Youssef Ibrahim | Essay | 16.06.2022
Rezensionen schreiben
Ein wesentlicher Teil wissenschaftlicher Arbeit gilt der Rezeption wissenschaftlicher Literatur. Doch die zunehmende Unübersichtlichkeit der Publikationslandschaften stellt selbst (und vielleicht insbesondere) versierte Forschende vor die Frage, ob eine Neuerscheinung in den Relevanzbereich ihres Forschungsfelds fällt, neue Erkenntnisse verspricht oder schlichtweg lesenswert ist. Dies gilt umso mehr zu Beginn einer Auseinandersetzung mit einem noch unbekannten Forschungsgegenstand. Um die Frage zu klären, ob eine Publikation zur Kenntnis zu nehmen ist, haben sich in der Wissenschaft allerlei Hilfsmittel entwickelt. Wie Abstracts wissenschaftlicher Artikel, Reputationsordnungen, Personenkenntnis und einiges mehr gehört auch die Rezension als wissenschaftliche Textgattung (gemeinsam mit etwa der feuilletonistischen oder literarischen Textkritik) zu diesen ‚aufmerksamkeitsökonomischen‘ Instrumenten. Rezensionen werden in der Regel über umfangreichere Monografien, Sammelbände oder sogar ganze Forschungsfelder (als Literaturbericht) geschrieben, die der/die Rezensent:in in Kurzform bespricht.
Formale Aspekte einer Rezension: Inhalt, Kontext, Kritik
Drei Bausteine bilden das formale Gerüst einer Rezension. Neben der kritischen Würdigung gehören die Kontextualisierung und die Inhaltsangabe zu ihren nützlichen Komponenten. Ob es sich anbietet, zunächst mit der Einbettung der besprochenen Arbeit zu beginnen oder aber die inhaltlichen Aspekte eingangs vorzustellen, ist zumeist Ihnen überlassen. Den Abschluss stellt in jedem Fall eine kritische Würdigung dar.
Kontextualisierung
Die Einordnung der besprochenen Literatur gilt als besonders gelungen, wenn zu erwarten ist, dass auch Personen, die mit dem Thema der Publikation nicht vertraut sind, einen Eindruck vom Hintergrund der Arbeit gewinnen. Dafür ist es zentral, zu klären, an welche Diskussionskontexte die Arbeit anschließt. Zu den Leitfragen dieses Abschnitts gehören:
- An welche fachwissenschaftlichen, interdisziplinären und/oder außerwissenschaftlichen Diskussionen knüpft die Arbeit an?
- Welche Theorietradition, Forschungsperspektive, Subdisziplin oder Ähnliches bildet den Ausgangspunkt der Arbeit, dem sie sich (differenzierend, weiterführend, bestätigend) anschließt? Und gegen welche wendet sie sich?
- Welches Publikum adressiert sie?
- Gegebenenfalls: In welchem historischen (nicht biografischen!) Kontext steht sie? Falls es sich um einen Sammelband handelt: Aus welchem forschungsorganisatorischen Zusammenhang ist die Arbeit entstanden?
Inhaltsangabe
Etwa die Hälfte der Rezension sollten Sie für einen Bericht über die Inhalte reservieren. Verzichten Sie dabei möglichst auf eine allzu idiosynkratrische Lesart. In diesem Teil punktet Ihre Rezension durch eine kursorische, sachliche und pointierte Wiedergabe. Wörtliche Zitate können Sie zwar zur Illustration verwenden. Sie sollten sie aber sparsam und nur dann einsetzen, wenn es sich um zentrale Passagen handelt, die Sie gegebenenfalls später kritisch oder würdigend aufgreifen. Insbesondere bei der Besprechung von Sammelbänden oder bei Sammelrezensionen können Platzprobleme entstehen. In diesen Fällen empfiehlt es sich, selektiv vorzugehen und repräsentative oder exemplarische Aufsätze mit Blick auf die Stoßrichtung oder die thematische Gliederung des Bandes detaillierter zu besprechen, statt additiv über alle versammelten Texte zu berichten. An den folgenden Fragen können Sie sich orientieren:
- Für welche Forschungsfrage entfaltet die Arbeit welche Thesen?
- Welche Hauptargumente und Forschungsergebnisse bringt sie dafür in Stellung?
- Mithilfe welcher Vorgehensweise oder Methode und aus welchem Datenmaterial wurden die Forschungsergebnisse gewonnen?
- Gegebenenfalls: Wie ist die Arbeit oder der Sammelband gegliedert?
Kritische Würdigung
Während die ersten beiden Teile möglichst wertneutral formuliert sind, widmet sich der letzte Teil einer Rezension der evaluierenden Betrachtung und Würdigung der besprochenen Arbeit. Weder ist die urhebende Person Gegenstand der kritischen Würdigung noch gehören persönliche Präferenzen zu den Bewertungskategorien. Hier sind eine kritische Auseinandersetzungen mit den Inhalten, weiterführende Gedankengänge und auch anerkennende Zugeständnisse gefragt. Dabei sollten Sie darauf achten, dass Ihre Stellungnahme deutlich von der wertneutralen Zusammenfassung unterscheidbar ist. Im Dialog mit dem Forschungsstand bewerten Sie die Arbeit entlang der Fragen:
- Wird die Arbeit ihrem eigenen Anspruch gerecht?
- Sind die Schlüsse und Argumente nachvollziehbar entwickelt?
- Welchen Beitrag leistet die Arbeit zum Verständnis des anvisierten Problems?
- Inwiefern handelt es sich dabei um innovative und anschlussfähige Einsichten?
- Gegebenenfalls: Welche Aufsätze des Sammelbandes wirken besonders herausragend oder diskutabel? Überzeugt die Komposition des Bandes (inklusive Einleitung, Nachwort etc.) insgesamt?
Schreibstil
Während sich Rezensionen in formaler Hinsicht publikumsunabhängig an den genannten drei Bausteinen – Kontextualisierung, Inhaltsangabe und kritische Würdigung – orientieren, gilt für den Schreibstil lediglich und insbesondere, dass er sich dem Publikationsort der Rezension anpasst. Die Feuilletons der Tages- und Wochenzeitungen freuen sich über eine essayistische Form. Hier spielen wissenschaftliche Kriterien eine untergeordnete, die Kunstfertigkeit und das sprachliche Geschick des/der Rezensierenden hingegen eine übergeordnete Rolle. In wissenschaftlichen Zeitschriften sollte ein ebenso wissenschaftlicher Ton die Rezension dominieren. In beiden Fällen ist aber das potenzielle Publikum und dessen Kenntnisstand zu berücksichtigen. In Fachzeitschriften können Sie (nicht allzu esoterische) Begrifflichkeiten, Methoden- und Theoriekenntnisse voraussetzen, während Ihnen interdisziplinäre Zeitschriften niedrigschwelligere oder ausführlichere Darstellungen abverlangen.
Rezensionsformate
Insgesamt lassen sich drei Rezensionsformate unterscheiden, die auf den ersten Blick hinsichtlich des Umfangs variieren: Einzelrezensionen, Sammelrezensionen und Literaturberichte. Für welches Format Sie sich entscheiden, hängt also im Wesentlichen davon ab, welchen Aufwand Sie betreiben möchten und/oder wofür Sie angefragt wurden. Darüber hinaus sind einige leichte Abweichungen zu beachten.
Einzelrezensionen widmen sich einer Monografie (beispielsweise einer Dissertation) oder einem Sammelband beziehungsweise einer Schriftensammlung. Dabei handelt es sich in der Regel um Neuerscheinungen.
Sammelrezensionen setzen mindestens zwei Publikationen in ein Verhältnis. Ratsam ist es daher, ihre Besprechung nicht nacheinander – als würde es sich um zwei unterschiedliche Rezensionen handeln –, sondern in Beziehung zueinander vorzunehmen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede kenntlich zu machen. Wie bei der Einzelrezension von Sammelbänden ist es auch hier wichtig, die Sammelrezension auf die Besprechung zentraler Einsichten zu beschränken.
Literaturberichte, systematic reviews oder Themenessays erheben den Anspruch, einen umfassenden Überblick über eine Forschungslandschaft zu bieten. Dafür gilt es, Kontroversen, historische Dis-/Kontinuitäten und übersehene oder vorhandene Verbindungslinien sichtbar zu machen. Neben Veröffentlichungen jüngerer Zeit sind auch einschlägige Meilensteine und Wendepunkte zu berücksichtigen. Zudem können Sie in einem resümierenden Ausblick programmatische Skizzen oder Forschungsperspektiven andeuten.
Rezensionen publizieren
Für jedes Rezensionsformat gibt es geeignete Publikationsorte:
- Rezensionen finden in zahlreichen Fachzeitschriften ihren Platz. Die Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, die Zeitschrift Medien & Kommunikationswissenschaft oder die Politische Vierteljahresschrift führen eigenständige Rubriken für Besprechungen neuerer Literatur.
- Daneben lassen sich Besprechungen auch in Zeitschriften platzieren, die sich ausschließlich der Publikation von Rezensionen widmen. Dazu gehören die Soziologische Revue oder die Erziehungswissenschaftliche Revue.
- Englischsprachige Fachzeitschriften wie die Annual Review of Anthropology oder Sociology sowie interdisziplinäre Zeitschriften wie WIREs Climate Change publizieren regelmäßig umfangreiche Themenessays.
- In den vergangenen Jahren haben sich außerdem Online-Portale etabliert, die regelmäßig Rezensionen veröffentlichen. Soziopolis und H-Soz-Kult sind zwei einschlägige Beispiele.
Ebenso wie der Publikationsort zur besprochenen Literatur und dem gewünschten Rezensionsformat passen sollte, ist unbedingt darauf zu achten, dass die potenziell zu rezensierende Arbeit zu Ihnen passt. Vermeiden Sie Rezensionen, bei denen a) die Unabhängigkeit nicht gewährleistet ist und/oder b) der Themenschwerpunkt jenseits Ihres Kompetenzbereichs liegt – auch wenn Sie dafür angefragt werden.
Zum Umgang mit Rezensionen
Die Rezension ist eine außerordentlich nützliche Gattung. Sie erlaubt, sofern sie gut gemacht ist, einen ersten und kondensierten Einblick in eine Arbeit oder sie gibt einen Überblick über ein Forschungsfeld und unterstützt beim Vorsortieren relevanter Literatur. Wenn Sie eine Rezension lesen, sollten Sie jedoch immer mitbedenken, dass sie nicht nur Bericht leistet. Unabhängig davon, ob sie explizit oder implizit für das besprochene Buch wirbt oder gar von der Lektüre abrät, bleibt es letztlich Ihrer eigenen subjektiven Abwägung überlassen, ob Sie sich von den inhaltlichen Eckdaten der vorgestellten Publikation überzeugen lassen. In jedem Fall ersetzt das Lesen einer Rezension nicht die eigenständige Lektüre.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.
Kategorien: Universität Wissenschaft
Zur PDF-Datei dieses Artikels im Social Science Open Access Repository (SSOAR) der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften gelangen Sie hier.
Teil von Dossier
Textformate
Vorheriger Artikel aus Dossier:
Essays schreiben
Nächster Artikel aus Dossier:
Abschlussarbeiten schreiben – oder: Die wissenschaftliche Monografie
Empfehlungen
Maya Halatcheva-Trapp, Angelika Poferl
Jane Addams (1860–1935)
Engagierte Sozialforscherin der ersten Stunde und politisch aktive Reformerin
Ein Luftmensch in permissiven Zeiten
Rezension zu „Professor der Apokalypse. Die vielen Leben des Jacob Taubes“ von Jerry Z. Muller
Herta Herzog (1910–2010)
The Real Inventor of the Focus Group and a Pioneer for Qualitative Research in Communication Studies