Dörfer flussabwärts nicht gewarnt, als weiter oben das Ausmaß der Katastrophe schon bekannt war?

Besonders für die Schwächsten war die ungenügende Vorbereitung katastrophal, wie im Fall eines Lebenshilfeheims. Man hatte „die Bewohner in dem Heim für geistig und körperlich behinderte Menschen schlafen lassen, anstatt sie in Sicherheit zu bringen“.[48] Als die Feuerwehr darauf drängte, das Gebäude zu evakuieren, soll das Heim abgelehnt haben; als Angehörige versuchen, selbst eine Bewohnerin in Sicherheit zu bringen, war es bereits zu spät. Zwölf Menschen starben. Auch nach der Flut gab es eine Reihe passiver Ungerechtigkeiten zu beklagen. Die Opfer blieben zu einem großen Teil allein. Nicht nur kam das versprochene Fluthilfegeld nicht an oder wurde verweigert, auch erfuhren sie nicht, warum ihnen nicht geholfen worden war – zur materiellen kam noch eine Anerkennungsungerechtigkeit, die ihre Stellung als Bürger*innen verletzte.

Schlechte Vorbereitung, mangelnde Hilfe, kaum Aufklärung und immer wieder die Aussage, man sei nicht zuständig oder habe nichts gewusst – all das sind Arten passiver Ungerechtigkeit, begangen von staatlichen Behörden, Institutionen und deren Vertreter*innen. Es bringt den Sinn für Ungerechtigkeit außerdem auf, wenn nach einer Katastrophe niemand für die festgestellten Versäumnisse oder Unterlassungen zur Rechenschaft gezogen wird: Die zuständige Staatsanwaltschaft konnte bei der Landesregierung und den Behörden „kein strafbares Versäumnis erkennen“. Ein Betroffener empörte sich: „Beim Hochwasserschutz hat keiner seine Hausaufgaben gemacht, und jetzt übernimmt keiner die Verantwortung.“[49] Hier zeigt sich wieder der Unterschied zwischen der legalen und der politischen Dimension von Ungerechtigkeit: Waren die Behörden rechtlich nicht zu belangen, sind sie doch ihrer politischen Verantwortung nicht gerecht geworden, weil sie eben jene „Bereitschaft zu handeln“ vermissen ließen,[50] die man Shklar zufolge von den Bürger*innen – und insbesondere den Vertreter*innen – einer liberalen Demokratie erwarten kann.

Aber selbst in der nachträglichen Aufarbeitung eines fehlerhaften Katastrophenmanagements wird sich die Grenze zwischen einem dem menschlichen Handeln unverfügbaren Unglück und einer vermeidbaren Ungerechtigkeit nie eindeutig ziehen lassen. Denn die „Grenze zwischen dem Menschlichen und dem Natürlichen“[51] ist beweglich und historischem Wandel unterworfen. Neben dem technologischen Entwicklungsstand einer Gesellschaft, der bestimmt, welche Verheerungen vermieden oder behoben werden können, hat Shklar hier eigentlich die Bedeutung von kulturellen Zuschreibungen im Sinn: Schwarz zu sein ist ein Unglück, glaubt man an natürliche Rassendifferenzen, denen zufolge weiße Menschen allen anderen überlegen sind; es wird zur Ungerechtigkeit, wenn man erkennt, dass Rassismus eine Sache menschlicher Handlungen ist.[52] Weil gerade der Wandel kultureller Zuschreibungen langsam verläuft und oft umstritten ist, fordert die Grenzziehung zwischen dem Natürlichen und dem Menschengemachten, zwischen Unglück und Ungerechtigkeit, zu jedem gegebenen Zeitpunkten eine Entscheidung. Und da ihr Gegenstandsbereich weitgehend eine Setzung ist, ist Ungerechtigkeit ein politischer Begriff.

In Zeiten des Anthropozäns aber – jener vorgeschlagenen Erdepoche, für die der Klimawandel steht und in der der Einfluss des Menschen auf den Planeten in dessen Erdmantel geologisch nachweisbar geworden ist –, wird die Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und dem Menschengemachten noch komplizierter. Der Historiker und Vordenker der Anthropozäntheorie Dipesh Chakrabarty schreibt, dass mit dem Anthropozän der Unterschied zwischen Erd- und Menschheitsgeschichte hinfällig geworden sei: Der Mensch wirkt in die Erde hinein und hat – nicht nur durch CO2-Ausstoß, sondern auch durch Meeresübersäuerung, Reduktion von Artenvielfalt und die Rückstände von Atomtests – „geologische Handlungsmacht“ erlangt.[53] Die Grenze zwischen dem Menschlichen und dem Natürlichen hat sich nicht nur verschoben, so wie es infolge technologischen Fortschritts oder aufgrund des Wandels kultureller Zuschreibungen geschieht, sondern ist vielmehr verschwommen. Damit wird auch der Graubereich zwischen Unglück und Ungerechtigkeit größer und undurchsichtiger: Da Menschen heutzutage Natur ,machen‘, kann selbst ,Natürliches‘ inzwischen eine Ungerechtigkeit, weil von Menschen beeinflusst sein. So wäre anthropozänische Ungerechtigkeit ein neuer Typ von Ungerechtigkeit, den Shklar zwar nicht voraussah, der sich aber mit dem Instrumentarium ihrer Theorie identifizieren und beschreiben lässt.

Anthropozänische Ungerechtigkeit steigert die dem Begriff der Ungerechtigkeit eigene Verlegenheit, kein objektiv bestimmbarer, sondern ein politischer Begriff zu sein, der nur durch Diskussion und Urteilskraft geschärft werden kann. Und wenn die vorgeschlagene Erweiterung des Shklar’schen Ansatzes plausibel ist, dann erfährt auch der Radius der passiven Ungerechtigkeit eine signifikante Erweiterung. Passiv ungerecht ist demnach auch, wer sich weigert, den Opfern möglicher anthropzänischer Ungerechtigkeit Gehör zu schenken und mit ihnen in eine Debatte darüber einzutreten, was ihre Erfahrung für die Gestaltung politscher Freiheitsräume bedeutet.

Auch die anthropozänische Ungerechtigkeit lässt sich an den Ereignissen von 2021 zeigen. Seinerzeit kamen verschiedene Faktoren zusammen. So machten die geologischen Bedingungen an der Ahr ein Hochwasser wahrscheinlicher: Das Flusstal ist eng, hat steilabfallende Hänge und Böden aus festem Vulkangestein. Hinzu kam die Lage von Gebäuden und Campingplätzen nahe am Wasser, die Versiegelung von Oberflächen und die Kanalisierung von Gewässerläufen. Das trug zusammen mit der Tatsache, dass die Regenfälle auf bereits gesättigte Böden trafen und deshalb nicht einfach abfließen konnten, wesentlich zur Flut bei. Man könnte meinen, es ließe sich hier klar unterscheiden, was menschengemacht ist – die Lage der Siedlungen – und was natürlich – die Gesteinsstruktur. Aber wie steht es um den bereits andauernden Regen, dessen Menge weit über dem Jahresdurchschnitt lag? Er wäre ein drittes, ein menschlich-natürliches, eben ein anthropozänes Phänomen. Eine Studie der World Weather Attribution Initiative kam zu dem Schluss, dass die Flutkatastrophe mittelbar und unmittelbar mit der zunehmenden Erderwärmung zusammenhing. Die Wahrscheinlichkeit für extreme Regenfälle habe sich durch die anthropogene Erderwärmung um das 1,2 bis 9-fache erhöht, auch habe deren Intensität um 3% bis 19% zugenommen; damit würde sich ein solches Hochwasser, das statistisch gesehen bisher nur alle 400 Jahre vorkam, im Mittel nun eher alle 300 Jahre ereignen (in anderen Weltregionen, wie man es im Moment in Pakistan beobachten kann, ist diese Frequenz noch einmal um ein Vielfaches höher).[54] Und das ist nur der heutige Stand. Bei einer fortschreitenden Klimaveränderung würde die Wahrscheinlichkeit solcher Extremwetterereignisse weiter zunehmen – bei 2 °C mehr um bis zu 6%.[55]

Die Hinterbliebenen der Opfer, die geschädigten, in ihren Erwartungen enttäuschten Bürger*innen können bei menschlichen Verfehlungen im Angesicht natürlicher Katastrophen mit dem Finger auf Verantwortliche zeigen, Verbesserungen einfordern und ihren Sinn für Ungerechtigkeit artikulieren. Immer geht es in den politischen Debatten, die auf solche Anklagen folgen, um den Grenzverlauf zwischen Unglück und Ungerechtigkeit. Auch bei der anthropozänischen Ungerechtigkeit würde man, wie die Kläger*innen vor dem Bundesverfassungsgericht, darauf drängen festzustellen, dass mehr hätte getan werden müssen, um dem anthropogenen Klimawandel Einhalt zu gebieten, mit seinen Folgen zu planen oder sie für die am meisten Betroffenen abzumildern. Wie aber geht man mit anthropozänischer Ungerechtigkeit um? Was tun, wenn sich vielleicht überhaupt keine Verantwortlichen mehr ausmachen lassen, weil wir alle die Schuld tragen?

Der Klimawandel und das Problem der „vielen Hände“

Der Begriff der „anthropozänischen Ungerechtigkeit“ zeigt, welche neuen Probleme die verschwimmende Grenze zwischen Unglück und Ungerechtigkeit mit sich bringt. Die Frage nach passiver Ungerechtigkeit ist nicht dieselbe wie die nach eindeutiger Schuld. Natürlich wäre es gut, wenn sich die Verursacher*innen einer Katastrophe ausfindig machen ließen, aber Shklar weist darauf hin, dass man dazu nicht immer in der Lage ist. Komplexe Kausalketten und das Problem der „vielen Hände“ machen es oft unmöglich, Schuld eindeutig zu lokalisieren.[56] Auch im Fall der Klimakrise lässt sich das beobachten. Die Frage, bei wem die Schuld für die Erderwärmung zu suchen ist, ist Gegenstand zahlreicher Debatten. Die überwältigende Mehrheit seriöser Forscher*innen hält sie für menschengemacht. Was aber heißt das genau? Ist damit „der Mensch“ an sich gemeint, als Spezies homo sapiens oder als Kollektiventität „Menschheit“? Keine abstrakte Idee kann an irgendetwas Schuld sein, lautet hier ein geläufiger Einwand, häufig gefolgt von dem Hinweis, dass bestimmte Menschengruppen die Klimaerwärmung weitaus stärker vorangetrieben haben als andere, zuvörderst die westlichen Industriegesellschaften.[57] Sind damit aber nicht andere Emissionsproduzenten wie China, das heute insgesamt (wenn auch nicht pro Kopf) mehr CO2 in die Atmosphäre ausstößt als die USA, fein raus?[58] Aber selbst wenn dem so wäre: Geht denn die Verschmutzung von diesen Gesellschaften in ihrer Gesamtheit aus? Oder liegt die Schuld am Ende nicht doch immer bei bestimmten Schichten oder Individuen?

An dieser Stelle hilft auch die von Hannah Arendt getroffene Unterscheidung zwischen Schuld und Verantwortung nicht weiter – dass nämlich Schuld immer eine Sache von Einzelnen sei, Gruppen dagegen nur Verantwortung übernehmen könnten.[59] Ein ethisches Problem des Klimawandels besteht gerade darin, dass man Schuld und Verantwortung nicht mehr ohne Weiteres trennen kann, weil sich die Skalen des Individuellen und des Kollektiven kreuzen.[60] „Jedes Mal, wenn ich mein Auto anlasse“, schreibt der Philosoph Timothy Morton, „habe ich nicht vor, der Erde Schaden zuzufügen. […] Und ich schade der Erde ja auch nicht: Meine einzelne Schlüsseldrehung ist statistisch gesehen bedeutungslos.“ Diese individuelle Bedeutungslosigkeit löst sich jedoch auf, sobald ich als Mitglied einer Gruppe handele, die im Extremfall alle anderen Menschen umfasst: „Wenn ich diese Akte auf Milliarden von Schlüsseldrehungen […] ausdehne, erleidet die Erde aber ohne Frage einen Schaden.“ Dadurch bin ich doppelt involviert: „Ich bin ein Mensch. Ich bin aber auch Teil einer Entität, die jetzt eine geophysische Kraft auf planetarischer Ebene ist.“[61] Als Individuum bin ich kaum für den Klimawandel in toto verantwortlich zu machen, kann mich aber nur als solches auch zu ihm verhalten; als Mitglied der Spezies Mensch (oder auch als Mitglied westlicher Industriegesellschaften) bin ich ohne Frage mitverantwortlich für den Klimawandel, kann aber nicht ohne Weiteres als diese Kollektivität handeln, sondern höchstens als ein (sehr kleiner) Teil von ihr.

Man sieht bereits an der paradoxen Umkehrung von Arendts Unterscheidung – im Falle des Klimawandels hat ein Kollektiv Schuld, während das Individuum nur Verantwortung übernehmen kann –, dass die Elemente einer klassischen Individualethik im Anthropozän zu versagen drohen. Das heißt nicht, dass die Kategorie der „Schuld“ nicht weiterhin eine sinnvolle Rolle in der politischen Diskussion spielen sollte. Gerade wenn es darum geht zu bestimmen, welche Nationen verhältnismäßig mehr zur Bekämpfung der Erderwärmung beitragen sollten, kommt man um eine Identifizierung relativer Schuld nicht herum. Aber auch hier liefe man Gefahr, wieder einfach auf das gewöhnliche Modell von Gerechtigkeit zurückzufallen, und nur nach Regelbrüchen zu suchen – etwa, wenn Staaten ihre eingegangenen Verpflichtungen zur Einhaltung bestimmter Emissionsobergrenzen verletzen –, statt offen zu sein für die epistemischen Ressourcen, die uns dabei helfen, Ungerechtigkeit jenseits solcher institutionalisierten Rahmenbedingungen zu erkennen. Mit dem Begriff der „passiven Ungerechtigkeit“ eröffnet Shklar zumindest die Möglichkeit, individuelle und institutionelle Ebenen miteinander zu kreuzen: Bin ich auch als Individuum allein kausal nicht schuldig, stehe ich als Bürger*in doch auch für die Verantwortung des Staates ein, der in meinem Namen handelt – oder eben nicht.

Die Suche nach Schuldigen hat in einer Demokratie ihre Berechtigung und erfüllt eine wichtige Funktion. Sie ergibt als republikanische oder demokratische Reaktion Sinn – nämlich, weil wir aneinander Ansprüche stellen und weil Erwartungen existieren, die enttäuscht werden können. So wie moralische Argumente in einer Welt von Teufeln nicht weiterführen – durchaus aber politische –, so sind politische Forderungen in einer Tyrannis zum Schweigen verdammt. Nur in einer Demokratie ist die Suche nach Schuldigen auch eine Suche nach gesellschaftlicher Verantwortung – jedenfalls zum Teil. Shklar findet diesen Impuls psychologisch zutiefst verständlich, auch wenn er immer mit dem Risiko behaftet ist, in Rache umzuschlagen.[62] Aber die Suche nach (kausaler) Schuld ist eben auch ein Weg, (politische) Verantwortung einzufordern.

Zugleich sieht Shklar aber auch die Gefahr, die bei der Suche nach Schuldigen droht: Dass die Opfer darüber zu kurz kommen. Wenn man sich wirklich um die Opfer kümmern will, wird man ihnen immer eher helfen müssen, als zu bestrafende Schuldige auszumachen. Es ist gut möglich, dass sich mit der neuen Situation, die uns der Klimawandel beschert hat, ganz andere Arten von Verantwortlichkeit auftun, die sich im bloßen Fahnden nach Schuldigen als aktiven, kausalen Verursachenden nicht erschöpfen. Hier legt Shklars Ansatz eine Perspektivverschiebung nahe. Für die Betrachtung passiver anthropozänischer Ungerechtigkeit ist die Herkunft der aktiven Ungerechtigkeit zunächst egal: „Nicht der Ursprung des Schadens, sondern die Möglichkeit, ihn zu ver­hindern oder die Kosten zu verringern, erlaubt uns, darüber zu urteilen, ob eine ungerechtfertigte Passivität angesichts einer Katastrophe vorlag oder nicht.“[63] Die Philosophin Iris Marion Young fordert entsprechend in ihrem Buch Responsibility for Justice, dass das „liability model“ – demzufolge man nach Schuldigen sucht und sie bestraft – durch ein „social connection model“ ersetzt werden sollte – demzufolge alle Bürger für die Resultate der Gesellschaftsstrukturen verantwortlich sind, in denen sie leben.[64]

Ist der Klimawandel erst einmal als unbestreitbare Tatsache anerkannt – auch das ist letztlich eine politische Angelegenheit, um die stets aufs Neue gekämpft werden muss –, stellt sich die Frage, welche Ansprüche man im Namen der Opfer an das Kollektiv stellen kann. Das Verfassungsgericht nannte bereits zwei Aufgaben: Es muss darum gehen, für die Zukunft der möglichen Opfer vorzusorgen und ihnen Nachsorge zu bieten, wenn die Folgen des Klimawandels sie tatsächlich treffen. Dass beides, Vor- und Nachsorge, schwerer ist als gedacht, ist freilich auch offensichtlich. Nimmt man die Perspektive der Opfer in den Blick, lässt sich aber vielleicht eine Urteilskraft entwickeln, die stets auch die Folgen des Klimawandels für die Schwächsten im Sinn behält.

Konzentriert man sich nicht allein darauf, Schuldige auszumachen, sondern – ganz im Sinne des „Liberalismus der Furcht“ –, den Opfern zu helfen, dann wird man die Aufmerksamkeit verschieben und verstärkt passive Ungerechtigkeiten in den Blick nehmen. Sie sind nicht nur komplexer als bloße Regelverstöße, sondern haben auch eine repolitisierende Wirkung. Sie erlauben uns die stete Neuverhandlung dessen, was jeweils gerechtfertigt eingeklagt werden kann, und machen es schwerer, Ungerechtigkeiten zu Unglücken umzudeuten. Shklars Ansatz geht es vor allem um die Sichtbarmachung von Problemen, nicht um Patentrezepte für deren Lösung. Eben deshalb scheint er gut geeignet, Debatten um Zurechenbarkeit, Verantwortung und Schuld zu bereichern, statt sie dem politischen Diskurs zu entziehen.

  1. Ich danke Rieke Trimçev und Valentin Jeutner für wertvolle und weitgehende Verbesserungshinweise.
  2. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021 - 1 BvR 2656/18 -, Rn. 1–270.
  3. Quirin Schiermeier, Climate Science is Supporting Lawsuits that Could Help Save the World, in: Nature 597, Nr. 7875 (2021), S. 169–171, hier S. 170.
  4. Judith N. Shklar, Der Liberalismus der Furcht, in: dies., Der Liberalismus der Furcht, hrsg., aus dem Amerikanischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Hannes Bajohr, Berlin 2013, S. 26–66. Siehe dazu Andreas Hess, The Political Theory of Judith N. Shklar. Exile from Exile, New York 2014 sowie Giunia Gatta, Rethinking Liberalism for the 21st Century. The Skeptical Radicalism of Judith Shklar, New York 2018.
  5. Judith N. Shklar, Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl, übersetzt von Christiane Goldmann, herausgegeben und neu durchgesehen von Hannes Bajohr, Berlin 2021, S. 68
  6. Ebd.
  7. Ebd., S. 135–202.
  8. Vgl. Jan-Werner Müller, Furcht und Freiheit. Für einen anderen Liberalismus, Berlin 2019, S. 87.
  9. Imeh Ituen / Lisa Tatu Hey, The Elephant in the Room. Environmental Racism in Germany. Studies, Knowledge Gaps, and Their Relevance to Environmental and Climate Justice, 2021.
  10. Kyle Powys Whyte, The Dakota Access Pipeline, Environmental Injustice, and U.S. Colonialism, in: Red Ink 19 (2017), 1, S. 154–169.
  11. Tuvalu Minister to Address Cop26 Knee Deep in Water to Highlight Climate Crisis and Sea Level Rise, in: The Guardian, 8. November 2021.
  12. Vgl. Christine Unrau, Judith Shklars Sinn für Veränderung, in: Zeitschrift für Politische Theorie 9 (2018) [2020], 2, S. 239–251 und Javier Burdman, „Sinn für Ungerechtigkeit“. Über die Rolle von Gefühlen bei dem Widerstand gegen epistemische Ungerechtigkeit, in: Diskurs 6 (2021), S. 43–62.
  13. Shklar, Über Ungerechtigkeit, S. 31. Vgl. Heidi Salaverría, Ungeregelte Zweifel und politische Urteilsbildung bei Judith Shklar und Jacques Rancière, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 62 (2014), 4, S. 708–726.
  14. Ebd., S. 33.
  15. An dieser Stelle findet sich in Shklars Ungerechtigkeitstheorie eine Besonderheit des angloanerikanischen common law wieder, in dem Unterlassungsdelikte weitgehend unbekannt sind. So gibt es im Gegensatz zur „unterlassenen Hilfeleistung“ des europäischen civil law keine allgemeine „duty to rescue“ im common law. Stattdessen begründen sich Rettungspflichten auf bestimmte zwischenmenschliche Verhältnisse. Während ein Vater etwa sein ertrinkendes Kind retten muss, kann ein unbeteiligter Dritter das Kind ungestraft ertrinken lassen. (Ich danke Valentin Jeutner für diesen Hinweis) Shklar moniert dies implizit, doch zugleich ist ihr Konzept passiver Ungerechtigkeit deutlich weiter gefasst. Es zielt nicht nur auf bloßes Unterlassen, da es sich vor allem auf die Rolle von Dritten bezieht, die einen möglichen Akt von Ungerechtigkeit sehen, aber nichts unternehmen.
  16. Vgl. Blake Francis, Climate Change Injustice, in: Environmental Ethics 44 (2022), S. 5–24.
  17. Katrina Forrester, In the Shadow of Justice. Postwar Liberalism and the Remaking of Political Philosophy, Princeton, NJ 2019, S. 246.
  18. Shklar, Über Ungerechtigkeit, S. 69.
  19. Ebd., S. 68. Siehe Marcus Tullius Cicero, Vom pflichtgemäßen Handeln / De officiis, herausgegeben und übersetzt von Rainer Nickel, Berlin 2011, S. 27.
  20. Michael J. Sandel, Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst, in: Axel Honneth (Hg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt am Main / New York 1993), S. 18–36.
  21. Diese Kritik formuliert Shklar etwa in Bezug auf die Kommunitarismusdiskussion der Achtzigerjahre in einem Brief an Quentin Skinner, einen der wichtigsten Vertreter des sogenannten Neorepublikanismus. Shklar schreibt, dass es ihr um die Frage geht, „ob man eine Theorie und Praxis von Staatsbürgerschaft entwickeln kann, die liberale Ideen von persönlicher Freiheit, Fairness und Gerechtigkeit nicht herabsetzen, aber dennoch die Notwendigkeit eines allgemeinen, vom Volk ausgehenden öffentlichen Handelns sowohl eindeutig machen als auch in irgendeiner Weise attraktiv erscheinen lassen. Solange dies nicht die schreckliche Irrationalität und schiere Gewalt verdeckt, die die charakteristischen Merkmale gegenwärtiger Politik sind, und besonders nicht die Funktion bemäntelt, die Xenophobie als normaler Sozialzement innehat, sehe ich nicht, warum man gegen dieses Projekt Einwände erheben könnte“. Zit. nach Quentin Skinner, The Last Academic Project, in: Samantha Ashenden / Andreas Hess (Hg.), Between Utopia and Realism: The Political Thought of Judith N. Shklar, Philadelphia, PA 2019, S. 253–266, hier S. 261.
  22. Judith N. Shklar, American Citizenship: The Quest for Inclusion, Cambridge, MA 1991, S. 34 f.; dies., Der Liberalismus der Furcht, in: dies., Der Liberalismus der Furcht, S. 26–66, hier S. 33
  23. Shklar, Über Ungerechtigkeit, S. 72. Seyla Benhabib nannte Shklars Ideal einmal eine „Staatsbürgerschaft der Wachsamkeit“. Siehe Seyla Benhabib, Judith Shklars dystopischer Liberalismus, in: Shklar, Der Liberalismus der Furcht, S. 67–86, hier 77.
  24. Die Wendung von der „Erwartungserwartung“ stammt von Rieke Trimçev.
  25. Judith N. Shklar, Rechte in der liberalen Tradition, in: dies., Der Liberalismus der Rechte, herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Hannes Bajohr, aus dem Amerikanischen und Französischen übersetzt von Hannes Bajohr und Dirk Höfer, Berlin 2017, S. 20–64, hier S. 34 f.
  26. Shklar, American Citizenship, S. 99. Der Band erscheint demnächst in deutscher Übersetzung als Judith N. Shklar, Wählen und Verdienen, Berlin i. E.
  27. Shklar, Ganz normale Laster, S. 249.
  28. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021 - 1 BvR 2656/18 -, Rn. 1-270, hier Rn. 192.
  29. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021 - 1 BvR 2656/18 -, Rn. 1-270, hier Rn. 45.
  30. Siehe für das Argument, dass sich Recht und Politik (und Moral) gar nicht voneinander trennen lassen, es sei denn in der Ideologie des „Legalismus“, Judith N. Shklar, Legalism. Law, Morals, and Political Trials, Cambridge, MA 1986.
  31. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main 1979, S. 26.
  32. Ebd., S. 63.
  33. Shklar hat sich nicht explizit zu umwelt- oder klimapolitischen Fragestellungen geäußert. Dennoch sind im Zusammenhang mit Jonas, dessen Prinzip Verantwortung unter anderem auch die Gefahren der Atomkraft behandelt, Passagen aus ihren Vorlesungen zum Begriff der „Verpflichtung“ aufschlussreich. Sie diskutiert etwa, welche Gefahren und Befürchtungen zivilen Ungehorsam rechtfertigten würden: „Ich war immer der Meinung, dass nur Ungerechtigkeitbehauptungen [zur Begründung von zivilem Ungehorsam, H.B.] triftig sein können, aber angesichts des Aufkommens von Technologien, die das Potential haben, universell lebensbedrohlich zu sein, könnte menschliche Sicherheit durchaus einen Grund für solchen Ungehorsam abgeben. Ich persönlich halte Atomenergie tatsächlich für relativ sicher, aber Tschernobyl ist kein Märchen und unaufhörliche Wachsamkeit vermutlich stets erforderlich.“ Judith N. Shklar, On Political Obligation, herausgegeben von Samantha Ashenden und Andreas Hess, New Haven, CT 2019, S. 177 f. (Ich danke Rieke Trimçev für diesen Hinweis) Es wäre interessant, Shklars Überlegungen zu „menschlicher Sicherheit“ und zivilem Ungehorsam als liberale Alternative zu den radikaleren Forderungen des militanten Klimaaktivismus zu lesen. Siehe Andreas Malm, Wie man eine Pipeline in die Luft jagt. Kämpfen lernen in einer Welt in Flammen, übersetzt von David Frühauf, Berlin, 2020.
  34. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 65.
  35. Caroline Hickman et al., Climate Anxiety in Children and Young People and Their Beliefs about Government Responses to Climate Change: A Global Survey, in: The Lancet Planetary Health, Dezember 2021.
  36. Thomas Slater et al., Review Article: Earth’s Ice Imbalance, in: The Cryosphere 15 (2021), S. 233–246.
  37. UNRIC, Klimawandel: Vergangene sieben Jahre wärmste seit Wetteraufzeichnung, 2022.
  38. Nick Watts et al., The 2019 Report of The Lancet Countdown on Health and Climate Change: Ensuring That the Health of a Child Born Today Is Not Defined by a Changing Climate, in: The Lancet 394, Nr. 10211 (2019), S. 1836–1878.
  39. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 86.
  40. Hans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Staatstheorie, in: Schweizer Monatshefte 48 (1968), 2, S. 121–146, hier S. 128.
  41. Vgl. hierzu Hannes Bajohr, Harmonie und Widerspruch: Mit Judith N. Shklar gegen die ‚Ideologie der Einigkeit‘, in: Distanzierung und Engagement. Wie politisch sind die Geisteswissenschaften?, hrsg. v. Hendrikje Schauer und Marcel Lepper, Stuttgart 2018), S. 75–85.
  42. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 266 f., S. 262.
  43. Judith N. Shklar, Ganz normale Laster, Berlin 2014, S. 40.
  44. Shklar, After Utopia. The Decline of Political Faith, Princeton, NJ 1957, S. 236 ff.; Friedrich A. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, München 1994.
  45. Shklar, Über Ungerechtigkeit, S. 196.
  46. Ebd., S. 7.
  47. Die Katastrophe, die nicht endet, in: Der Spiegel, 2.7.2022, S. 46–51, hier S. 48.
  48. Ebd., S. 49.
  49. Ebd., S. 48.
  50. Shklar, Über Ungerechtigkeit, S. 93.
  51. Ebd., S. 7.
  52. Ebd., S. 8.
  53. Dipesh Chakrabarty, Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter, aus dem Englischen von Christine Pries, Berlin 2022, S. 12. Siehe dazu auch Eva Horn / Hannes Bergthaller, Anthropozän zur Einführung, Hamburg 2020.
  54. Smriti Mallapaty, Why Are Pakistan’s Floods So Extreme This Year?, 2. September 2022.
  55. Frank Kreienkamp et al., Rapid Attribution of Heavy Rainfall Events Leading to the Severe Flooding in Western Europe during July 2021, 23. August 2021.
  56. Shklar, Über Ungerechtigkeit, S. 102 f.
  57. Jason W. Moore (Hg.), Anthropocene or Capitalocene? Nature, History, and the Crisis of Capitalism, Oakland, CA 2016. Vgl. auch die Beiträge in Hannes Bajohr (Hg.), Der Anthropos im Anthropozän. Die Wiederkehr des Menschen im Moment seiner vermeintlich endgültigen Verabschiedung, Berlin 2020.
  58. Clive Hamilton, Defiant Earth: The Fate of Humans in the Anthropocene, Cambridge 2017, S. 28.
  59. Hannah Arendt, Personal Responsibility under Dictatorship, in: dies., Responsibility and Judgment, herausgegeben von Jerome Kohn, New York 2003), S. 17-48.
  60. Vgl. Hannes Bajohr, Keine Quallen: Anthropozän und Negative Anthropologie, in: Merkur 73 (2019), Nr. 840, S. 63–74.
  61. Timothy Morton, Dark Ecology. For a Logic of Future Coexistence, New York 2016, S. 8 f.
  62. Shklar, Über Ungerechtigkeit, S. 138–148.
  63. Ebd., S. 132.
  64. Iris Marion Young, Responsibility for Justice, Cambridge 2011. Shklar sucht dieses Problem in ihrem Begriff einer „verstrickten“ Freiheit zu fassen. Vgl. Judith N. Shklar Gewissen und Freiheit, in: Zeitschrift für Politische Theorie 9 2018 [2020], 2, S. 167–177, hier S. 172. Vgl. dazu Hannes Bajohr, Verstrickte Freiheit. Judith Shklar über die Stimmen der Opfer, in: Die politische Meinung 66 (2021), Nr. 566, S. 43–47.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

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Porträt Hannes Bajohr - © Yvonne Tenschert

Hannes Bajohr

Hannes Bajohr ist Philosoph und Literaturwissenschaftler und derzeit Fellow am Collegium Helveticum in Zürich. Er arbeitet über die Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts, Liberalismustheorie sowie Theorien des Digitalen und ist Herausgeber der Werke Judith N. Shklars in Deutschland. Demnächst erscheint sein zusammen mit Rieke Trimçev verfasstes Buch „ad Judith Shklar. Leben – Werk – Gegenwart“ bei der Europäischen Verlagsanstalt. Foto: © Yvonne Tenschert

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