Alfons Söllner | Rezension |

Prediger des Hasses

Rezension zu „Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation“ von Leo Löwenthal

Leo Löwenthal:
Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation
unter Mitarbeit von Norbert Guterman, aus dem Englischen von Susanne Hoppmann-Löwenthal, mit einem Nachwort von Carolin Emcke
Deutschland
Berlin 2021: Suhrkamp
253 S., 15 EUR
ISBN 978-3-518-58762-1

Die Publikation dieses Buches ist eine Wiedergeburt im zweifachen Sinn: Zum einen handelt es sich um die deutsche Übersetzung von Leo Löwenthals einschlägiger Untersuchung über die Propagandatechniken US-amerikanischer Agitatoren, die 1949 als Band 5 der berühmten, von Max Horkheimer und Samuel H. Flowerman herausgegebenen Studies in Prejudice Series erschienen war; zum andern ist es der Wiederabdruck von Band 3 der Schriften Leo Löwenthals, die der früh verstorbene Helmut Dubiel Anfang der 1980er-Jahre im Suhrkamp Verlag ediert hatte. Die Studie – seinerzeit durch Löwenthals Frau Susanne wunderbar ins Deutsche übersetzt – ist eines der wenigen Beispiele dafür, dass auch Werkausgaben nicht zwangsläufig intellektuelle Friedhöfe sein müssen, wo mehr oder weniger bedeutsame Geistesprodukte der Vergangenheit ihre verdiente Ruhe finden: Was Leo Löwenthal, der sich in seinen späten Jahren gern als der „letzte Überlebende der Frankfurter Schule“ inszeniert hat, und Norbert Guterman, der als Mitautor auf dem Cover sehr zu Unrecht unterschlagen wird, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg über einige, heute vollkommen vergessene US-amerikanische Agitatoren herausgefunden haben, ist vielmehr von bedrängender Aktualität. Freilich: in welchem Sinn?

Einen hierzulande kaum wahrgenommenen Hinweis auf die Gegenwärtigkeit konnte man im Dezember 2016 in der traditionsreichen Zeitschrift The New Yorker finden: Deren langjähriger Musikkritiker Alex Ross bemerkte anlässlich des erfolgreichen Wahlausgangs für Donald Trump, dass die düsteren Prophezeiungen, die Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in den 1940er-Jahren ausgesprochen hatten, mit dem neuen Präsidenten Wirklichkeit werden würden. Dafür berief sich Ross, der zugleich ein Kenner der deutschen Emigrantenszene der 1930er- und 1940er-Jahre ist, nicht nur auf die einschlägige Studie zur Authoritarian Personality, sondern vor allem auf das Buch von Löwenthal und Guterman: „To read ‚Prophets of Deceit’ is to see clear anticipations of Trumps’s bigoted harangues.“[1] Wie prophetisch diese Voraussage ihrerseits war, offenbarte vier Jahre später die beispiellose Lügen- und Manipulationskampagne, mit der die US-amerikanische Demokratie beinahe aus den Angeln gehoben worden wäre, weil ein begnadeter Populist seine amtlich bestätigte Abwahl nicht anerkennen wollte. Wenn es eine offensichtliche Aktualität des hier zu besprechenden Buches gibt, dann liegt sie im derzeitigen Zustand der US-amerikanischen Demokratie, deren tiefgreifende Probleme mit der Wahl Joe Bidens ja keineswegs einfach verschwunden sind.

Lässt sich diese Feststellung auf die deutschen Verhältnisse übertragen, auf ein Land, das sich besonders seit der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015/2016 langsam, aber sicher auf eine gesamteuropäische Normallage hinzubewegen scheint, in der populistische Bewegungen, rechtsextremistische Parteien sowie fremdenfeindliche Stimmungen sich zu ernsthaften Bedrohungen der freiheitlichen Demokratie entwickelt haben? Um diese Frage zu diskutieren, muss man sich von der Oberfläche dieses gut zu lesenden Buches lösen und Abstand gewinnen zu seiner evidenzheischenden Botschaft, die so ganz im Einklang mit den Forderungen der politischen Korrektheit zu stehen scheint. Denn natürlich: würden die plumpen Pauschalurteile über andere Nationalitäten, die missvergnügten Neidausfälle gegen die Reichen und Mächtigen sowie die abstrusen Feindprojektionen und verschwommenen Verschwörungstheorien, mit denen politische Heilsbringer und religiöse Hassprediger in der US-amerikanischen Provinz der 1930er- und 1940er-Jahre auf Stimmenfang gingen, auch bei den ,aufgeklärten‘ Rechtsextremisten von heute noch verfangen? Die Frage stellt sich umso mehr, als das gesamte feindselige Wort- und Gedankenmaterial, kraus und wirr wie es ist, im analytischen drive der Interpretationsarbeit ebenso einleuchtend wie eindimensional auf das primitive Feindbild des „Juden an sich“ hin projiziert und ausgelegt wird, auch wenn Löwenthal und Guterman zeigen, wie diese bevorzugte Hassfigur sich in den Reden der Propagandisten chamäleonartig wandelte, sei es in ,den Kommunisten‘ oder ,den Bankier‘, sei es in ,den ausländischen Flüchtling‘ oder ganz allgemein in den enemy alien.

Die entlarvende Vorführung dieser und ähnlicher Purzelbäume der Agitatoren gehört zu den Glanzstücken der vorliegenden Propagandastudie. Ihren Höhepunkt bildet die kunstvoll komponierte Darstellung und Interpretation der Phrasen und Forderungen eines ideellen Gesamtagitators, die den Anfang und das Ende der Untersuchung markieren. Während die Leserinnen und Leser zum Auftakt der Studie über das informiert werden, „was der Agitator sagt“ (S. 13–17), werden sie an deren Ende über das belehrt, „was der Agitator meint“ (S. 229–231). Auch wenn der gelernte Literaturwissenschaftler Löwenthal im gesamten Buch einen recht freien Umgang mit dem „Textmaterial“, also den ausgewerteten Radioreden und gedruckten Pamphleten der Agitatoren, erkennen lässt, heißt das nicht, dass er es an Belegen und Nachweisen für seine Behauptungen vermissen ließe. Ganz im Gegenteil: In zwei umfangreichen Anhängen wird die harte Informationsbasis mitgeliefert, deren politische Stoßrichtung eindeutiger nicht sein könnte: So wird im Vergleich ausgewählter Textpassagen die regelmäßige Parallelität von profaschistischen und antisemitischen Äußerungen im Propagandamaterial beinahe schematisch nachgewiesen. Vervollständigt wird die Studie schließlich durch ein Verzeichnis der wichtigsten Schriften und Broschüren der vorgestellten politischen Aktivisten, von denen etliche ihre Karriere in den 1920er-Jahren als christliche oder evangelikale Wanderprediger begonnen hatten, bevor sie im Sog der Wirtschaftskrise zu politischen Agitatoren aufstiegen und ihr Unwesen bisweilen auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg weitertrieben.

Zu ihnen gehörte beispielsweise der römisch-katholische Priester Charles E. Coughlin, der Mitte der 1930er-Jahre die Union Party gründete und die extrem antisemitische Christian Front anführte; der Methodist William Dudley Pelley, der 1933 die antisemitische Silvershirts-Bewegung ins Leben rief und 1936 erfolglos für die vom ihm gegründete Christian Party als Präsidentschaftskandidat antrat; oder Gerald L. K. Smith, der einer Disciples-of-Christ-Dynastie entstammte und 1943 die America First Party gründete, die ihn 1944 zu ihrem Präsidentschaftskandidaten machte. Aus Sicht der Hitler-Flüchtlinge Löwenthal und Guterman bestand daher auch in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre durchaus Grund zur Sorge, dass das ideologische Gebräu aus der US-amerikanischen Provinz, das zumindest zeitweise bis nach Washington, New York und Los Angeles herüberschwappte, eines Tages auf fruchtbaren Boden fallen könnte. Daher darf man sich von dem bisweilen ironischen Tonfall bei ihrem assoziationsreichen Umgang mit dem wüsten Propagandastoff, dem sie mit den Mitteln einer ins Sozialpsychologische gewendeten Freudschen Psychoanalyse zu Leibe rückten, nicht täuschen lassen: Die US-amerikanische Variante des Antisemitismus, insbesondere die Überwucherung seines christlichen Ursprungs durch offene Sympathien für Hitler und Mussolini, wurde von ihnen keineswegs als abwegiges Gedankengut einiger Wirrköpfe, sondern als reale Bedrohung wahrgenommen.

Worin liegt nun aber der clue ihrer Propagandaanalyse? Um diese Frage angemessen zu beantworten, will ich zunächst in fünf Schritten die methodischen Prämissen und die gedanklichen Schaltstellen der Studie freilegen:

1. „Die Hauptaufgabe der vorliegenden Untersuchung“, heißt es gleich zu Beginn an zentraler Stelle, „ist die Bestimmung der gesellschaftlichen und psychologischen Aspekte der Agitation mit den Mitteln der Isolation und Beschreibung ihrer fundamentalen Themen.“ (S. 19) Das Gesellschaftsbild, das der Agitator vermittelt, ist durch und durch negativ gefärbt, er kapriziert sich auf die „gesellschaftliche Malaise“ (Kap. II), aber nicht, um ihr, wie der Reformer oder der Revolutionär es tun würden, mit rational begründeten Maßnahmen entgegenzutreten und die Lebensverhältnisse zu verbessern, sondern er vernebelt sie und lenkt die Unzufriedenheit seiner Zuhörer auf einen imaginären Feind. Die weitverbreitete Existenz latenter und manifester Angst- und Krisengefühle in der modernen Welt wird dabei von den Autoren, wie sie eigens und immer wieder betonen, als gegeben vorausgesetzt. Der Agitator schürt und verstärkt diese Gefühle und nutzt sie, um sich eine ergebene Anhängerschaft zu verschaffen, der er Sicherheit und Erlösung verspricht.

2. Die Welt, die der Agitator seinen Zuhörern vorgaukelt, ist eine ganz und gar feindliche (Kap. III). Der normale Amerikaner ist der „ewig Betrogene“: auch wenn er sich noch so sehr anstrengt, bleibt er doch der ,kleine Mann‘, während ,die da oben‘, die Reichen und Mächtigen, dem Laster und dem Luxus frönen, also den christlichen Tugenden Hohn sprechen. Weil unter diesen Umständen moralische Werte ohnehin zu einer leeren Illusion geworden sind, steht die US-amerikanische Gesellschaft vor dem Untergang. Chaos steht bevor, das wahlweise als kommunistische Diktatur, als Plutokratie der Bankiers oder ganz generell als Herrschaft des Satans angekündigt wird − eine offensichtliche, den wechselnden Krisen immer wieder neu angepasste Angstprojektion, die sich im Laufe der 1930er-Jahre, das heißt mit der Verstärkung des Einwanderungsdrucks, immer mehr auf die „Flüchtlinge“ und vor allem die „jüdischen Flüchtlinge“ zu konzentrieren scheint.

3. Das Zentrum des Buches bildet die Figur des generalisierten Feindes, dessen besondere Heimtücke durch einen folgenreichen Rollenwechsel gesteigert wird (Kap. V): „Diese Umwandlung des Feindes vom gefährlichen Verfolger zum verfolgten Opfer ist der Kernpunkt des ‚Feind-Themas’ in aller Agitation.“ (S. 99) Dieses quid pro quo ist nicht nur für die Denk- und Argumentationsweise des Agitators von hervorgehobener Bedeutung, sondern eignet sich auch gut dafür, die Interpretationsmethode zu erläutern, mit der Löwenthal und Guterman das heterogene und verworrene Material thematisch zu ordnen versuchen. Schon vorher war immer wieder angedeutet worden, dass es aus der Freudschen Psychoanalyse stammende Unterscheidungen sind (wie zum Beispiel die zwischen Oberfläche und Latenz, zwischen Triebunterdrückung und Wunschprojektion oder eben die Verkehrung von Opfer und Täter), die alleine den teils widersprüchlichen, teils absurden Gedankengängen des Agitators einen nachvollziehbaren Sinn verleihen.

4. Der überwiegende Teil des Buches besteht darin, die Imago des Feindes in all ihren Facetten, Wandlungen und Widersprüchen vorzuführen und zu zeigen, mit welchen Zutaten sich aus dem Stoff eine allumfassende Verschwörungstheorie konstruieren lässt: Darin erscheint der Feind gleichzeitig als allmächtig und hilflos, als bewundertes Idol und schmutziges Tier, als gerissen und gefährlich. Er kann nur besiegt werden, sofern man dem Agitator Gehör schenkt! Um den Weg von der drohenden Verdammung zur versprochenen Erlösung gleichsam abzukürzen, müssen all diese Themen – und im Verlauf der Untersuchung werden derer nicht weniger als 21 isoliert – zusammengefasst und auf einen einzigen Punkt hin projiziert werden, auf einen Feind, der gleichzeitig konkret und das generalisierte Böse überhaupt ist. Diese Funktion übernimmt in den Verschwörungstheorien der Agitatoren ,der Jude‘, dem vorgeworfen wird, für alle zuvor beschriebenen Übel verantwortlich zu sein. Das zentrale Kapitel VII, in dem die beiden Autoren ihre These entfalten, trägt die Überschrift: „Der Feind heißt Jude“ (S. 107). Darin entfalten Löwenthal und Guterman die eigentliche „Logik“ des Agitators, die eine „Psycho-Logik“ ist und die Speerspitze auf das Feindbild des Juden richtet.

5. Die Untersuchung endet zwiespältig: einerseits in der Schilderung des idealtypischen Anhängers des Agitators, der sein Zuhörer und potenzieller Gefolgsmann ist (Kap. VIII), andererseits in dem bereits erwähnten Portrait eines ideellen Gesamtagitators, das die Autoren aus den zahlreichen Reden und Publikationen herausdestillieren (Kap. IX). In der Konturierung dieser beiden Idealtypen, die nicht nur nebeneinandergestellt, sondern vorsichtig gegeneinander abgeglichen werden, erreicht das Buch seine größte Anschaulichkeit, während man bei den Einzelthemen bisweilen den Eindruck gewinnt, es mit gewagten Formulierungen und überspitzten Interpretationen zu tun zu haben. Eines aber wird ganz deutlich, nämlich dass die wahre Funktion des Agitators nur eine potenzielle beziehungsweise fiktive ist, weil nämlich keineswegs ausgemacht ist, was davon und wie es beim Zuhörer ankommt. Zwischen ihnen besteht zwar eine „psychologische Geheimsprache“ (S. 227), deren tatsächliche Wirkung steht jedoch unter einem prinzipiellen Vorbehalt: „Auf jeden Fall aber ist die Unterscheidung zwischen manifester und latenter Bedeutung des Agitationstextes unerläßlich.“(S. 228)

So mitreißend, aber auch erschreckend sich die Interpretationen von Löwenthal und Guterman durchgehend lesen – am Ende ihres Buches steht die Wiederholung der auffälligen Selbstbescheidung vom Anfang, die methodischer Art ist und die Reichweite wie die Signifikanz der Ergebnisse von vornherein begrenzt: „Wir sind uns darüber im Klaren, dass unsere Interpretationen nicht den Anspruch erheben können, tatsächliche Publikumsreaktionen zu repräsentieren. [...] In methodologischer Hinsicht ist diese Arbeit gänzlich experimentell; es handelt sich hier um einen kaum erforschten Untersuchungsgegenstand.“ (S. 12) Was für jüdische Emigranten in den USA eine bewundernswerte Objektivierungsleistung war – immerhin waren sie von den antisemitischen Ausfällen unmittelbar betroffen –, müssen wir heute als Warnung davor verstehen, die Ergebnisse ihrer Analyse allzu unmittelbar auf die gegenwärtigen Verhältnisse zu übertragen. Worin also besteht die Aktualität der Wiederpublikation von Löwenthals und Gutermans Studien zur faschistischen Agitation?

Die Frage ist keineswegs einfach zu beantworten, setzt sie doch letztlich voraus, dass man ein gleichermaßen präzises wie hinreichend allgemeines Verständnis davon besitzt, welche Rolle Vorurteile, Feindbilder und Verschwörungstheorien in den heutigen Demokratien spielen; denn offensichtlich haben sich nicht nur deren gesellschaftliche Grundlagen modernisiert, sondern eben auch der irrationale Bodensatz, der immer schon das Nebenprodukt von Modernisierungsprozessen bildete. Eine wirklich überzeugende Einschätzung dieser Zusammenhänge kenne ich nicht. Trotzdem steht außer Zweifel, dass es in Deutschland, wie in vielen anderen europäischen Demokratien auch, einen besorgniserregenden Anstieg antisemitischer Hasstiraden gibt, die sich verstärkt in den sozialen Medien austoben – von den Mordanschlägen und Gewalttaten gegen jüdische Einrichtungen ganz zu schweigen. Was es aber nicht gibt, ist die offene politische Mobilisierung, die zumindest in Deutschland sowohl durch antidiskriminatorische Strafgesetze als auch durch gedächtnispolitische Tabus, zuvorderst natürlich durch die Erinnerung an den Holocaust, gleichsam gebremst ist. Auch fehlt es an Agitatoren, die den Stil der Zwischenkriegszeit kopieren würden.

Aber dürfen wir uns in der zerbrechlichen Konstellation, die empirische Antisemitismusforscher wie Werner Bergmann und andere als „latenten Antisemitismus“ charakterisiert haben, wirklich sicher fühlen? Aus ideologiegeschichtlicher Perspektive kann es kein Ruhekissen geben, auf dem sich die weiteren Entwicklungen bequem abwarten ließen: Hausgemachte Judenfeindschaft und islamistischer Fanatismus gehen heute eine trübe, aber explosive Mischung ein, wie die jüngsten Reaktionen auf das Wiederaufflammen des Nahostkonflikts beweisen. Selbst wenn dem antisemitischen Vorurteil in Deutschland auch zukünftig die gefährliche Spitze der politischen Mobilisierbarkeit abgebrochen bleiben sollte, so lebt in unserer Kultur doch eine tief verankerte Fremdenfeindlichkeit fort − viele nennen es heute wieder „Rassismus“ −, die zuverlässig aufflackert, sobald der Einwanderungsdruck ein bestimmtes Maß zu überschreiten droht. Und tatsächlich erweist sich Einwanderung auch heute als eine nie versiegende Quelle munterer Vorurteilsproduktion. So wurde die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015/2016 von einem relevanten Teil der Bevölkerung als unkontrollierbar empfunden und hatte einen signifikanten Anstieg fremdenfeindlicher Einstellungen zur Folge, ihre scheinbare oder tatsächliche „Lösung“ durch die Integrationspolitik der Regierung Merkel hat nur das Dauerreservoir für eine „neue“ Fremdenfeindlichkeit geschaffen.

Hier liegt nach Auffassung des Rezensenten der neuralgische Punkt, an dem die Beantwortung der Aktualitätsfrage ansetzen muss. Die europäischen Staaten sind, jeder auf seine Weise und doch alle zusammen, einer dynamischen Entwicklung ausgesetzt, in der internationale Flucht- und Migrationsprozesse zu kritischen Faktoren der Innenpolitik geworden sind. Durch die Corona-Pandemie wurde diese Problematik in den letzten Monaten zwar überdeckt, aber sie wird sich bei nächster Gelegenheit neuerlich bemerkbar machen, womöglich sogar verschärfen. Nimmt man dieses Szenario als maßgeblichen Bezugspunkt, wird die Notwendigkeit von Differenzierungen ersichtlich: Während das ideologische Material des vorliegenden Buches in seiner konkreten Gestalt und seiner spezifischen Zusammensetzung offensichtlich dem historischen Kontext der 1940er-Jahre verhaftet bleibt, ist es gleichwohl auch heute noch interessant zu erfahren, was der „Lügenprophet“ mittels seiner Verführungskunst, das heißt seiner Suggestionskraft, seiner Rhetorik und Gestik daraus zu machen versteht. Wenn es ihm gelingt, ein vorhandenes Krisengefühl anzufachen und die Öffentlichkeit zu hysterisieren, dann sind der Irrationalisierung keine Grenzen gesetzt: ob Juden oder Muslime, ob ,Lügenpresse‘ oder Intellektuelle, ob korrupte Politiker, EU-Bürokraten oder das internationale Kapital – die Feindbilder sind austauschbar. Es hängt von der Stabilität der demokratischen Kultur, und damit eben auch von der politischen Wachsamkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger ab, ob solche Verzerrungen verhindert werden.

Die Publizistin Carolin Emcke hat in ihrem ebenso engagierten wie informativen Nachwort die Studie von Löwenthal und Guterman nicht nur als hochaktuelles „Buch der Stunde“ begrüßt, sondern in den Rang eines „Klassikers“ erhoben (S. 242 f.). Das ist eine bemerkenswerte Umwertung, die im Widerspruch steht zur bisherigen Kanonisierung, von der auch die Frankfurter Schule nicht verschont geblieben ist; denn der Klassikerstatus ist auf dem Gebiet der Sozialpsychologie bislang der maßgeblich von Adorno verfassten Studie The Authoritarian Personality zuerkannt worden. Der nachvollziehbare Grund dafür lag vor allem in dem unvergleichlich viel höheren empirischen und methodologischen Aufwand, der seinerzeit für den größten Teilband der „Studies in Prejudice“ betrieben wurde, der die Tradition der Autoritarismus-Studien begründete, während Löwenthal und Guterman auf theoretische Ambitionen explizit verzichteten. Emcke ist zuzustimmen, dass sich das vorliegende Buch dafür sehr viel packender liest, wozu auch die Übersetzerin beigetragen hat, indem sie die ,Wut-Texte‘ der Agitatoren im amerikanischen Original beließ. Was jedoch die Frage der direkten Übertragbarkeit der Leitideen auf den gegenwärtig grassierenden Populismus in Europa betrifft, muss man wohl etwas Wasser in den Wein gießen.

  1. Alex Ross, The Frankfurt School Knew Trump Was Coming, in: The New Yorker, 5.12.2016.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Erinnerung Politik Rassismus / Diskriminierung Staat / Nation

Alfons Söllner

Professor Dr. Alfons Söllner ist emeritierter Professor für politische Theorie und Ideengeschichte, er lehrte von 1994 bis 2012 an der Technischen Universität Chemnitz. Geb. 1947 in Bayern, Studium in Regensburg, München und Harvard, 1977 Promotion an der LMU München, 1986 Habilitation an der FU Berlin, 1990–1991 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, 1994–1997 Prorektor der TU Chemnitz. Forschungsschwerpunkte: Wirkungsgeschichte der Hitler-Flüchtlinge; Geschichte der Politikwissenschaft; Politische Theorien im 20. Jahrhundert; Politische Ästhetik; Flüchtlingspolitik. Ausgewählte Veröffentlichungen: Peter Weiss und die Deutschen, 1988; Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration, 1996; Fluchtpunkte. Studien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, 2006; Deutsche Frankreich-Bücher aus der Zwischenkriegszeit, 2012.

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