Stephan Moebius | Rezension |

René Worms

Von der Neuentdeckung eines vergessenen Gründers der Soziologie

Frédéric Audren / Massimo Borlandi:
Les Études Sociales, Nr. 161-162, 2015. La sociologie de René Worms (1869-1926)
Frankreich
Paris 2015: Société d’économie et de science sociales/CAIRN
288 S., EUR 25
ISBN ISSN 0014-2204

Die Zeitschrift Les Études Sociales der Société d’économie et de science sociales, die jedes Jahr zwei Mal erscheint, widmete sich 2015 in einer Doppelausgabe ausführlich dem französischen Soziologen René Worms. Um gleich so viel vorweg zu nehmen: es handelt sich um eine einzigartige Sammlung an instruktiven Aufsätzen, die viel Neues über die Geschichte der französischen Soziologie und insbesondere über deren zentralen Protagonisten René Worms ans Licht bringt. Warum ist Worms zentral? Wie die Lektüre der Aufsätze zeigt, unternahm Worms enorme Anstrengungen für die Institutionalisierung und Professionalisierung der Soziologie in Frankreich, die uns aber diesseits des Rheins bislang nahezu verborgen blieben. Im englischsprachigen Raum findet Worms immerhin mehr Aufmerksamkeit, sei es etwa in Johan Heilbrons unlängst erschienenem Buch French Sociology,[1] in Terry N. Clarks Prophets and Patrons[2] oder in Robert L. Geigers Aufsatz über die Institutionalisierungsphasen in der Frühzeit der französischen Soziologie.[3] Aber selbst in frankophonen Büchern zur Geschichte der Soziologie wird Worms oftmals nur eine Nebenrolle zugedacht, insbesondere im Vergleich zu Durkheim und dessen Schülern. Aus deren Sicht war Worms ein nicht ernstzunehmender Spinner, dessen Organizismus – Worms hatte 1896  Organisme et Société publiziert – dem Aufbau der Soziologie eher hinderlich als förderlich schien. Dennoch: Wenn man die Geschichte der Soziologie in Frankreich allein mit dem Fokus auf die durkheimiens erzählt, ist das zwar ein beliebtes Narrativ, bleibt aber dennoch schräg – auch wenn man in Rechnung stellt, dass die durkheimiens soziologisch substanziellere Beiträge als Worms geliefert haben mögen. Dessen Institutionalisierungsleistungen sollten schon deshalb nicht unerwähnt bleiben, weil sie auch mehr oder minder indirekt Aufschluss über die Konstitutionsbedingungen der Soziologie der durkheimiens geben, deren klare Konturen sich ja bekanntlich erst im Rahmen von Distinktionsbemühungen, Positions- und Repräsentationskämpfen herausbildeten.

Worms beginnt in jungen Jahren mit viel Geschick, die Soziologie in Frankreich mit aufzubauen und sie dabei mit anderen, internationalen Institutionalisierungsbemühungen in Verbindung zu bringen oder diese erst anzustoßen. Zu seinen Leistungen hinsichtlich der Institutionalisierung der Soziologie zählt zunächst die Gründung der Revue internationale de sociologie, deren erste Ausgabe Anfang 1893 erscheint. Während etwa, wie Antoine Savoye und Frédéric Audren in ihrer biographischen Skizze zu Beginn der Ausgabe darstellen, die Réforme sociale, die Zeitschrift der Anhänger LePlays, die neue Revue internationale de sociologie willkommen heißt, verweigert Durkheim seine Mitarbeit mit jemandem, „der noch nicht einmal einen wissenschaftlichen Titel vorweisen könne“ (vgl. S. 7f.). Das Rennen um die Vorherrschaft in dem sich im Aufbau befindenden soziologischen Feld ist in den 1890er-Jahren bereits voll im Gange. Man erinnere sich: 1898 kam die erste Ausgabe der L’Année Sociologique heraus, die Zeitschrift der Durkheim-Schule.

Nahezu zeitgleich mit der Revue ruft Worms im Juli 1893 das Institut International de Sociologie (IIS) ins Leben. Er selbst wird Generalsekretär, John Lubbock Präsident, andere im Vorstand sind Albert Schaeffle, Gabriel Tarde oder Enrico Ferri. Schnell wächst die Vereinigung, bald hat sie hundert Mitglieder und an die zweihundert Assoziierte aus unterschiedlichen Disziplinen und vielen Orten der Welt: beispielsweise aus Österreich Ludwig Gumplowicz und Carl Menger, aus Deutschland Wilhelm Wundt, Georg Simmel und Ferdinand Tönnies, aus England Alfred Marshall und aus den USA Thorstein Veblen und Franklin Giddings.

Ebenso mitgliederstark wird Worms’ nächstes Unternehmen Worms sein: Die 1895 gegründete nationale Vereinigung Société de sociologie de Paris (SSP) wird bis zum Ende ihres Bestehens 1952 an die nahezu siebenhundert Mitglieder zählen. Umso erstaunlicher ist es, dass diese Vereinigung bislang nahezu unbekannt blieb. Aus diesem Grund soll dem Beitrag von Cécile Rol, die sich ausführlich mit der Geschichte der SSP auseinandersetzt, an dieser Stelle eingehender Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Cécile Rol rekonstruiert in ihrem Beitrag (S. 119–173) vor dem Hintergrund mühevoller Recherchearbeit den Beginn, die Zusammensetzung, die Aktivitäten und den Niedergang der Société de sociologie de Paris und eröffnet damit Einblicke in ein nahezu unbekanntes Feld der Geschichte der Soziologie in Frankreich. Worms’ Absicht zur Gründung der SSP geht zurück ins Jahr 1892, in die Zeit der Idee für die Revue internationale, und ist von dem Wunsch getragen, die erste, 1872 von Émile Littré ins Leben gerufene Société de sociologie zu erneuern (vgl. S. 121). Darüber hinaus erhofft man sich, häufigere Versammlungen durchführen zu können, als dies durch das Institut International möglich wäre. Die vornehmlichen Ziele dieses soziologischen Unternehmen wurden wie folgt festgehalten: 1. Das SSP soll ein Versammlungs- und Diskussionsort sein, offen für alle und alles, für Laien ebenso wie für Experten, und möge, so das von Worms formulierte Ziel, als ein Sammelbecken und Vereinigungsort anderer wissenschaftlicher Gesellschaften fungieren (vgl. S. 130). 2. Es sollen diverse Arbeitsinstrumente zusammengetragen werden: Bücher, photographische, ikonographische und statistische Daten, Messgeräte sowie in Zusammenarbeit diverser Museen auch Sammlungen alltäglicher Gegenstände. Zeitgleich mit der SSP gründet Worms 1895 die Publikationsreihe Bibliothèque sociologique internationale. Ziel ist die Popularisierung der Soziologie, aber auch die Etablierung eines autonomen Publikationsorts. 3. Das SSP soll als eine Art Forschungslabor fungieren, das 4. schließlich auch Lehre anbieten und so in Zukunft zu einer Fakultät für Sozialwissenschaften avancieren soll (vgl. S. 123).

Von anfänglich 46 Mitgliedern wächst die SSP in den Folgejahren schnell an, 1909 hat sie bereits dreihundert, davon 8,5 % Frauen. So wie Worms’andere Projekte wird auch die SSP von den durkheimiens boykottiert und ihr vorgeworfen, sie habe keine einheitliche Methode und widersprüchliche Ansichten. Obgleich der Vereinigung auch von anderer Seite oft vorgehalten wurde, ein Sammelbecken an Amateuren zu sein, kann dieses Bild durch die von Cécile Rol zusammengetragenen Fakten nicht bestätigt werden. Die größte Anzahl an Mitgliedern machten Juristen und Hochschullehrer aus (vgl. S. 127).

Die SSP ist auch international gut vernetzt, insbesondere mit der Sociological Society of London; die American Sociological Association wird nach dem Vorbild des IIS und der SSP gegründet, wie William Veditz an Worms schreibt (vgl. S. 131). Auch anderen soziologischen Vereinigungen, die um 1900 und später in Europa gegründet wurden, war die SSP ein Beispiel und konnte so ganz in Worms’ Sinne zeigen, dass Frankreich das organisatorische und „geistige Vaterland“ der Soziologie sei (vgl. S. 133). 1915 wird in Genf eine Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gegründet, so wie es Worms seit Jahren stets gefordert und propagiert hatte.

Inhaltich widmeten sich die monatlichen Versammlungen, die zuweilen der Vorbereitung der Kongresse des IIS dienten, spezifischen thematischen Zyklen wie etwa dem generationalen Wandel von Berufsbildern und damit zusammenhängenden methodologischen Erhebungsproblemen oder später, zwischen 1916 und 1926, Forschungen über Nationalität (vgl. S. 141 ff.).

Der Niedergang der SSP wird 1926 aus finanziellen Gründen eingeläutet, die Mitgliederzahlen nehmen ab, Worms selbst stirbt am 12. Februar. Als sein Nachfolger fungiert bis 1930 Raphael Alibert, danach Gaston Bouthoul. Offiziell besteht die SSP noch bis zu ihrer Überleitung in das IIS 1952. Cécile Rol zieht eine positive Bilanz der Vereinigung (S. 156): es gab kollektive Forschung, koordinierte Lehre, Nachwuchsförderung, Konsens über die Bedeutung transdisziplinärer Forschungsprojekte sowie internationalen Austausch. Warum aber versank die Initiative dennoch im Vergleich etwa zur Durkheim-Schule in relativer Vergessenheit? Fehlte es an einer dem organisatorischen Geschick ebenbürtigen intellektuellen Brillanz und einem eigenen, einigermaßen kohärenten Paradigma, wie man es bei der Durkheim-Schule ausmachen konnte?

Allein der sorgfältig recherchierte, höchst instruktive Beitrag von Cécile Rol über die SSP lohnt den Blick in die Doppelausgabe der Études Sociales. Aber auch die anderen Beiträge sind nicht minder interessant. Untergliedert werden die Beiträge in unterschiedliche Sektionen. In der ersten, „Sciences socciales et sociologie“, finden sich Beiträge von Fabrice Cohen über Worms demographische Forschungen, von Christian Papilloud über Worms und die politische Ökonomie und von Massimo Borlandi über Worms’ Kritik an Durkheim. Die zweite Sektion widmet sich den durch Worms ins Leben gerufenen Institutionalisierungsprozessen. Hier findet sich der bereits diskutierte Beitrag von Cécile Rol über die Société de sociologie de Paris sowie ein Aufsatz von Sébastien Mosbah-Natanson über Worms als Herausgeber der Bibliothèque sociologique internationale. Die dritte Sektion behandelt Aspekte der Rezeptionsgeschichte von Worms. Laetitia Guerlain analysiert die Beziehungen zwischen Worms und der Schule um LePlay, Cécile Rol erforscht die Rezeption von Worms in Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Abgerundet wird der Themenschwerpunkt schließlich durch eine von Louise Salmon annotierte Auswahl an Briefen aus der Korrespondenz zwischen Worms und Gabriel Tarde.

Die Autorinnen und Autoren der Études Sociales möchten mit der Ausgabe zu Worms nicht nur Forschungslücken schließen, sie möchten auch das schiefe Bild von Worms zurecht rücken, das durch den vornehmlichen Fokus auf Durkheim entstanden ist. Aus der Sicht Frédéric Audrens, mit Massimo Borlandi einer der Herausgeber der Doppelausgabe, sind Worms, Frédéric LePlay und Gabriel Tarde allesamt Opfer des Siegeszugs der durkheimschen Soziologie (S. 3). Angesichts der „Tardomania“ (Laurent Mucchielli) im Zuge des Hypes um Bruno Latour und dessen Tarderezeption gehört Tarde sicher inzwischen nicht mehr zu den verdrängten und ausgeschlossenen Akteuren der Geschichte der Soziologie (außer man benötigt dieses Narrativ noch aus feldsoziologischen Gründen); für LePlay und Worms gilt dies nicht gleichermaßen. Kennern der deutschsprachigen Soziologie ist Worms vielleicht höchstens noch als Begründer des Institut International de Sociologie (IIS) bekannt, das im Zuge des so genannten „Bürgerkriegs“ in der Soziologie in den 1950er-Jahren, dem Streit zwischen DGS und IIS, in Deutschland von sich reden machte.[4] Umso begrüßenswerter ist es, nun einen Band in die Hand nehmen zu können, der darüber hinaus geht, der Worms’ Leistungen hervorhebt, ohne hagiographisch zu werden und der damit neue und tiefergehende Einblicke in zentrale Aspekte der frühen Institutionalisierungsphase der Soziologie liefert und soziologiehistorisch relevante Prozesse nachzeichnet, deren Wirkungen weit über Frankreich hinaus reichten.

  1. Johan Heilbron, French Sociology, Ithaca, NY 2015.
  2. Terry N. Clark, Prophets and Patrons. The French University and the Emergence of the Social Sciences, Cambridge, MA 1973.
  3. Robert L. Geiger, The Institutionalization of Sociological Paradigms: Three Examples from Early French Sociology, in: Journal of the History of the Behavioral Sciences 11 (1975), 3, S 235–245.
  4. Vgl. Johannes Weyer, Der „Bürgerkrieg in der Soziologie“. Die westdeutsche Soziologie zwischen Amerikanisierung und Restauration, in: Ordnung und Theorie. Beiträge zur Geschichte der Soziologie in Deutschland, hg. v. Sven Papcke, Darmstadt 1986, S. 280–304.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Oliver Römer.

Kategorien: Geschichte der Sozialwissenschaften Gesellschaftstheorie

Stephan Moebius

Univ.-Prof. Dr. phil. Stephan Moebius ist Universitätsprofessor für Soziologische Theorie und Ideengeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz und stellvertretender Leiter des Zentrums für Kulturwissenschaften an der Universität Graz. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Soziologiegeschichte, Kultursoziologie, Soziologische Theorie, Intellektuellensoziologie und Religionssoziologie. Er ist Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 2017 erhielt er den Staatspreis für exzellente Lehre der Republik Österreich.

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