Nicole Burzan, Berthold Vogel | Essay | 13.07.2023
Reichtum
Ein Forschungsessay
Rangordnungen und Hierarchien gehören zu den originären Themen der Soziologie. Dennoch haben sich Sozialforschung und gesellschaftswissenschaftliche Expertise in ihrer Geschichte, die mit dem im 19. Jahrhundert einsetzenden Zeitalter der Industrialisierung und Urbanisierung beginnt, nur sehr sporadisch und zögerlich mit Reichtum als sozialer Lage und Position befasst. Den sozialen Verwerfungen und Abkoppelungen, der Armut und dem Abstieg, der Peripherie und den Deklassierten galt und gilt ihre Aufmerksamkeit. Das hängt fraglos mit der Sorge soziologischer Zeitdiagnostik um den inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft und ihrem Bemühen um gesellschaftlichen Ausgleich zusammen. Diese Sorge und der damit verknüpfte Reformimpuls forcierten Sozialenqueten und Wohlfahrtsstaatsforschung. Doch zugleich bleibt es merkwürdig, dass in der Soziologie mit wiederkehrender Regelmäßigkeit – so auch heute wieder – von Polarisierung gesprochen wird, ein Pol dabei aber gänzlich unbeachtet bleibt. Es gibt Ausnahmen, aber sie sind rar. Die „Theorie der feinen Leute“ von Thorstein Veblen[1] etwa oder in neuerer Zeit die profunden Analysen Pierre Bourdieus, die sich mit systematischer Hartnäckigkeit den oberen Etagen der Gesellschaft widmen. Sein prominentes Werk zu den „feinen Unterschieden“ bezieht die Klasse der Reichen nicht nur ein, es analysiert den Zustand der Gesellschaft vielmehr von oben her.[2] Der herrschende Geschmack ist der Geschmack der Herrschenden, und die legitimen Praxen sind die Praxen der sozial Legitimierten. Heute und hierzulande stellt sich die Forschungslage allerdings anders dar. Schon in der Risikogesellschaft von Ulrich Beck gab es keine Reichen, sondern nur Risiken unterschiedlichen Grades,[3] und in den Analysen von Andreas Reckwitz endet die Stufenleiter der sozialen Hierarchie schon in der oberen Mittelschicht[4] – auch eine Form, soziologisch zu kapitulieren.[5]
Wie steht es um die öffentliche Meinung zum Thema Reichtum? Eine Bevölkerungsumfrage ergab, dass subjektive Einschätzungen dazu, ab welchem Einkommen jemand reich ist, sehr deutlich über dem beispielsweise im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung als Reichtumsindikator verwendeten Doppelten oder Dreifachen des Medianeinkommens liegen.[6] „So scheint das Verständnis der Menschen von Einkommensreichtum stark von den öffentlich debattierten extrem hohen Einkommen, wie etwa von Top-Managern oder Spitzensportlern geprägt zu sein.“.[7] Reich sind demgemäß Fußball- oder Popstars, nicht aber der Sparkassendirektor in der Kreisstadt, der zugleich noch Präsident des Golfclubs und der Rotarier ist. Und diese Vorstellung scheinen Sozialwissenschaftler*innen zu teilen. Das zeigt die weiterhin große Distanz zwischen Wissenschaft und Vermögen.
Diese gesellschaftliche wie wissenschaftliche Distanz hinsichtlich der Reichtumsfrage kann verschiedene Gründe haben. Dazu gehören erstens grundsätzliche Perspektiventscheidungen, wie beispielsweise die, sich prioritär mit benachteiligten Lagen beschäftigen zu wollen.[8] Auffällig dabei ist, dass die „soziale Frage“ stets von Armut und Benachteiligung her gedacht wird, anstatt die Analyse bei Reichtum und Einfluss anzusetzen. Zweitens ist für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Reichtum zu klären, ab wann man bessergestellten Lagen eine spezifische Qualität attestieren kann, die mit Macht und Einfluss einhergeht. Schließlich stehen Forschende vor Datenerhebungsproblemen: Reiche legen ihr Vermögen nicht unbedingt gerne offen oder fühlen sich den (oft aus der Mittelschicht stammenden) Forschenden gegenüber habituell fern. Jüngst gibt es allerdings einige Bestrebungen, das Thema Reichtum stärker zum Gegenstand wissenschaftlicher und sozialstatistischer Analysen zu machen. So wurde das Sample des Sozioökonomischen Panels (SOEP) um Personen mit hohem Vermögen (SOEP-P) erweitert.[9] Als weitere Beispiele sind ein Forschungsschwerpunkt „Vermögen und soziale Ungleichheit“ am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Teile des Jenaer Sonderforschungsbereichs „Strukturwandel des Eigentums“ oder die jüngst aufgelegte Förderlinie „Perspektiven auf Reichtum“ der Volkswagenstiftung zu nennen.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber auch, dass aus soziologischer Perspektive am Reichtum nicht allein die monetäre Verteilung von Einkommen und Vermögen interessiert – wenngleich die Vermögenskonzentration sowohl weltweit als auch in Deutschland sehr hoch ist: In Deutschland besitzen die oberen zehn Prozent rund zwei Drittel des Nettovermögens. Alleine das oberste Prozent hält hierbei rund ein Drittel.[10] Zudem hat die Vermögensungleichheit in den letzten Jahrzehnten erheblich zugenommen.[11] Angesichts solcher Verteilungen drängen sich Fragen nach Gerechtigkeit und Chancen auf Reichtumserwerb auf.[12] Soziologisch interessiert darüber hinaus allerdings auch, welche anderen Aspekte des gesellschaftlichen Lebens sowohl individuell als auch auf kollektiv-institutioneller Ebene mit Reichtum verknüpft sind, also beispielsweise Machtpositionen, typische Mentalitäten und Vorstellungen über das soziale Zusammenleben, Beziehungsformen oder Wege der Produktion und Reproduktion von Reichtum.[13] Es geht eben nicht um die sozialstatistische Festlegung einer Gruppe ‚Reicher‘, sondern darum, was Reichtum und Reichtumsverteilung lebensweltlich und gesellschaftsstrukturell bedeuten.
Der vorliegende Essay leistet in dieser ebenso komplexen wie defizitären Gemengelage einen knappen Beitrag zu einer Soziologie des Reichtums beziehungsweise der oberen und herrschenden Klassen. Zu diesem Zweck gehen wir erstens darauf ein, welche Aspekte bei der Definition von ‚Reichsein‘ zu beachten sind. Zweitens skizzieren wir Schlaglichter auf die Sozial- und Lebenslage Reichtum. Drittens plädieren wir abschließend für eine zeitdiagnostisch und gesellschaftsanalytisch orientierte Soziologie des Reichtums.
1. Reichtumskonzepte
Lebenslagen können sich stark unterscheiden, je nachdem, ob man für ihre Analyse primär das Einkommen zugrunde legt oder zusätzlich Vermögenswerte und weitere Merkmale berücksichtigt. Je umfangreicher und je differenzierter die dafür erforderlichen Informationen sind, desto schwieriger ist es, robuste Daten zu erheben. Seit dem ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2001 wird zumindest der Einkommensreichtum regelmäßig erfasst – 2021 erschien die sechste Fassung. Demzufolge gilt als reich, wer mehr als 200 oder 300 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat (das sind ca. 7 beziehungsweise 2 % der Bevölkerung[14]). Vermögenswerte können in unterschiedlicher Form vorliegen. Dabei sind erst bei Vermögensmillionär*innen (im SOEP-P die reichsten 1,5 % der Verteilung) Betriebsvermögen und nicht selbstgenutzte Immobilien die dominanten Formen; ansonsten haben zum Beispiel selbstgenutzte Immobilien und Geldanlagen eine größere Bedeutung in der Zusammensetzung der Vermögen.[15] Konzepte multipler Lebenslagen beziehen neben Einkommen und Vermögen weitere Aspekte wie die Wohnfläche oder eine unbefristete Arbeitsstelle ein.[16] Solche Ansätze differenzieren dann auch innerhalb der privilegierteren Lagen. So unterscheiden Groh-Samberg et al.[17] zwischen der oberen Mitte und Reichtumslagen (zusammen ca. 20 Prozent). Schröder et al. benennen Abschnitte in der Nettovermögensverteilung jenseits der unteren Hälfte als ‚obere Mittelschicht‘ (51.–75. Perzentil), ‚Wohlhabende‘ (76.–98,5. Perzentil) und ‚Millionär*innen‘ (oberste 1,5 %). Setzt man Reichtum bei denjenigen an, die mehr als das Doppelte des mittleren Einkommens zur Verfügung haben, lässt sich also sagen: Reich ist noch nicht gleich reich, auch innerhalb dieses Segments gibt es erhebliche Unterschiede. Entsprechend definiert dann auch beispielweise Quinz[18] nur diejenigen als reich, für deren Gesamtvermögen das Erwerbseinkommen eine untergeordnete Rolle spielt.
Strukturell sind reiche Menschen sicherlich „oben“ in der Gesellschaft, aber ist jeder, der oder die „oben“ ist, auch mächtig, einflussreich und dominant? Repräsentieren Reiche die herrschende Klasse? Die vorangegangenen Überlegungen deuten bereits an, dass dies auch davon abhängt, wie eng oder weit man Reichtum fasst. Die von ihrem Erwerbseinkommen unabhängigen Reichen werden, etwa als Inhaber*innen beziehungsweise Erben größerer Familienunternehmen, sicherlich sowohl wirtschaftlich als auch politisch Einfluss nehmen. Selbst in kleinerem Maßstab, etwa als Privatvermieter*in (der*die zumeist auch unabhängig von den Mietgewinnen privilegierteren Lagen angehören), kann ungleichheitsreproduzierende Macht auf Mieter*innen ausgeübt werden.[19] Geld allein reicht letztlich allerdings nicht aus, um herrschende Klassen soziologisch näher zu bestimmen. Das lässt sich etwa an Bourdieus Modell des sozialen Raums sehen, das neben dem ökonomischen auch kulturelles und soziales Kapital als eigenständige Dimensionen fasst, um das Ungleichheitsgefüge zu charakterisieren.[20] Materieller Reichtum ist somit ein wichtiger Teil ungleichheitsrelevanter Ressourcen, muss soziologisch allerdings in einen größeren Kontext gestellt werden.
2. Was charakterisiert reiche Lebenslagen?
Gibt es die sprichwörtliche Wahlverwandtschaft zwischen Reichtum, Erfolg und Schönheit? Überspitzt ausgedrückt sind Reiche in Deutschland sozialstrukturell vor allem Männer aus Westdeutschland ohne Migrationshintergrund, die 50 Jahre oder älter und als Selbstständige aktiv in das Erwerbsleben eingebunden sind.[21] Das ist sicher nur ein Ausschnitt reicher Lebenslagen, allerdings einer mit erheblichem Einfluss. Wenn wir jedoch erneut mit Bourdieu davon ausgehen, dass Privilegierte die Macht haben, ihren Geschmack als den legitimen durchzusetzen,[22] dann setzen sie im weiteren Sinne auch ästhetische Maßstäbe und verfügen zudem über die Mittel, entsprechende Güter und Dienstleistungen, wie den Maßanzug oder die Nasenkorrektur, auch zu bezahlen. Indem reiche Menschen Maßstäbe setzen, gelingt es ihnen, nicht nur ökonomische, sondern auch soziale und kulturelle Dominanz auszustrahlen.
Die Ungleichheitsforschung geht entsprechend in der Regel davon aus, dass mit der sozialen Position auch typische Einstellungs- und Handlungsmuster verknüpft sind.[23] Einmal mehr hängen konkrete empirische Befunde davon ab, wie man die privilegiertere Position beziehungsweise den Reichtum konzeptionell fasst. So charakterisiert etwa Hartmann Eliten – also Menschen, die qua Amt oder Eigentum gesellschaftliche Entwicklungen beeinflussen können – als Abgehobene, deren Blick auf die Gesellschaft durch die Distanz zwischen ihnen und der Normalbevölkerung geprägt ist.[24] Deutlich häufiger als der Durchschnitt halten sie die in Deutschland existierenden sozialen Unterschiede für gerechtfertigt. Wenn sie selbst bereits in Wohlstand oder Reichtum aufgewachsen waren, zeigt sich diese Haltung noch ausgeprägter.[25] Grundsätzlich – so Hartmann – erkennen sie zwar an, dass die familiale Herkunft ihnen Startvorteile verschafft, doch eine deutliche Mehrheit vertritt die Ansicht, dass persönliche Fähigkeiten und Bildung bestimmen, was man im Leben erreichen kann.[26] Kurzum, sie führen ihre gehobene Position in erster Linie auf die eigene Leistung zurück.
Der stärker psychologisch geprägte Ansatz von Leckelt et al. verknüpft Reichtum mit Persönlichkeitsmerkmalen wie höherer Risikobereitschaft, emotionaler Stabilität, Offenheit, Extraversion und Gewissenhaftigkeit.[27] Dieses Profil war noch stärker bei denjenigen ausgeprägt, die ihr Vermögen nicht im Wesentlichen geerbt, sondern selbst erworben hatten. In dieser Gemengelage macht Geld durchaus auch glücklich, zumindest stellen Schröder et al. fest, dass die allgemeine Lebenszufriedenheit von Millionär*innen (obere 1,5 % in der Nettovermögensverteilung) deutlich über der der anderen Gruppen liegt – und zwar auch über der der Wohlhabenden.[28] Kapelle et al. weisen darüber hinaus auf die Bedeutung von Paarbeziehungen hin: So erhöhte insbesondere der Anstieg gemeinsamen Vermögens die Lebenszufriedenheit der Ehepartner. [29]
Bereits diese Schlaglichter geben Hinweise auf die Prozesse des Reichwerdens. Je nachdem, ob Reichtum selfmade oder geerbt ist, werden graduelle Unterschiede innerhalb der Gruppe der Reichen sichtbar. Ein großer Teil des Vermögens in Deutschland wird vererbt,[30] wobei, ganz im Sinne des sogenannten Matthäus-Effekts (‚Wer hat, dem wird gegeben.‘), im Jahr 2017 fast die Hälfte aller Erbschafts- und Schenkungssummen an die reichsten 10 % der Begünstigten ging.[31] Insofern spricht sehr viel dafür, mit Reichtum einhergehende Aspekte nicht als individuelle Merkmale zu fassen, die in einer Momentaufnahme sichtbar gemacht werden können, sondern sie in ihrer Prozesshaftigkeit, als Feld sozialer und insbesondere familialer Beziehungen zu betrachten. Bestimmte habituell geprägte Muster und Selbstverständlichkeiten werden bekanntlich bereits in der familialen und schulischen Sozialisation erworben und prägen Ressourcen (etwa kulturelles oder soziales Kapital) sowie Entscheidungen, die auch für die weitere Berufslaufbahn relevant sind. Auch Generationen- und Geschlechterarrangements sowie engere Sozialbeziehungen (vulgo: die Familie) spielen hier eine Rolle. Und weil darüber hinaus relevant ist, in welcher wirtschaftlichen und wohlfahrtsstaatlichen Lage beispielsweise ein Generationenwechsel im Familienunternehmen ansteht, ist auch der generelle soziale Wandel als prozessförmiger Aspekt mit einzubeziehen – insbesondere wenn, wie Neckel betont, in der Entwicklung zur kapitalistischen Marktgesellschaft Reichtum zu einer Wertkategorie an sich wird, die nicht eng an Leistung gekoppelt ist.[32]
Mit Nachfolgeregelungen in Familienunternehmen ist auch die Frage der intergenerationalen Reproduktion von Reichtum angesprochen. Sehen Kumkar et al. es für die Mittelschicht als charakteristisch an, dass sie beständig in ihren Status investieren muss, um ihn zu sichern, sind reiche Familien demgegenüber zwar in einer anderen Situation.[33] Dennoch geht es auch ihnen um die Weitergabe beispielsweise habitueller Selbstverständnisse, und selbst gut betuchte Familienunternehmen können in Krisen geraten, wie wir, wenn auch auf fiktionaler Ebene, schließlich schon seit den Buddenbrooks wissen.[34] Auch die Medien widmen sich gelegentlich recht gerne Abstiegen, die weit oben in der Gesellschaft beginnen und Verfallsnarrative möglich machen. So schrieb etwa das Manager Magazin, die Industriellenfamilie Quandt habe seit dem Tod von Herbert Quandt 1982 keine zupackende Unternehmerpersönlichkeit mehr hervorgebracht, die das Erbe zusammenhalte.[35] Die empirisch orientierte Literatur zu Nachfolgeregelungen in Unternehmen macht deutlich, dass Generationenwechsel auch für erfolgreiche Unternehmen keine Selbstläufer sind, bei denen sich die Nachrückenden bequem ins ‚gemachte Nest‘ setzen.[36] Generationen- und Familienbeziehungen beinhalten in diesen Regionen des sozialen Raums immer auch Investitionsfragen, deren Umsetzung mehr oder manchmal auch weniger glücken kann.
Die Autorin und der Autor dieses Beitrags nehmen das Thema Reichtum als gesellschaftliche, mit materiellen und kulturellen Ressourcen ausgestattete Position und als soziale und familiäre Beziehung in den Blick. In einem von der VW-Stiftung geförderten Kooperationsprojekt forschen sie zu intergenerationalen Perspektiven auf die familiale (Re-)Produktion von Reichtum (Laufzeit 2023–2026). Um Bildungs- und Berufswege im Familienkontext, Mentalitäten und Handlungsstrategien näher kennenzulernen und so den Prozesscharakter von Reichtum als Feld sozialer Beziehungen auszuloten, werden Interviews mit Beteiligten aus zwei Generationen reicher Familien geführt.[37] Der mit dem Projekt verfolgte Ansatz ist somit insofern innovativ, als er die materielle Lage des Reichseins unter besonderer Berücksichtigung sozialer Beziehungen analysiert und nach Gesellschaftsbildern, Haltungen und Mentalitäten fragt, die Reiche auch in familiären Kontexten erwerben, reproduzieren oder verändern.
3. Die gesellschaftliche Bedeutung von Reichtum – ein Plädoyer für die soziologische Reichtumsforschung
Es gibt mindestens zwei grundsätzliche Legitimationsnarrative für soziale Ungleichheiten und damit auch für Reichtum. Das erste besagt, dass Gesellschaften zwar stratifiziert, unter Bedingungen von Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit jedoch grundsätzlich durchlässig sind. Jede*r ist dann ihres* seines Glückes Schmied, denn bei entsprechender Leistungsfähigkeit und -bereitschaft kann der soziale Aufstieg prinzipiell gelingen. Meritokratische Verhältnisse erlauben es nach dieser Lesart zudem, dass gesellschaftlich wichtige Positionen von fähigen Personen besetzt werden. Die zweite Legitimationserzählung besagt, dass ökonomische Ungleichheit wachstumsstimulierend wirkt, so dass, absolut betrachtet, auch der Lebensstandard der relativ gesehen ärmeren Bevölkerung immer weiter steigt. Die Reichen beziehungsweise diejenigen, die es nach oben geschafft haben, treiben den sozialen und materiellen Fortschritt einer Gesellschaft an. Der Erfolg der Reichen kommt auf diese Weise allen Gesellschaftsmitgliedern früher oder später zugute. Allerdings füllt die Fachliteratur, der zufolge Chancengleichheit in Bildung und Beruf eben nicht gegeben ist, ganze Bibliotheken. Stichworte sind hier beispielsweise der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildung, die Vermögensakkumulation oder der Gender Pay Gap. Zudem sind die Realeinkommen der unteren Einkommensgruppen in Deutschland in den letzten Jahren rückläufig, und Faktoren wie die Covid 19-Pandemie haben soziale Ungleichheiten weiter verschärft.[38] Große und stetig steigende Einkommens- und Vermögensungleichheiten haben daher das Potenzial, gesellschaftliche Fliehkräfte auszulösen. Hinzu kommen katalysatorische Effekte, etwa durch Lobbyarbeit, die darauf zielt, den Status quo – zum Beispiel niedrige Erbschaftssteuern – zu erhalten, oder die Besetzung begehrter Positionen nach Maßgabe habitueller Nähe. Dabei geht es nicht um individuelle Eigenschaften Reicher – wie das klischeebehaftete Sprichwort ‚Geld verdirbt den Charakter‘ andeutet –, sondern um strukturelle Zusammenhänge. Selbst wenn Reiche Anderen Gutes tun wollen, beispielsweise durch Spenden oder Stiftungen, wird die Ausrichtung dieser ‚guten Werke‘ eben nicht in einem demokratischen Prozess ausgehandelt, sondern die Spender*innen entscheiden nach den von ihnen gesetzten Maßstäben über die Förderungswürdigkeit bestimmter Projekte. Das muss nicht, kann aber der Stärkung und Durchsetzung wirtschaftlicher und politischer Interessen dienen und kulturelle Deutungshoheit festigen. Weiterhin wirken sich unterschiedliche Lebenswirklichkeiten auch räumlich aus, beispielsweise in Gentrifizierungsprozessen oder wenn Gated Communities entstehen, die die Segregation befördern. All diese Beispiele zeigen, dass große Einkommens- und Vermögensunterschiede soziale Durchlässigkeit im Sinne der Leistungsgerechtigkeit und die demokratische Aushandlung von Werten und Interessen gefährden können. Dabei sind nicht alle Reichen an der Bewahrung des Status quo interessiert. Beispielsweise gibt es mit der Gruppe ‚taxmenow‘ einen Zusammenschluss von Millionär*innen, die sich dafür einsetzen, stärker besteuert zu werden.[39] Es wird sich zeigen, wie durchsetzungsstark solch ein Vorstoß ist, gerade gegenüber der für die Öffentlichkeit weniger sichtbaren, aber nichtsdestoweniger wirkmächtigen Lobbyarbeit der Statusbewahrenden.
Was können wir festhalten? Worauf sollte sich eine Soziologie des Reichtums konzentrieren? Zunächst spricht mit Blick auf Gesellschaftsdiagnostik und Sozialstrukturanalyse viel dafür, die Gesellschaft sehr viel stärker, als es bislang der Fall ist, von oben her zu denken. Mehr Mut zur Reichtumsforschung – konzeptionell und empirisch. Der Hinweis, dass der Zugang zum Feld, also zu den oberen Rängen der Gesellschaft, wo Reichtum und Vermögen konzentriert sind, schwierig ist, ist nachvollziehbar, sollte aber kein Grund dafür sein, einen wesentlichen Teil der Gesellschaft dauerhaft aus der Sozialforschung auszusparen. Das Zugangs-Argument als eine Art beständiger Exkulpation sozialstruktureller Enthaltsamkeit gegenüber den oberen Rängen der Gesellschaft heranzuziehen, scheint uns problematisch. Schließlich könnte es umgekehrt doch gerade reizvoll sein, neue und interessante empirische Wege zu finden, um zu einer aussagekräftigen Reichtumsforschung zu kommen, zumal von Sombart über Halbwachs bis Bourdieu durchaus konzeptionell überzeugende Angebote vorliegen. Als Beispiele aus der aktuelleren Diskussion im deutschsprachigen Raum wären zudem die typologischen Überlegungen Imbuschs[40] oder die aufschlussreichen Studien von Mäder[41] zu nennen, die bislang allerdings weitestgehend für sich stehen.
Die guten Gründe dafür, Gesellschaft stärker von oben her zu denken, liegen jedoch weniger in der Erforschung unbekannter Zonen der Sozialstruktur, sondern vielmehr darin, dass die Thematisierung von Reichtum Fragen der Macht und Durchsetzungsfähigkeit sowie der Verantwortung und gesellschaftlichen Veränderungskraft nicht nur aufwirft, sondern auch noch einmal in ein anderes Licht stellt. Gerade in Zeiten grundlegender wirtschaftlicher, kultureller und ökologischer Transformationen ist die Perspektive auf diejenigen, die Ressourcen akkumulieren sowie in erheblichem Maße für sich nutzen und verbrauchen, von eminenter Bedeutung. Perspektiven sozialökologischer Transformation dürfen sich nicht alleine auf soziale Flankierungen und Balancen für die Unter- und Mittelschicht begrenzen, sondern müssen auch die Verantwortung und die Mentalitäten der Oberschicht adressieren. Reichtumsforschung ist in diesem Sinne weit mehr als Sozialstrukturanalyse. Das gilt schließlich noch in einer anderen Hinsicht. Reichtum bedroht qua Verfügungsgewalt nicht nur die Legitimität demokratischer Strukturen, sondern er provoziert in erheblichem Maße auch Kulturen des Ressentiments, die einer Demokratie abträglich sind. Solche Kulturen des Ressentiments finden sich zum einen aufseiten der Reichen beziehungsweise der sozialen Oberschichten, die staatliche Aktivitäten grundsätzlich und ausschließlich als Belastung für die „Leistungsträger“ der Gesellschaft zu bewerten vermögen. Insbesondere aus den Mittelschichten etabliert sich zum anderen eine von Ressentiments getriebene Elitenkritik, die den demokratischen Staat und seine Institutionen wiederum ausschließlich als Projekt der Oberschichten betrachtet. Die Corona-Pandemie bot reichlich Anschauungsmaterial für diese Ressentiments, und auch die Debatten und Konflikte um Klimaschutz verlaufen oft nach diesem Muster. Gegen diese Kulturen des Ressentiments gilt es eine soziologische Forschung zu entwickeln, die einen klaren Blick auf Macht, Herrschaft und soziale Beziehungen wirft und zugleich auch Strukturen und Mentalitäten sozialer Verantwortung beleuchtet. Es ist Zeit für eine soziologisch informierte Reichtumsforschung, die die Lebensrealitäten, die Familienwirklichkeiten und die Gesellschaftsbilder der Oberschichten zum Thema macht.
Fußnoten
- Thorstein Veblen, Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen (1899), Frankfurt am Main 1997.
- Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1987, aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Achim Russer.
- Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986.
- Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen: Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019.
- Natürlich gibt es Ausnahmen, die die Regel bestätigen: Im Einzelnen gibt es, teils in nur losem analytischen Bezug auf gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen, nämlich durchaus Forschungen zu privilegierten Lagen, etwa in der Vermögensforschung (z.B. Thomas Druyen, Verantwortung und Bewährung. Eine vermögenskulturelle Studie, Wiesbaden 2012; Miriam Ströing, Reichtum und gesellschaftliches Engagement in Deutschland, Wiesbaden 2015; Mike Savage / Chunling Li, Introduction to thematic series “new sociological perspectives on inequality“, in: The Journal of Chinese Sociology 8 (2021), Artikel 7; Lisa A. Keister / Hang Y. Lee / Jill E. Yavorsky, Gender and Wealth in the Super Rich: Asset Differences in Top Wealth Households in the United States, 1989–2019, in: Sociologica 15 (2021), 2, S. 25–55). Untersuchungen zu Erbschaften und Schenkungen (z.B. Thomas Leopold / Thorsten Schneider, Intergenerationale Vermögenstransfers und soziale Ungleichheit, in: Peter A. Berger / Karsten Hank / Angelika Tölke (Hg.), Reproduktion von Ungleichheit durch Arbeit und Familie, Wiesbaden 2011, S. 49–72; Jens Beckert, Erben in der Leistungsgesellschaft, Frankfurt 2013; Julia Friedrichs, Wir Erben. Warum Deutschland ungerechter wird, Berlin 2015) sind dort ebenso vorhanden wie etwa zu Unternehmern (Isabell Stamm, Unternehmerfamilien, Opladen 2013.; Heiko Kleve / Tobias Köllner (Hg.), Soziologie der Unternehmerfamilie, Wiesbaden 2019) oder ihren „Gattinnen“ (Tomke König, Gattinnen: Die Frauen der Elite, Münster 2017). Forschungen zu Eliten nehmen nicht allein Ressourcen, sondern auf gesellschaftlichen Einfluss in den Blick (z.B. Michael Hartmann, Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden, Frankfurt 2018, S. 16; Olav Korsnes et. al. (Hg.), New Directions in Elite Studies, London 2018; Hannelore Bublitz, Die verborgenen Codes der Elite, Bielefeld 2022.); siehe generell etwa auch Nikolaus Dimmel et. al. (Hg.), Handbuch Reichtum. Neue Erkenntnisse aus der Ungleichheitsforschung, Innsbruck 2017, Eva Maria Gajek / Anne Kurr / Lu Seegers (Hg.), Reichtum in Deutschland. Akteure, Räume und Lebenswelten im 20. Jahrhundert, Göttingen 2019.
- Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Lebenslagen in Deutschland. Der sechste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2021, online unter: https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/SharedDocs/Downloads/Berichte/sechster-armuts-reichtumsbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=6 (10.07.2023).; Jule Adriaans et. al., Einstellungen zu Armut, Reichtum und Verteilung in sozialen Lagen in Deutschland. ARB-Survey 2019, herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Bonn 2021.
- Ebd., S. 37.
- Z.B. Nicole Mayer-Ahuja / Oliver Nachtwey, Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft, Berlin 2021.
- Carsten Schröder et. al., MillionärInnen unter dem Mikroskop: Datenlücke bei sehr hohen Vermögen geschlossen – Konzentration höher als bisher ausgewiesen, in: DIW Wochenbericht 29 (2020), S. 511–521.
- Ebd. S. 517. Laut Global Wealth Report 2022: 21 (https://www.credit-suisse.com/about-us/en/reports-research/global-wealth-report.html, Aufruf 21.5.2023) besaßen 2021 die weltweit reichsten 1% einen Anteil von 46% des weltweiten Vermögens.
- Hartmut Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2017; Thomas Piketty, Eine kurze Geschichte der Gleichheit, München 2022, aus dem Französischen von Stefan Lorenzer..
- Zur Wahrnehmung von Reichtum siehe auch Anne Kurr, Verteilungsfragen. Wahrnehmung und Wissen von Reichtum in der Bundesrepublik (1960–1990), Frankfurt am Main 2022, Philipp Korom, The deserving or undeserving rich? New survey evidence on multimillionaire households in Europe, in: SN Social Sciences 3 (2023), 1, Paper 8.
- Siehe zur Rolle des Rechts in diesem Kontext auch Katharina Pistor, Der Code des Kapitals. Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft, Berlin 2020, aus dem Amerikanischen von Frank Lachmann; Jens Beckert, Durable Wealth: Institutions, Mechanisms, and Practices of Wealth Perpetuation, in: Annual Review of Sociology 48 (2022), S. 233–255.
- Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Lebenslagen in Deutschland, S. 503 f
- Schröder et. al., MillionärInnen unter dem Mikroskop, S. 516.
- Z.B. Olaf Groh-Samberg / Theresa Büchler / Jean-Yves Gerlitz, Dokumentation zur Generierung Multidimensionaler Lagen auf Basis des Sozio-Oekonomischen Panel, Bremen 2021.
- Ebd., S. 23 f.
- Hannah Quinz, Die Weltsicht der „working rich“, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 47 (2022), S. 155–174.
- Philipp Kadelke, Private Vermieter*innen in Deutschland. Kleine Gruppe mit großer Wirkung?, in: Paula Irene Villa-Braslavsky, Polarisierte Welten. Verhandlungen des 41. Kongresses der DGS 2022, i. E.
- Bourdieu, Die feinen Unterschiede
- Schröder et. al., MillionärInnen unter dem Mikroskop, S. 520 mit Bezug auf die oberen 1,5 % der Nettovermögensverteilung.
- Bourdieu, Die feinen Unterschiede
- Siehe zu politischen Einstellungen Vermögender z. B. H. Lukas R. Arndt, Varieties of Affluence: How Political Attitudes of the Rich Are Shaped by Income or Wealth, in: European Sociological Review 36 (2020), 1, S. 136–158.
- Hartmann, Die Abgehobenen, S. 16.
- Ebd., S. 178 f.
- Ebd., S. 180.
- Marius Leckelt et. al., The personality traits of self-made and inherited millionaires, in: Humanities and Social Sciences Communications 9 (2022), S. 94.
- Schröder et. al., MillionärInnen unter dem Mikroskop, S. 518.
- K Nicole Kapelle et. al., My Wealth, (Y)Our Life Satisfaction? Sole and Joint Wealth Ownership and Life Satisfaction in Marriage, in: European Journal of Population 38 (2022), S. 811–834.
- Schröder et. al., MillionärInnen unter dem Mikroskop, S. 520.
- Kira Baresel et. al., Hälfte aller Erbschaften und Schenkungen geht an die reichsten zehn Prozent aller Begünstigten, in: DIW Wochenbericht 5 (2021), S. 64–71.
- Sighard Neckel, Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft, Frankfurt am Main 2008.
- Nils C. Kumkar et. al., Die beharrliche Mitte – wenn investive Statusarbeit funktioniert, Wiesbaden 2022.
- Siehe zu Familiendynastien auch David Landes, Die Macht der Familie. Wirtschaftsdynastien in der Weltgeschichte, München 2006.
- Dietmar Student / Ursula Schwarzer, Erben ohne Fortune, in: Manager Magazin 4 (2006), online unter: https://www.manager-magazin.de/unternehmen/erben-ohne-fortune-a-9b3a75fa-0002-0001-0000-000046360898 (10.07.2023).
- Kleve/Köllner (Hg.), Soziologie der Unternehmerfamilie.
- Siehe auch die Projekthomepages https://su.sowi.tu-dortmund.de/forschung/forschungsprojekte/volkswagenstiftung-projekt-reichtum-als-soziale-beziehung/ und https://sofi.uni-goettingen.de/projekte/reichtum-als-soziale-beziehung/ (10.07.2023)
- Hajo Holst / Agnes Fessler / Steffen Niehoff, Covid-19, Ungleichheit und (Erwerbs-)Arbeit – zur Relevanz sozialer Klasse in der Pandemie, in: Zeitschrift für Soziologie 51 (2022), 1, S. 41–65.
- Siehe https://www.taxmenow.eu/ (10.07.2023)
- Vgl. Peter Imbusch, Peter, Reichtum als Lebensstil. Zur Soziologie der sozialen Distanz, in: Ernst-Ulrich Huster / Fritz Rüdiger Volz (Hg.), Theorien des Reichtums. Münster 2002, S. 213–248.
- Ueli Mäder / Ganga Jey Aratnam / Sarah Schilliger, Wie Reiche denken und lenken. Reichtum in der Schweiz: Geschichten, Fakten, Gespräche, Zürich 2010.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.
Kategorien: Geld / Finanzen Gesellschaft Politik Soziale Ungleichheit Wirtschaft Wissenschaft
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