Kristin Eichhorn | Literaturessay | 23.10.2024
Ratgeber für die wissenschaftliche Karriere – taugen die was?
Die wissenschaftliche Karriere ist ein Hasard. Das galt bei Max Weber vor etwa 100 Jahren genauso wie heute. Insbesondere seit #IchBinHanna ist noch einmal deutlich sichtbarer geworden, dass viele Wissenschaftler:innen sich lange von einer befristeten Stelle zur nächsten hangeln, um irgendwann vor dem erzwungenen beruflichen Neuanfang außerhalb der Wissenschaft zu stehen, weil sie keine der wenigen Professuren erhalten und damit keine Zukunft im System haben. Indem die Hochschulen selbst auf das erkannte Problem nicht zuletzt mit einem enormen Ausbau ihrer Beratungsangebote reagiert haben, ist klar: Das Wissenschaftscoaching ist mittlerweile ein sehr lukrativer Markt.
Das Ausmaß des Bedarfs an Orientierung und Unterstützung wird auch an der durchaus beachtlichen Menge an Ratgeberliteratur neueren Datums erkennbar. Wissenschaft als Beruf ist so unwägbar und undurchsichtig, dass es viel zu erklären gibt. Ratgeber, egal ob als Buch oder Podcast, und Coachings müssen dabei den Spagat schaffen, Menschen zu eigenverantwortlichem Handeln zu befähigen und ihnen Selbstwirksamkeit zu ermöglichen, ohne aber bestehende Probleme zu leugnen und Idealbilder zu zeichnen, die mit der Realität wenig zu tun haben.
Wie gut gelingt das aktuellen Ratgeberwerken? Welche Schwerpunkte setzen sie und welches Bild von der Wissenschaft präsentieren sie jenen, die sich für eine Tätigkeit in diesem Feld interessieren?
Hoher Informationsgehalt
Zunächst existieren zahlreiche Ratgeber, die das Wissenschaftssystem – oder einen Teil davon – in seiner Komplexität für eine bestimmte Zielgruppe erläutern, übliche Abläufe und Praktiken für diejenigen aufbereiten, die noch nicht hinreichend Gelegenheit hatten, eigene Erfahrungen zu machen.
Berufungsverfahren etwa weisen eine eigene Logik und Komplexität auf, die zu durchschauen für die Bewerber:innen, gerade zu Anfang ihrer Karriere, nicht unbedingt einfach ist. Mit ihrem jüngsten Buch Bewerben auf Juniorprofessuren und Professuren verfolgt Mirjam Müller, Personalentwicklerin an der Universität Konstanz und eine der bekanntesten Wissenschaftscoaches Deutschlands, das Ziel, Transparenz hinsichtlich der „formalen und informellen Regeln von Berufungsverfahren“ (Müller, S. 7) zu schaffen. Entsprechend legt die Autorin auf gut 220 Seiten bündig und verständlich dar, was man wissen muss: wie ein Berufungsverfahren abläuft, aus welchen Teilen die schriftliche Bewerbung besteht, was einen bei einer Einladung erwartet und wie man Berufungsverhandlungen führt. Ergänzt wird das Buch um zwei kürzere Kapitel, von denen das erste das Spezifikum der Fachhochschulprofessur in den Blick nimmt, während das zweite noch ein paar Tipps für Bewerbungsstrategien mit auf den Weg gibt. Ein Anhang mit weiteren Hinweisen und Vorlagen rundet den Ratgeber ab.
Müller ist durchweg um nützliche Hinweise bemüht, die sie auf Basis ihrer umfassenden Erfahrung mit auf den Weg geben kann. Sie führt aus, woran man alles denken muss, präsentiert zahlreiche Checklisten und stellt an konkreten Formulierungen für das Anschreiben dar, wie bestimmte Äußerungen in der Regel von Berufungskommissionen wahrgenommen werden. Diese Art von Ratgeberliteratur ist sicherlich mit der Zeit irgendwann überarbeitungsbedürftig, weil sich Gepflogenheiten ändern – sie bildet aber den (wie auch immer zu bewertenden) Status quo durchaus zutreffend ab und dürfte sich aufgrund des spezifischen thematischen Zuschnitts für die meisten Leser:innen daher durchaus als sehr hilfreich erweisen.
Alles eine Frage der charakterlichen Passung?
Immer schon hatten Wissenschaftsratgeber aber auch die Tendenz, Informationsvermittlung mit der Zeichnung eines bestimmten Menschentyps zu verbinden, der für die Wissenschaft besonders gut geeignet sei – um ihrer Leserschaft den Abgleich mit sich selbst zu ermöglichen. „Wie stelle ich fest, ob wissenschaftliche Forschungsarbeit meine Bestimmung ist?“ – diese Frage stellt schon Peter B. Medawar, dessen Ratschläge an einen jungen Wissenschaftler 1979 zunächst auf Englisch, 1984 auch auf Deutsch erschienen sind (Medawar, S. 21). Und die Frage zieht sich bis in die neuesten Ratgeber, die (anders als das oben besprochene Buch von Müller) dazu ansetzen, das Wissenschaftssystem als Ganzes vorzustellen und den Ratsuchenden bei der Entscheidung zu helfen, ob sie sich überhaupt auf eine wissenschaftliche Laufbahn einlassen wollen.
Ein solches Vorgehen hat seine Tücken. Das liegt zunächst daran, dass die Autor:innen bei einem zu großen Zuschnitt mit ihrem Gegenstand schnell überfordert sind, die gebotenen Informationen also nicht die verlässliche Expertise aufweisen können wie in thematisch spezifischeren Ansätzen. Das weitaus bedenklichere Problem allerdings besteht in der Koppelung von Charakterpassung und Wissenschaftsbetrieb. Diese nämlich verleitet dazu, systembedingte Probleme zu individualisieren und eine ähnliche Infantilisierung des wissenschaftlichen ‚Nachwuchses‘ zu betreiben wie das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in seinem Erklärvideo zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG), das die #IchBinHanna-Kritik ausgelöst hatte.
Das Hanna-Video in Romanform
Ein besonders kurioses Beispiel hierfür ist Reinhold Hallers Versuch, das Wissenschaftssystem in Form eines „Ratgeberromans“ vorzustellen. An das berühmte Erklärvideo des BMBF erinnert Hallers Buch schon allein durch seinen volksaufklärerischen Ton – und die Wahl einer fiktiven weiblichen Protagonistin, die sich über die Rahmenbedingungen wissenschaftlichen Arbeitens mit Hilfe ihres Onkels Leo informieren will. Onkel Leo ist dabei unschwer als Alter Ego des Autors zu erkennen, denn er ist als Coach und Berater tätig und hilft Wissenschaftler:innen an Wegscheiden ihrer wissenschaftlichen Karriere. Seine Coachees werden von der Nichte Amisha im Laufe der Handlung exemplarisch interviewt, damit diese die titelgebende ‚Entscheidung‘ treffen kann, ob sie eine Promotion in Angriff nehmen soll oder lieber doch nicht.
Über das Buch hinweg predigt Haller durch die Worte seiner diversen Figuren eine zentrale Kernbotschaft: Wer es in der Wissenschaft zu etwas bringen will, muss vor allem Selbstoptimierung betreiben. Zwar bleibt der Wettbewerb hart, aber zu schaffen ist es auf jeden Fall, wenn man es nur kann, wirklich will… und ein gutes Coaching in Anspruch genommen hat! Obwohl #IchBinHanna im Buch durchaus mehrfach erwähnt wird, reproduziert Haller sämtliche Narrative, die die Aktion kritisiert hat: die Individualisierung struktureller Missstände, die These von der Notwendigkeit des ständigen Personalaustausches (Stichwort „Durchlauferhitzer“) und die Ausblendung existenzieller Nöte. Dies wundert nicht angesichts des Umstands, dass Amisha zwar eine indische Mutter hat, aber ansonsten aus einem dermaßen privilegierten Umfeld kommt, dass sich solche Aspekte leicht ausblenden lassen. Auf dem Familientreffen haben „alle [!] Anwesenden eine akademische Ausbildung genossen oder sie standen mittendrin“ (Haller, S. 18). Niemand hat finanzielle Sorgen, gesundheitliche Beeinträchtigungen, Sorgeverpflichtungen oder Schwierigkeiten, sich in den akademischen Habitus einzufinden beziehungsweise an eine Aufenthaltsgenehmigung für die Promotion zu gelangen.
Hinzu kommt, dass die informationsvermittelnden Passagen, sobald es ins Detail geht, voller Fehler sind. So vermischt Haller etwa in einem sehr groben Schnitzer das in der Verfassung verankerte Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit mit dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz von 2011, das die Befugnisse der außeruniversitären Forschungseinrichtungen regelt (vgl. Haller, S. 103). Das von den Haller selbst eher fernen Fachdisziplinen vermittelte Bild ist ebenso wie seine Aufgabenbeschreibung von Wissenschaftskommunikation („trockene Daten in verständliches oder gar faszinierendes Wissen zu verwandeln“; Haller, S. 13) ist auf erschreckende Weise oberflächlich und irreführend. Die Fachspezifik mancher Perspektiven wird – so zum Beispiel in der Betonung der Eigenständigkeit der Promotion, die es in vielen Laborfächern gar nicht gibt – oft einfach ignoriert. Wer solide Informationen über die Funktionsweise des Wissenschaftssystems haben möchte, um eine fundierte Karriereentscheidung treffen zu können, sollte dringend etwas anderes lesen.
Gaslighting im Gewand von Female Empowerment
Ein zweiter utb-Band von Carla Schriever et al. hat sich unter dem Schlagwort der fEMPOWER auf die Fahnen geschrieben, ‚angehenden Wissenschaftlerinnen‘ Mut zu machen, ihre Ziele zu erreichen. Klar ist: Frauen sind im Wissenschaftssystem an vielen Stellen unterrepräsentiert. Und das hat durchaus strukturelle Ursachen – oder, wie Schriever et al. es ausdrücken – es liegt an der Einbettung der Wissenschaft „in ein kapitalistisches System, welches (hetero- und cis-)sexistische, rassistische, klassistische, ableistische und eurozentrische Perspektiven reproduziert“ (Schriever et al., S. 9).
Mit dem so ausgestellten systemkritischen Impetus ist es aber nicht weit her, wenn man sich bewusst macht, welche Art von Ratgeber das Buch darstellt. Der ständige Empowerment-Duktus mag Geschmackssache sein. Er verdeckt aber vor allem, dass der Ratgeber seine Leserinnen wie unmündige Kinder behandelt – ein Umstand, der schon an den netten Bildchen ersichtlich wird, die die Publikation begleiten. Eine wissenschaftliche Superheldin nach der anderen darf mit einem feministischen Zitat auftreten. Dass die erste namens „Carla“ über ihr T-Shirt als antifaschistische Kämpferin inszeniert wird, macht den hohen (aber sehr schiefen) moralischen Anspruch deutlich.
Von dieser Warte aus ist es so überraschend wie fatal, wenn die Kernbotschaft des Buches ausgerechnet wieder darin besteht, dass es nur auf das Individuum ankommt, das letztlich mehr oder weniger problemlos alle Widerstände überwinden kann, so es sich nur genug anstrengt. Das wird einem nicht zuletzt durch die das Buch begleitenden Reflexionsübungen und über endlose Zitate mantraartig eingetrichtert: „Werde zu deinem*deiner eigenen Held*in und erobere mit deiner ganzen Power die Wissenschaft.“ (Schriever et al., S. 122)
Wer allerdings wirklich benachteiligte Personengruppen empowern will, tut gut daran, ihnen ein realistisches Bild von der Welt zu zeichnen, in der sie sich bewegen. So wichtig der Glaube an die eigenen Fähigkeiten ist: Wenn man Menschen vorgaukelt, eine Finanzierung für die Publikation der eigenen Dissertation zu bekommen, sei angesichts von Dissertationspreisen kein großes Problem, und dazu auffordert, die eigene Arbeit unter Wert zu verkaufen oder gar unbezahlt zu verrichten, weil sich das als „gutes Sprungbrett“ erweisen könne (Schrieber et al., S. 47), agiert alles andere als redlich. Das Buch behandelt 50-Prozent-Stellen für Promovierte als völlig normal (obwohl selbst die DFG-Leitsätze inzwischen für alle Fachbereiche mindestens 65 Prozent vorsehen) und tut so, als könne man zwischen unterschiedlichen Finanzierungsoptionen frei nach den eigenen Bedürfnissen wählen. Anspruch und Inhalt dieses Ratgebers klaffen dermaßen auseinander, dass es weh tut.
Echte Systemkritik
Wie es anders geht, zeigt das einzige aktuelle Buch in der hiesigen Reihe, das nicht aus dem Bereich Wissenschaftscoaching stammt, sondern von drei Wissenschaftler:innen verfasst worden ist – insofern also eher eine Art Peer-Ratgeber darstellt: der Survival-Guide Wissenschaft von Kai Noeske, Benjamin Rott und Katrin Hille. Auch dieser Ratgeber präsentiert eine Tabelle mit Stichpunkten, anhand derer man erkennen können soll, „ob Wissenschaftsbetrieb und ich zusammenpassen“ (Noeske et al., S. 5), und liefert einen breiten Überblick. Allerdings nehmen Noeske et al. ihre Leser:innen als kompetente Erwachsene ernst – wenngleich sie sie ebenfalls leider etwas penetrant mit „Du“ ansprechen.
Das Buch begleitet seine Leserschaft in einem ersten Teil durch alle Schritte der wissenschaftlichen Karriere – angefangen von der Promotion, über die Postdoc-Phase, den Schritt zur Professur bis hin zum Ausstieg aus der Wissenschaft – und bemüht sich um eine umfassende Abdeckung von allem, was die wissenschaftliche Arbeit im frühen 21. Jahrhundert ausmacht: Da geht es nicht nur um Literaturrecherche und Grundqualifikationen, Konferenzen und Publikationen, sondern auch um Fragen der (unbefriedigenden) Work-Life-Balance, der Wissenschaftskommunikation und der Drittmitteleinwerbung, des Bewerbens wie der (unzureichenden) Gleichstellung.
Das Bild, das Noeske et al. von der Wissenschaft als ‚Dschungel‘ zeichnen, ist alles andere als rosig. Die Autor:innen nehmen kein Blatt vor den Mund, wenn sie auf die enormen psychischen und körperlichen sowie finanziellen Belastungen hinweisen, die eine solche Tätigkeit mit sich bringen kann, versuchen aber dennoch ihrer Leserschaft Mut zu machen, um zu ‚emotionaler Unabhängigkeit‘ zu gelangen (Noeske et al., S. 76). Denn dann – so die Logik – ist man auch nicht mehr bereit, alles hinzunehmen, und kann sich gegen akademisches Gaslighting zur Wehr setzen.
Wie notwendig diese Art von Hinweis ist, machen die anderen Beispiele der hier besprochenen Ratgeberliteratur deutlich, die sehr häufig sogar aktiv zum Erhalt der systembedingten Probleme beitragen und damit ihr Publikum keineswegs ‚empowern‘, sondern in seinen Nöten gar nicht erst ernstnehmen. Damit freilich verstoßen sie eklatant gegen die ethischen Standards des Coachings an sich. Dass es hier selbst in den einschlägigen Verlagshäusern offenkundig keine fundierte Qualitätskontrolle gibt, ist bedenklich, darf doch nicht in Vergessenheit geraten, dass die Bücher eine vulnerable Gruppe adressieren, die Orientierung in einem Wissenschaftssystem sucht, das nicht unbedingt an ihrem Wohlergehen interessiert ist. Nicht nur das Wissenschaftssystem ist ein undurchsichtiger Dschungel – die dazugehörige Ratgeberliteratur ist es oft genug auch.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Arbeit / Industrie Methoden / Forschung Universität Wissenschaft
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