Oliver Römer | Rezension |

Politische Philosophie des Weltbürgerkrieges

Rezension zu „Lenin der Machiaviell des Ostens“ von Hugo Fischer

Hugo Fischer, Steffen Dietzsch (Hg.), Manfred Lauermann (Hg.):
Lenin der Machiavell des Ostens
Deutschland
Berlin 2017: Matthes & Seitz
328 S., EUR 30,00
ISBN 978-3-95757-469-5

Unter den zahlreichen Beiträgen, die zum 100-jährigen Jubiläum der Russischen Revolution 2017 erschienen sind, ragt das beim Verlag Matthes und Seitz mit 86-jähriger Verspätung erschienene Buch Lenin der Machiavell des Ostens des Leipziger Philosophen Hugo Fischer heraus. Bereits die unwahrscheinliche Geschichte dieses Buches lässt aufmerken: Verfasst von einem kaum bekannten Leipziger Privatdozenten für Philosophie liegt es unmittelbar vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten als Buchblock bei der für rechtsintellektuelle Beiträge bekannten Hanseatischen Verlagsanstalt vor. Ohne der Zäsur zum Opfer gefallen zu sein, wird es jedoch vom Verlag schon wegen seines heiklen Titels zurückgezogen und vernichtet. Die wenigen erhaltenen Exemplare gibt der Autor an enge Bekannte und Weggefährten weiter – unter anderem an den Staatsrechtler Carl Schmitt, aus dessen Bibliothek es über Umwege an die beiden Herausgeber der verspäteten Erstedition Steffen Dietzsch und Manfred Lauermann gelangt. Spuren des Originals sollten sich schließlich auch in Fischers Anfang der 1960er-Jahre erschienenem Buch Wer soll Herr der Erde sein? beim gleichfalls rechtsintellektuell orientierten Stuttgarter Seewald-Verlag niederschlagen[1] – ein bis heute nahezu ungelesenes Buch, das vor dem Hintergrund der Erfahrung des Nationalsozialismus und des Stalinismus eine Totalitarismuskonzeption entfaltet, aus der freilich „alle nationalbolschewistischen Elemente von 1932/33 getilgt“[2] sind.

Die Tatsache, dass die 1933 fertig abgefasste Version weder den Nationalsozialismus noch den Stalinismus aus dem historischen Rückblick würdigen konnte, macht das lange Zeit verschollene Original zu einem ungemein wichtigen Zeitdokument, in dem sich intellektuelle Signaturen und Widersprüche der späten Weimarer Zeit verdichten.[3] Als Zeitdiagnostiker und soziologischer Denker bewegt sich Fischer einerseits in der Spengler‘schen Begriffswelt der Zwischenkriegsphase und bedient sich völlig selbstverständlich der zeittypischen Antagonismen von Kultur und Zivilisation, Gemeinschaft und Gesellschaft. Dieser antiliberale Duktus kumuliert allerdings in einer bemerkenswert kenntnisreichen Aneignung gewisser theoretischer Facetten und Argumente linker Diskurse dieser Zeit, die die unterschiedlichen rechten Varianten des 'Anti-Bolschewismus' und 'deutschen Sozialismus' intellektuell weit übertrifft. Es verwundert vor diesem Hintergrund kaum, dass genau diese nach heutigen Maßstäben nur schwer zu fassende Ambivalenz Fischers Denken auch für bestimmte Rezeptionslinien innerhalb einer nach intellektuellen Orientierungen und Traditionen suchenden Neuen Rechten interessant macht.[4] Andererseits stellt Fischers politische Philosophie aber auch eine unbewältigte Herausforderung für intellektuelle Auseinandersetzungen auf Seiten einer Linken dar, für die speziell die Geschichte des Nationalbolschewismus in Deutschland ein bis heute weitestgehend verdrängtes Kapitel ist.

Welchen zentralen Stellenwert Fischer seinem Lenin auch noch rund drei Jahrzehnte nach der fehlgeschlagenen Erstpublikation einräumt, wird aus einer retrospektiven Selbstverortung ersichtlich. In einem Brief bezeichnet Fischer die erneuerte und erweiterte Version des Buches als sein „eigentliches Hauptwerk“, an dem er „seit 1924 gearbeitet“ habe.[5] Mit der Jahreszahl 1924 markiert er den Beginn der Ausarbeitung seiner politischen Philosophie, die sich in einer rasch hintereinander verfassten Serie von Monografien über Hegel, Nietzsche, Marx[6] und schließlich Lenin bis Mitte des Jahres 1933 entfalten sollte. Die intellektuellen und biografischen Wurzeln dieser Philosophie finden sich allerdings schon deutlich früher: Bereits 1918 hatte Fischer ein Philosophiestudium in Leipzig aufgenommen, das er 1921 mit einer Dissertation über „Das Prinzip der Gegensätzlichkeit bei Jakob Böhme“ abschließt. In dieser bis heute unveröffentlichten Dissertationsschrift die eigentliche Quelle der „besonderen methodischen Eigenart“ (S. 299) Fischers auszumachen, ist keineswegs unplausibel. Kein Geringerer als Ernst Bloch hat in seinen Leipziger Vorlesungen bemerkt, bei dem philosophischen Dilettanten Böhme lasse sich eine „erzdialektische Philosophie“ ausmachen, die „trotz Nikolaus von Cusa die erste objektive Dialektik seit Heraklit“ darstelle.[7] Fischers unzeitgemäße Orientierung am Denken Böhmes, der „ein Mensch aus dem vierten oder fünften Jahrhundert sein [könnte], obwohl er andererseits ganz besonders deutlich aus den faustischen Strömungen der Renaissance aufsteigt,“[8] ist auch seinem Umfeld nicht entgangen. So schreibt etwa der befreundete 'nationalrevolutionäre' Politiker und Publizist Ernst Niekisch über Fischer, dass in dessen Auftreten und Philosophieren stets eine „wunderliche Mischung aus Mystizismus und Rationalität [zutage] trat“, die selbst für seine Zeitgenossen nicht selten ein Rätsel bleiben sollte.[9] Obwohl diese schillernde Figur dem Kreis um Hans Freyer nahestand, blieb sein Werk ohne jede nennenswerte akademische Wirkung. Anerkennung findet Fischer in seiner Zeit jedoch bei den Jünger-Brüdern, die die Schriften des Philosophen, der mit „dem Auge des Mystikers auf die moderne technische Welt“ (S. 299) blickt, außerordentlich schätzen, so dass durchaus von einer Rezeption die Rede sein kann, die sich freilich „verborgen im Kosmos von Literatur, Dichtung und Essayistik Friedrich Georg und Ernst Jüngers“[10] vollzieht. Insbesondere Ernst Jüngers 1932 erschienener Arbeiter, der nicht selten als Versuch einer nationalbolschewistischen Aneignung und Vergegenwärtigung der Marx‘schen Thesen gelesen worden ist,[11] scheint ohne eine Auseinandersetzung mit Fischers gleichzeitig publiziertem Marx-Buch kaum denkbar.

Man kann die Entwicklung, die Fischer in der Spätphase der Weimarer Republik durchläuft, als die Wendung eines „Metaphysikers ins Politische“[12] charakterisieren – eine Wendung, die bei Fischer selbst allerdings stets unter dem Vorbehalt stand, dass Metaphysik und Politik nicht ohne einander zu denken seien.[13] Und in ebendieser Überzeugung liegt auch der argumentative Kern des Lenin-Buches. Vorbereitet wird es, wie bereits angedeutet, durch eine Reihe politisch-philosophischer Annäherungen: Im Medium dreier Monografien über Hegel, Nietzsche und Marx vermisst der vom spätmittelalterlichen Denken ausgehende Fischer die gedankliche Topografie des 19. Jahrhunderts, bevor er mit seiner Studie zu Lenin endgültig in die Gegenwart des 20. Jahrhunderts vorstößt. Hegel, Nietzsche und Marx werden zu philosophischen Zeugen einer „Verfallszeit“, die Fischer zufolge im 18. Jahrhundert einsetzt. Sie reflektieren auf je unterschiedliche Weise eine Zersetzung der „einstmals gegenwärtigen mittelalterlichen Verfassung“[14] Europas durch den Ökonomismus und Liberalismus der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Damit bewahren sie sich nach Fischers Urteil einen unzeitgemäßen philosophischen Sinn für die „Vordergrundwirklichkeit“[15] des 19. Jahrhunderts.

In letzter Instanz bleibt die so rekonstruierte Linie philosophischer Kritik für Fischer jedoch bloß theoretischer Natur. Sie findet in ihrer Zeit kein praktisches Entgegenkommen in einer adäquaten, auf politische Veränderung zielenden Bewegung, womit sie sich als eine „Leidenschaft des Kopfs“ erweist, ohne ein „Kopf der Leidenschaft“[16] werden zu können. Endgültig überholt wird diese Linie der Kritik von den Ereignissen des beginnenden 20. Jahrhunderts, in denen die von Marx eindringlich beschriebenen Potenziale von Technisierung und Industrialisierung auf die Ordnung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zurückschlagen und diese – in einem von Marx allerdings keineswegs antizipierten Sinne – transformieren. Für Fischer rückt in diesem Zusammenhang der Erste Weltkrieg in den Mittelpunkt, an dem er selbst teilnimmt und aus dem er schwer verwundet zurückkehrt. Wie Ernst Jünger in einer Zuspitzung von Fischers Thesen schreibt, wird der Krieg zur Signatur des Übergangs von einer liberalen Sozialordnung des Gesellschaftsvertrages in eine vom Stand der modernen Technik diktierte, militärische „Heeresgliederung“ mit „totalem Arbeitscharakter“.[17] In der Industrieförmigkeit des Krieges werden die Umrisse eines neuen Zeitalters sichtbar, das sich anschickt, die Koordinaten der modernen politischen und ökonomischen Welt – das heißt den Nationalismus und Imperialismus – hinter sich zu lassen.

Ist man mit dieser Diagnose vertraut, so steht einem die Ausgangssituation von Hugo Fischers Auseinandersetzung mit Lenin vor Augen: Die Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg besiegelt das endgültige Ende des von Bismarck geschaffenen Deutschlands und befördert es in die weltpolitische Peripherie. Was den Deutschen angesichts dieser auf Dauer gestellten Unfähigkeit zur Politik bleibt, ist ihr tiefer philosophischer Sinn für das Zeitgeschehen – getreu des Hegel‘schen Diktums, Philosophie sei „ihre Zeit in Gedanken gefaßt.[18] Während die deutsche Philosophie seit Hegel durch die Ambition beschrieben wird, gedanklich „hinter den Staat zu kommen“ (S. 21), manifestiert sich in der Russischen Revolution, die gewissermaßen im Fahrwasser von Imperialismus und Weltkrieg segelt, Fischer zufolge ein „neuer Typus Staat“, der allerdings theoretisch noch unbegriffen sei. Kennzeichen dieser neuen Staatlichkeit ist die Suspendierung der urliberalen Trennung zwischen Staat und Gesellschaft beziehungsweise Ökonomie. Kündigt sich diese Aufhebung bereits in einer mit planwirtschaftlichen Elementen durchzogenen imperialen Kriegspolitik westlicher Nationalstaaten an, wird sie erst durch die Verwirklichung des Kommunismus russischen Typs konsequent vollzogen: Der Arbeiter kommt zu sich, indem er „die Hand an den Staatsapparat legt“ (S. 31). Das Resultat dieser Besitzergreifung ist allerdings keine bloße Machtübernahme, die sich in einem Austausch politischer Eliten vollzöge. Vielmehr geht sie einher mit einem „Absterben“ des Staates als „Apparatur“, dessen historische Voraussetzung eben die Existenz „eines einzigen Arbeitervolkes“ respektive „einer einzigen Betriebsbelegschaft“ (ebd.) sei. Ganz im Sinne einer dialektischen Negation der Negation ist dieses „Absterben“ Fischer zufolge zugleich eine „Aufhebung“ und „Potenzierung“ staatlich-politischer Macht in Gestalt des „Reiches“.

Trotz solcher Behauptungen wäre es irreführend, aus Fischers Überlegungen bereits die Vorwegnahme eines Dritten Reiches nationalsozialistischer Bauart herauszulesen.[19] Kann der Nationalsozialismus zumindest in seinen historischen Anfängen noch als eine proto-wohlfahrtsstaatliche Kompromissbildung gefasst werden, der in seinem imperialen Expansionsdrang das deutsche Kleinbürgertum mit den Kräften der großen Industrie versöhnt,[20] so begreift Fischer Anfang der 1930er-Jahre ausgerechnet die Russische Revolution als jenes weltgeschichtlich bedeutsame Ereignis, das kleinbürgerliche, liberale und sozialdemokratische Strömungen innerhalb der Arbeiterbewegung gleichermaßen zerstört. Im Gegensatz zum Bürger, der auf den Markt- und Meinungsplätzen des liberalen Zeitalters anzutreffen ist, verschmelzen im Typus des industriellen Arbeiters „Leben“ und technische „Rüstung“ zu einer fortan prinzipiell untrennbaren „Einheit“ (S. 142). Für diese Deutung liefert wiederum die Erfahrung des Weltkriegs die entscheidende Inspiration: Anders als im 'zivilen', marktförmig geregelten Produktionsprozess, den Marx vor Augen hat, lassen sich Produktivkräfte und Produktionsmittel unter Bedingungen der Kriegswirtschaft nicht qua rechtlich-politischer Verfügung voneinander trennen.

Diese Aufkündigung der Marx‘schen Analyse des Kapitalismus ist nicht von ungefähr als eine zutiefst problematische, lebensphilosophische Interpretation des „Gegensatz[es] von Proletariat und Bourgeoisie“ verstanden worden.[21] In der von Fischer antizipierten Überbietung der expansiven Logik des modernen Imperialismus durch die Russische Revolution sollen sich die Konturen eines Weltbürgerkrieges abzeichnen, der zu einer ebenso faszinierenden wie primitiven Freisetzung einer neuen „Elementargewalt“ – des Proletariats – stilisiert wird. Historisch scheint das hier gezeichnete Bild des Proletariats allerdings weniger von der Russischen Revolution als von der für Fischer selbst sehr viel wichtigeren Beobachtung der Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten nach dem Ende des Ersten Weltkrieges geprägt, die in Deutschland bekanntlich zu einer Eskalation staatlicher Gewalt geführt hat.[22] Zur Gretchenfrage der Revolution wird mithin die angemessene Beherrschung und Befriedung, wenn man so will, die Domestikation solcher Elementargewalten. Das orientierende Muster hierfür liefert die Russische Revolution: Fischer identifiziert Lenin als einen „Politiker neuen Typs“, der sich dadurch beweist, „daß er mit dem Elementaren, Lebensunmittelbaren […] umzugehen versteht“ (S. 251). In der historischen Figur Lenins verkörpert sich demnach ein neuer machtpolitischer Realismus. Er repräsentiert eine Politik jenseits der rechtsstaatlich fundierten Aussteuerung von Interessenskonflikten: Statt im sicheren Hafen des Parlamentarismus über politische Kompromisse zu debattieren, bewährt sich dieser neue Politikertypus machtpolitisch auf dem „Meer der Ereignisse“ (S. 102). Lenin ist folglich der Machiavell des Ostens, weil er es nach Einschätzung Fischers wie kein anderer Politiker seiner Zeit vermocht hat, aus einer richtigen Analyse der weltpolitischen Situation intuitiv die richtigen Schlüsse zu ziehen. Der Erfolg der Revolution wird zum Zeugnis für den Erfolg eines Handelns, das sich im Verlaufe der den Umsturz bewirkenden Ereignisse von jeder revolutionären Dogmatik befreit: Zwar sei Lenin als Theoretiker durchaus ein „Materialist“ gewesen, „der abstrakt-fachphilosophisch über die Kategorien reflektiert, die die Welt der Dinge aufbauen“ (S. 97). Doch spreche aus dem Praktiker der Revolution der „Glaube an den Geist“ (S. 98), mithin eine Einstellung, die den „Stubengelehrten“ (S. 107) Marx hinter sich lässt und Ausdruck eines neuen „schöpferischen Marxismus“ (S. 259) sei.

Diese Argumentation spitzt der letzte Abschnitt des Buches in eine Theorie der Partei zu, in der sich die Quintessenz der politisch-philosophischen Überlegungen Fischers ausspricht. Bestimmt wird in diesen Passagen das Verhältnis zwischen politischer Avantgarde und revolutionärer Bewegung. Fischer schlägt auf den Schultern von Max Webers trinitärer Definition des Verhältnisses von Klasse, Stand und Partei vor, die kommunistische Partei als einen „Stand (ordo) innerhalb der Klasse“ zu fassen: Aufgrund ihres objektiven ökonomischen Klasseninteresses ist sie als ein Teil des Proletariats anzusehen, in ihrer „politischen Verantwortung für die Zukunft der klassenbewußten Arbeiter [...] ist sie zugleich mehr als 'Klasse'; [...] sie ist bereits auf den neuen Typus Staat hin aufgebaut“ (S. 253).

Der dialektische Denker Fischer sieht offenbar eine doppelte Bewegung am Werk: Einerseits greift die Partei durch den Staat hindurch, indem sie ihn destruiert und sich an seine Stelle setzt. Genau das kann als Diktatur des Proletariats bezeichnet werden. Andererseits hört die Partei damit aber auf, als eine besondere Partei unter anderen Parteien zu existieren. Analog zum Prozess einer Aufhebung der Grenze zwischen Staat und Gesellschaft verschmilzt sie mit der ihr zugrundeliegenden sozialen Bewegung, also mit der nicht mehr an nationale oder ständische Grenzen gebundenen Klasse der Proletarier, der ja bereits Marx „einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden“[23] zuschreibt. Die Partei wird auf diesem Wege zur „Organisation der Reichspolitik“: „Das Reich ist vorläufig die äußere Umgrenzung einer Gesamtheit von Aktionsbögen, die nur dann notwendig zusammenhängen, wenn sie auf eine kontinuierlich fortlaufende Linie politischer Planungen und Handlungen der Partei zurückzuführen sind“ (S. 275).

Spätestens mit dieser Behauptung zeigt sich, wie weit sich Fischers Betrachtungen von den tatsächlichen historischen Ereignissen der Russischen Revolution entfernen. Als eine zeitgenössische Beschreibung der Wirklichkeit der Sowjetunion war das Buch bereits in der Endphase der Weimarer Republik „empirisch obsolet“.[24] Denn obwohl Fischer mit seinem Lenin historisch im 20. Jahrhundert angekommen sein mag, entspringt die ausschlaggebende politische Ordnungsvorstellung des Reiches, die er derart stark macht, dem antiquierten Bild einer spätmittelalterlichen Ordnung, die in eine historische Kontinuität mit dem – allerdings bereits christianisierten – Römischen Reich gestellt wird. Statt eines liberalen Gesellschaftsvertrages dominiert Fischers Vorstellungswelt ein prinzipiell ungleicher Bund zwischen Herrschenden (Patriziern) und Beherrschten (Plebejern), der angeblich durch die marktförmige Sozialordnung des Liberalismus unterbrochen wurde, nun aber kraft der Russischen Revolution wieder erneuert worden sein soll. Der Politiker Lenin gerät bei Fischer letztlich zur Projektionsfläche einer politischen Ordnungsidee, die gleichsam zur Vorlage einer „erträumten Erneuerung eines aggressiven, preußisch-deutschen Imperialismus“ dient.[25] Die als politisches und soziales Modernisierungsprojekt angelegte Russische Revolution, die sich an den Widersprüchen eines auf feudalen Herrschaftsverhältnissen gründenden Zarenreiches abarbeitet, legt Fischer geschichtsteleologisch auf die Wiedererrichtung einer ständisch strukturierten, vormodernen Gemeinschaftsordnung fest. In ihr werde der durch die Reformation wie durch den Kapitalismus destruierte „Mythos“ des christlichen Abendlandes in einen „Revolutionsmythos“ aufgehoben, der in der Praxis Lenin’scher Politik vorgezeichnet sei. Doch verrät gerade die Konzentration seiner Auseinandersetzung mit Lenin auf eine Analyse der Dialektik von Partei und Bewegung den heutigen Leserinnen und Lesern, wie stark Hugo Fischer mit all seinen Überzeugungen dem politischen Drama der Spätphase der Weimarer Republik verhaftet war und blieb. Ganz so wie die mit ihm eng verbundenen Jünger-Brüder, aber auch der 'nationalrevolutionäre' Politiker Ernst Niekisch war er längst zu einem reinen Statisten auf dem Schauplatz der zeitgenössischen Kontroversen geworden. Die Tatsache, dass sich die Nationalbolschewisten bereits relativ früh in der Weimarer Republik aus den bürgerlichen Parlamenten verbannt fanden, beleuchtet ihre Rolle als bloße Literaten ohne die geringste tagespolitische Wirkung.[26] Insofern lässt sich Fischers Sorge um das historische Schicksal der Deutschen nicht zuletzt als Chiffre für die verzweifelte Situation einer weitgehend isolierten Gruppe politischer Intellektueller deuten, die sich – wie Fischers gesamte politische Philosophie dokumentiert – allerdings anmaßt, stellvertretend für ein ganzes Volk zu sprechen. Sieht Fischer die historische Mission des deutschen Volkes als „Träger einer ehemaligen Hochkultur“ (S. 287) überdies darin, der Russischen Revolution ihre abschließende und vollständige politische Gestalt zu verschaffen, dann liegt es in der Tat nahe, ihm eine hochgradig problematische, „kulturrassistische Vergleichsperspektive“[27] zu attestieren. Der vermeintliche geschichtliche Auftrag des deutschen Volkes erweist sich bei Fischer als ein paneuropäisches Gegenmodell zu Stalinismus und Nationalsozialismus, das seinerseits „Preußentum und Sozialismus“[28] versöhnen soll und dabei überdeutlich totalitäre Züge entwickelt. Dass sich Fischer bereits 1933 vom stalinistischen „Parteimythos“ abgrenzt, ist durchaus bemerkenswert. Allerdings vermag seine finale Zuspitzung der Lenin‘schen Politik auf das Projekt einer Überwindung der „extremen Heimatlosigkeit des modernen Menschen“ (S. 285) nicht darüber hinwegtäuschen, dass die auf den letzten Seiten des Lenin-Buches skizzierte Aufhebung der Entfremdung des Menschen in einer rückwärts gewandten, faktisch reaktionären Friedensordnung weder mit einer Hegel‘schen noch einer Marx‘schen Geschichtskonzeption als „Fortschreiten im Bewusstsein der Freiheit“ begriffen werden kann.[29] Stattdessen geht es Fischer einzig um die Herstellung des „Status der politischen Geborgenheit des Menschen“ (S. 288), der nach seiner Überzeugung dazu beitragen soll, den Arbeiter „mit seiner Arbeiterexistenz zu versöhnen“ (S. 285). Demgemäß wären die sich in Weltkrieg und Revolution materialisierenden Realitäten des technischen Fortschritts, die aus dem Arbeiter ein Anhängsel der Maschinerie gemacht hatten, gewissermaßen als von jeder historischen Entwicklung unabhängige Naturtatsachen zu akzeptieren. Und die intendierte 'Versöhnung' zwischen Mensch und Technik korrespondiert mit einer zutiefst antipolitischen Vorstellung von einem Gemeinwesen, das auf einer natürlichen Arbeitsteilung beruht, und in der „das Volk sich selbst vergessen [kann], weil es aus den Quellen seiner Existenz heraus lebt“ (S. 289) – eine Vorstellung, die schon Marx als „rohen Kommunismus“ verworfen hatte.[30]

Auffällig bleibt überdies Fischers Überhöhung des Politikers und Berufsrevolutionärs Lenin, die den Theoretiker Lenin nicht von ungefähr auf einen ebenso vulgären wie unbedeutenden Materialisten reduziert. Für Fischer scheint völlig klar, dass Lenin bestenfalls ein mit einem „Schuss Amerikanismus“ (S. 197) gesegneter Praktiker der Revolution gewesen sein kann.[31] An diesem Punkt trifft sich Fischer sogar mit der im Jahre 1968 unternommenen Relektüre Louis Althussers, die im Denken Lenins gerade „keine (neue) Philosophie der Praxis“, sondern eine neue „Praxis der Philosophie[32] lokalisiert. Allerdings zieht Althusser hieraus vor allem den Schluss, dass sich gerade bei Lenin eine theoretisch reflektierte Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und revolutionärer Bewegung abzeichne, welche Philosophie in ihrer Parteilichkeit erfasse und als Gegenstand sozialer und politischer Auseinandersetzungen einer Epoche begreife. So betrachtet könnten sich bereits bei dem Theoretiker Lenin Elemente einer dringend notwendigen Aufklärung des von Fischer errichteten Mythos der Russischen Revolution finden, der vor allem eines ist: der Mythos einer bestimmten politischen Philosophie.

  1. Hugo Fischer, Wer soll Herr der Erde sein? Eine politische Philosophie, Stuttgart 1962.
  2. Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, Darmstadt 1972, S. 458.
  3. Vgl. hierzu Manfred Gangl / Gérard Raulet (Hg.), Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Frankfurt am Main 1995.
  4. Vgl. bereits Benedikt Kaiser, Victor Sebestyen, Lenin. Ein Leben / Hugo Fischer: Lenin. Der Machiavell des Ostens, Sezession, 3. Januar 2018.
  5. Hugo Fischer an Heinz Maus, Brief vom 10.8.1964, Hessisches Staatsarchiv Marburg, Nachlass 340 Maus, Ordner 6.
  6. Vgl. Hugo Fischer, Hegels Methode in ihrer ideengeschichtlichen Notwendigkeit; München 1928; ders., Nietzsche Apostata oder die Philosophie des Ärgernisses, Erfurt 1931; ders., Karl Marx und sein Verhältnis zu Staat und Wirtschaft, Jena 1932.
  7. Ernst Bloch, Zwischenwelten in der Philosophiegeschichte. Aus Leipziger Vorlesungen, Frankfurt am Main 1977, S. 230.
  8. Ebd., S. 228.
  9. Ernst Niekisch, Erinnerungen eines deutschen Revolutionärs. Bd. 1, Gewagtes Leben 1889–1945, Köln 1973, S. 192 f.
  10. Steffen Dietzsch, Hugo Fischers unbekannte Lenin-Biographie (1933) und ihre Neuausgabe 2017, Ernst und Friedrich Georg Jünger Gesellschaft e.V.
  11. Vgl. Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Stuttgart 1982 [1932]; Louis Dupeux, 'Nationalbolschewismus' in Deutschland. Kommunistische Strategie und konservative Dynamik, München 1985, S. 433 ff.
  12. Manfred Lauermann, Jahrhundertgenie Lenin. Zur späten Erstveröffentlichung von Hugo Fischers epochalem Werk, in: Tumult. Vierteljahreszeitschrift für Konsensstörung 3 (2017), S. 67–70, hier S. 67.
  13. Vgl. Hugo Fischer, Politik und Metaphysik, in: Blätter für deutsche und internationale Philosophie 5 (1932), S. 270–291.
  14. Ebd., S. 273.
  15. Ebd., S. 287.
  16. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1976, S. 378–391, hier S. 380.
  17. Jünger, Der Arbeiter, S. 107.
  18. Georg F. W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Frankfurt am Main 1986 [1820], S. 26.
  19. Die Erwartung eines „Dritten Reich[s]“ durchzieht in der Tat die Diskurse der Weimarer Republik an den mannigfachen Schnittstellen zwischen rechts und links – so etwa bei Arthur Moeller van den Bruck (vgl. Dupeux, 'Nationalbolschewismus', S. 71 ff.).
  20. Vgl. Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2006; Reinhardt Kühnl, Deutschland zwischen Demokratie und Faschismus. Zur Problematik der bürgerlichen Gesellschaft seit 1918, München 1969.
  21. Vgl. Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler, Berlin 1953, S. 421.
  22. Vgl. etwa Sebastian Haffner, 1918/19. Eine deutsche Revolution, Hamburg 1981.
  23. Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, S. 390.
  24. Stefan Plaggenborg, Eben der menschlich normale totale Staat. Hugo Fischer über Lenin, in: FAZ, 8. März 2018.
  25. Vgl. Lukács, Zerstörung der Vernunft.
  26. Vgl. Dupeux, 'Nationalbolschewismus'.
  27. Plaggenborg, Eben der menschlich normale totale Staat.
  28. Vgl. Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, München 1925.
  29. Vgl. hierzu insbesondere Andreas Arndt, Geschichte und Freiheitsbewusstsein. Zur Dialektik der Freiheit bei Hegel und Marx, Berlin 2015.
  30. Vgl. Peter Ruben, Was ist Sozialismus? Zum Verhältnis von Gemein- und Personeneigentum an Produktionsmitteln.
  31. Dies unterscheidet Lenin von Marx, dem Fischer immerhin zugesteht, ein Philosoph in der „unterphilosopisch[en] Welt“ des 19. Jahrhunderts gewesen zu sein (vgl. Fischer, Karl Marx, S. 13).
  32. Louis Althusser, Lenin und die Philosophie, Hamburg 1974, S. 44.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.

Kategorien: Politische Theorie und Ideengeschichte Macht Philosophie

Oliver Römer

Dr. Oliver Römer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Georg-August-Universität Göttingen, derzeit Vertretung der Professur für „Allgemeine Soziologie mit Schwerpunkt soziologische Theorie“. Seine Arbeitsschwerpunkte sind soziologische Theorie, Geschichte und Wissenschaftstheorie der Soziologie sowie politische Philosophie.

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