Felicitas Hillmann | Rezension | 24.10.2023
Räumliche Definitionsmacht
Rezension zu „Flucht- und Flüchtlingsforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium“ von Tabea Scharrer, Birgit Glorius, J. Olaf Kleist und Marcel Berlinghoff (Hg.)
Migration und Flucht sind schon jetzt große Themen. Es ist wichtig, dass wir über sie sprechen und schreiben, denn sie werden uns in absehbarer Zukunft noch stärker beschäftigen. Ein Blick auf die 2023 bundesweit gestiegenen Zahlen zu den neu angekommenen Geflüchteten verdeutlicht dies. IOM und UNHCR, die zur UN gehören, rechnen mit 281 Millionen internationalen Migrant:innen weltweit, die EU-Asylagentur (EUAA) geht von über einer Million Asylanträgen in Europa für das laufende Jahr aus, allein 30 Prozent davon werden in Deutschland gestellt.[1]
Hinzu kommt: Wir sehen in diesem Sommer die Auswirkungen eines rapide und weitgehend ungebremsten Klimawandels mit Dürresommern, Waldbränden und einer Mittelmeertemperatur von knapp 30 Grad. Hierzulande beschäftigen wir uns viel zu wenig damit, was diese Veränderungen für bereits angeknackste Ökosysteme und Lebensräume in den ärmeren Teilen der Welt schon jetzt bedeuten und zukünftig noch bedeuten werden. Mehr Menschen werden mehr wandern (müssen), sei es als Klimaanpassung oder als letzte Chance zum Überleben. Gleichzeitig wähnen wir uns in EUropa überwiegend noch auf einer Insel der Glückseligkeit und maßen uns selbst einen Mobilitätsanspruch an, der sich in Flugkilometern bemessen lässt und der sich in Narrativen über eine Auszeit in Thailand verdichtet.
Die Themen Mobilität, Migration und Flucht haben zwei Gesichter: Im positiven Sinn redet man über Diversität, Vielfalt und Willkommenskultur. Welcome-Center werden eingerichtet, um internationale Studierende langfristig an ihre Studienorte zu binden. Diversität, letztlich die Migration von gestern, ist meist gern gesehen. Ganz anders stellt es sich dar, wenn es um die derzeitige Migration geht, die oft genug als Flucht stattfindet. Da sprechen wir dann über die Nöte der Verwaltungsapparate der Nationalstaaten, einst errichtet auf dem Ordnungsprinzip der territorialen Souveränität im ausgehenden 19. Jahrhundert und seitdem entlang des Primats einer sesshaften Bevölkerung weiterentwickelt. Wir laborieren weiter mit längst veralteten Regulierungen, die einmal aus der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges heraus entstanden sind. Sie sollten die Tragik der Staatenlosen zukünftig verhindern und waren als Grundlage für einen humanen Umgang mit Flüchtlingen konzipiert. Aber nationale Bürokratien und Flüchtlingsregulierungen wurden weder für unsere globalisierte Welt mit ihrer extremen Mobilität von Menschen, Waren und Ideen geschaffen, noch konnten ihre Begründer erahnen, wie beispielsweise Umweltfragen einmal Mobilitätsmuster verändern würden. Es gab noch keine allverfügbaren Flugreisen, kein Internet und keine Sozialen Medien. Heute treffen diese langsamen und überholten Regulierungen auf die konkrete Realität von Menschen in Not.
Weil die Entscheidungen über den Umgang mit Migration so komplex und langwierig sind, gibt es inzwischen in fast allen Ländern Europas Flüchtlingscamps. Sie sind Ausdruck der ungelösten politischen Frage, wie auf die ungewollte Zuwanderung, hier gemeint als Zuwanderung ohne vorherige Visa-Erteilung, zu reagieren ist. Wie viel gilt der humanitäre Anspruch der Menschenwürde dann noch? Wie viele Ressourcen sollen und können den Ankömmlingen zur Verfügung gestellt werden (siehe Lampedusa in diesen Tagen)? Und: Wie sehr lassen sich Staaten unter Druck setzen, um Migration abzuwehren? Welche Gruppen gelten wie viel und sollen wie behandelt werden? Für wen wird eine Massenzustrom-Richtlinie in Kraft gesetzt und wer wird abgeschoben? Supranationale Politiken, wie die Versuche des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), zeigen das Dilemma, vor dem die Nationalstaaten stehen. Migration verhandelt räumliche Definitionsmacht: der Staaten über ihr Territorium, aber auch der Einzelnen, die sich das Recht auf Mobilität herausnehmen.[2] Hier steht die Not des Nationalstaats, Regulierungen zu benötigen, der Not des Individuums gegenüber, dessen Hoffnung auf ein besseres Leben und sein Weglaufen vor der Perspektivlosigkeit des Herkunftsorts. Flucht ist, anders als andere Formen der Wanderung, eine unberechenbare, kostspielige und traumatisierende Erfahrung für den und die Einzelne.
Schon der Titel des Handbuchs von Tabea Scharrer, Birgit Glorius, J. Olaf Kleist und Marcel Berlinghoff, Flucht- und Flüchtlingsforschung, drückt diesen tiefen Zwiespalt aus: Wie halten wir es mit denen, die erst einmal nicht dazugehören, aber dennoch hinzukommen? Das Spannungsverhältnis besteht zwischen dem Abstraktum Flucht, als einem Prozess (= Fluchtforschung), und der persönlichen Betroffenheit der oder des Geflüchteten (= Flüchtlingsforschung). Und wann hört man auf, einE GeflüchteteR zu sein? Es handelt sich um das „erste Handbuch zur Flucht- und Flüchtlingsforschung“, schreiben die Herausgeber:innen. Denn zunächst ignorierte die Wissenschaft beide Themen, es gab kaum Lehrstühle. Heute sind sie en vogue und erfreuen sich zum Glück großer Beliebtheit bei Studierenden. Es ist daher gut, dass es nun ein Handbuch gibt.
Ein komplexes Thema wie das der Flucht, sei es als Teilprozess von Migration oder als Produkt gesellschaftlicher Realitäten, kann 882 Seiten locker vertragen. Die 129 Autor:innen des Handbuchs kommen aus einschlägigen Forschungsverbünden wie dem Osnabrücker Institut für Migration und Interkulturelle Studien IMIS (7 Autor:innen) oder dem DeZIM (6 Autor:innen), ebenso aus kleineren Forschungskernen wie etwa der Forschungsgruppe um die Herausgeberin Glorius an der Universität Chemnitz (4 Autor:innnen) oder der Stiftung Wissenschaft und Politik (3 Autor:innen). Es besteht kein Zweifel: Die Autor:innen gehören zur Crème de la Crème der Flucht- und Migrationsforschung in Deutschland, viele Nachwuchswissenschaftler:innen haben sich beteiligt.
Das Handbuch gliedert sich in fünf übergeordnete Abschnitte, die weitere Unterkapitel enthalten. Der Teil „Forschungsansätze und disziplinäre Zugänge“ präsentiert die Zugänge der verschiedenen Disziplinen zum Thema (12 Beiträge). Im folgenden Abschnitt stehen methodische und ethische Überlegungen im Mittelpunkt (12 Beiträge). Der zweite große Abschnitt „Begriffe und Themen“ bietet Einblicke in spezielle konzeptionelle Zugänge –von Agency bis Vulnerabilität (25 Beiträge). Schmale fünf Beiträge finden sich im Abschnitt „Akteure und Institutionen“, wobei dieses unübersichtliche Konglomerat mehr Beiträge, etwa zur Rolle von Universitäten und migrant industries, gut hätte vertragen können. Das Oberkapitel „Gruppen und Kategorisierungen“ beschäftigt sich schließlich mit Teilgruppen wie unbegleiteten Minderjährige und LGBTQ-Geflüchteten, ebenso wie mit den Themen Gender und Inklusion (6 Beiträge). Unter der Überschrift „Regulierung von Schutz und Mobilität“ geht es um Asylverfahren und internationale Prozesse (13 Beiträge) sowie (mit zehn Beiträgen) um die „Strukturen und Praxis der Aufnahme“, etwa in den Arbeitsmarkt. Es folgt ein Regionalteil, der alle Kontinente umspannt und auf „Fluchtkontexte, Migrationsregime und die Aufnahme von Geflüchteten außerhalb des deutschsprachigen Raumes“ (S. 27) eingeht.
Der Band richtet sich an „Forschende und Lehrende“, vor allem an die Fortgeschrittenen unter ihnen. Man habe sich – angesichts des im Entstehungsprozess des Buches beginnenden Angriffskriegs gegen die Ukraine – inhaltlich „gegen Tagesaktualität und für eine nachhaltige Nutzbarkeit entschieden“, schreiben die Herausgeber:innen (S. 22). Die Beiträge internationaler Autor:innen, die ins Deutsche übersetzt wurden, sind besonders prägnant. Absolut lesenswert ist der Überblick von Christina Clark-Kazak der Universität Ottawa, weil er uns die institutionellen Grundlagen der Fluchtforschung im internationalen Kontext erläutert und dabei auf die Machtungleichheiten bei der Wissensproduktion eingeht. Sie schreibt: Die Forscher:innen „profitieren finanziell und beruflich von ihrer Arbeit mit Menschen in Vertreibungssituationen“, haben selbst aber keine Erfahrung mit erzwungener Migration gemacht (S. 39).
Dietrich Thränhardt, einer der ersten deutschen Migrationsforscher, betont, dass sich die „Fluchtforschung weitgehend unabhängig von der übrigen Migrations- und Integrationsforschung“ entwickelt hat, und kritisiert, dass die modische postmigrantische Perspektive, verwurzelt im aktivistischen Kulturmilieu, die Beschäftigung mit dem Fluchtgeschehen weitgehend ausgeblendet habe (S. 47). Er trifft ins Schwarze, wenn er die Unfähigkeit der deutschen Forschung anspricht, zeitlich lange Zusammenhänge zu erfassen. Erstaunlich allerdings, dass auch bei ihm keine Christiane Harzig, kein Dirk Hoerder, Ulrich Herbert und keine Annette Treibel in der Literaturliste vorkommen. Sie werden dafür bei Patrice Poutrus gewürdigt – der wiederum das Werk von Hannah Arendt zu den Staatenlosen nicht als Teil der Geschichte sieht. Auch den Topos des „lästigen Ausländers“ sucht man vergeblich.
Für die Soziologie fehlen die wegweisenden Arbeiten von Hartmut Häußermann und Walter Siebel, in der Ethnologie einer Regina Römhild und so geht es weiter. Eine Systematik, die auf Würdigung substanzieller Beiträge in den jeweiligen Fächern zielt, ist nicht erkennbar. Auch in der Geografie gab es wichtige Beiträge, etwa zum traditionellen Umgang mit mobilen Lebensformen in großen Teilen der Welt, die keinerlei Erwähnung finden. Hier zitiert sich die Herausgeberin selbst und übersieht die Arbeiten von Silja Klepp, Birgit Neuer, Malte Steinbrink, Paul Gans und die wegweisende englischsprachige Forschung um John Salt oder Richard Black. In den Literaturwissenschaften fehlen Autoren wie Klaus-Michael Bogdal mit seinen Arbeiten zur Exklusionsgeschichte von Sinti und Roma.
Eine LeserIn ist immer dankbar für Übersichten, zeitliche Einordnungen, Definitionen und auch Zahlen. Es gibt davon einige sehr brauchbare, zum Beispiel zu den verfügbaren Sekundärdaten und zur Operationalisierung von Geflüchtetendaten (S. 186), die auf die uneinheitlichen Definitionen verweisen und die Hauptunterscheidung zwischen der „rechtlich normativen“ und der „lebensweltlichen Operationalisierung“ unterstreichen (ebd.). Besonders empfehlenswert ist der Beitrag von Klaus Neumann zum Recht auf Asyl (S. 229 ff.) wie auch von Amrei Meier zur Komplexität gemischter Wanderungen (S. 235 ff.). Auch die Einordnung von Martin Geiger und Martin Koch, die auf die enorme Bedeutung der UN-nahen Stakeholder hinweist (S. 396), lohnt sich, weil sie die Unterfinanzierung dieser Organisationen hervorhebt und anerkennt, dass sich die Staaten gewachsenen Anforderungen gegenübersehen. Es kann nicht deutlich genug auf die Crux mit den nichtbindenden Abkommen in diesem Governance-Feld, siehe Nansen-Initiative, verwiesen werden (Christiane Fröhlich zu Klimaflucht, S. 336).
Auch Glorius liegt richtig, wenn sie die Dynamik der verschiedenen Ordnungsebenen (Kommune-Länder-Bund) zentral stellt. Es besteht ein definitorischer Konflikt: Soll Flucht als Teil von Migration gesehen oder „entmigrantisiert“ werden, das heißt der Diskurs selbst als Katalysator von Ungleichheit durch „kritische Hinterfragung“ enttarnt werden? Einige Autor:innen regen an, die Begrifflichkeiten „auf weitere Achsen von Ungleichheit intersektional [zu] erweiter[n]“ (bspw. Jelena Tošiƈ und Andreas Streinzer, S. 262). Ähnlich bei Jochen Oltmer: „Nicht das Wort ist das Problem, sondern die Zuweisung von Bedeutung im Kontext intensiver gesellschaftlicher Aushandlungen.“ (S. 281) Hier befinden wir uns – natürlich – in einem viel breiteren gesellschaftlichen Diskurs darum, wie wir den unterschiedlichen Gruppen in der Gesellschaft gerecht werden, wie wir sie bezeichnen können, ohne als diskriminierend wahrgenommen zu werden. Wie über Integration reden, ohne auf den Begriff vom „essentialisierende[n] Kulturverständnis zu rekurrieren“ (Sophie Hinger, S. 324) oder „das Vulnerabilitätsparadigma in dynamischen Gefügen zu anderen Elementen beobachte[n]“ (Anett Schmitz, S. 372)? In der Praxis heißt dies: Wie können verletzliche Personen Hilfe erhalten, ohne zum Opfer gemacht zu werden? Es ist gut, dass der Band diese Themen in eigenen Kapiteln zum Fluchtalltag aufgreift – zu Gender, Deservingness, LGBT, Männlichkeiten, unbegleiteten Minderjährige (sog. UMs), geflüchteten Familien. Überträgt man diesen akademischen Anspruch auf die Praxis, stößt man schnell an Grenzen. Bundesweit gibt es ganze 47 Behandlungszentren für Geflüchtete und Folteropfer (Anne-Kathrin Will, S. 365).
Besonders lesenswert sind die Beiträge zu den Blindstellen der Forschung: von Sieglinde Rosenberger zu Abschiebepolitiken (S. 505 ff.), von Norbert Cyrus zur Irregularität (S. 555 ff.) und von Klaus Neumann zur Seenotrettung und humanitären Einsätzen als „Schaufensterpolitiken“ (S. 565 ff.). Die regionalen Überblicke bilden einen guten Einstieg in außereuropäische Literatur. Schade, dass hier kaum Autor:innen der verschiedenen Kontinente selbst vertreten sind. Die ganz großen Zukunftsthemen – Auswirkungen der Digitalisierung auf einerseits Kontrolle und anderseits Autonomie der Migration – reißt das Kapitel „Big data“ (Laura Stielike, S. 189 ff.) an. Die Autorin ruft dazu auf, Big Data zu nutzen, um „‚Gegenwissen‘ zu hegemonialen Diskursen“ (S. 192) zu produzieren. Angesichts der Datenkrake Google und der enormen Bedeutung der Mobiltelefonie für Menschen auf der Flucht mutet diese Forderung hilflos an. Schon heute greifen Wissenschaftler:innen immer selbstverständlicher auf diese hochproblematischen Daten zurück.
Die Herausgeber:innen haben ein klug strukturiertes Handbuch vorgelegt, das unbedingt in die Regale der Universitätsbibliotheken gehört, auch wenn zahlreiche, in ihren jeweiligen Disziplinen einschlägige Forscher:innen keine Erwähnung finden. Dass sich in den Beiträgen selbst ein wahrnehmbares Gefälle zwischen nüchtern-pragmatischen und akademisch-verklausulierten Beiträgen zeigt, spiegelt wohl die breitere gesellschaftliche Debatte wider.
Fußnoten
- Zit. nach einer dpa-Meldung im Tagesspiegel, 6.9.2023, S. 1.
- Felicitas Hillmann, Migration. Eine Einführung aus sozialgeographischer Perspektive, Stuttgart 2016; sowie dies. / Michael Samers (Hg.), Cities, Migration and Governance. Beyond Scales and Levels. London 2023 (im Erscheinen).
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Daten / Datenverarbeitung Europa Globalisierung / Weltgesellschaft Migration / Flucht / Integration Staat / Nation
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
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