Jonathan Kropf | Rezension |

Schleichender Wandel mit ambivalenten Folgen

Rezension zu „Digitale Transformation“ von Jan-Felix Schrape

Abbildung Buchcover Digitale Transformation von Jan-Felix Schrape

Jan-Felix Schrape:
Digitale Transformation
Deutschland
Bielefeld 2021: transcript
264 S., 20,00 EUR
ISBN 978-3-8252-5580-0

Im öffentlichen wie im sozialwissenschaftlichen Diskurs über Digitalisierung finden sich zahlreiche Disruptionsnarrative: Buzzwords wie Web 2.0, Big Data oder künstliche Intelligenz wollen jeweils einen epochalen Umbruch markieren. Es ist vor diesem Hintergrund so bemerkenswert wie angenehm, dass das jüngste Buch von Jan-Felix Schrape die Digitalisierung eben „nicht als disruptive[n] Bruch […], sondern als inkrementelle[n] Veränderungsprozess“ (S. 81) perspektiviert. Digitale Transformation, in der Reihe Einsichten des transcript-Verlags erschienen, versteht sich dabei in erster Linie als Lehrbuch und Einführung (S. 12 f.), ist darüber hinaus aber auch Forschenden zu empfehlen, die sich mit Fragen der Digitalisierung beschäftigen und sich einen flüssig zu lesenden und aktuellen Überblick wünschen.

Das Buch gliedert sich in vier größere Kapitel, die von einer Einleitung sowie einem Resümee und einer persönlichen Schlussbemerkung gerahmt werden. Entsprechend seiner Ausrichtung auf langfristige Entwicklungen nimmt der Band eine dezidiert techniksoziologische Perspektive ein. Digitalisierung erscheint hier nur als jüngste Ausprägung einer grundsätzlichen Verbindung von Technik und Gesellschaft, die der Begriff des „soziotechnischen Wandels“ (S. 15–20) beschreibt.

Die Verknüpfung von Technik und Gesellschaft

Die Einleitung trägt der theoretischen Ausrichtung des Buches Rechnung, indem sie Technik als Grundlage des gesellschaftlichen Lebens einführt (S. 7–13). Es sind demnach gerade „Phasen des Umbruchs“ (S. 10), die die ansonsten oft unauffällige Technik ins Bewusstsein treten lassen. Die eingangs genannten Disruptionsnarrative haben vor diesem Hintergrund durchaus ihre Berechtigung, sind sie doch aufgrund ihrer Omnipräsenz als Symptome eines derzeit stattfindenden fundamentalen Wandels zu lesen (vgl. S. 10 f.). Ihren umfassenden Erklärungsansprüchen erteilt Schrape jedoch eine Abfuhr: Eine „abgeschlossene Theorie der Digitalisierung“ (S. 11) könne zum gegenwärtigen Zeitpunkt der andauernden Transformation noch gar nicht formuliert werden. Schrape zielt vielmehr darauf ab,

„die sich intensivierende Digitalisierung und die damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse – kurz: die digitale Transformation der Gesellschaft – in den langfristigen Verknüpfungszusammenhang von Technik und Gesellschaft einzuordnen, um aus dieser techniksoziologisch informierten Perspektive bis dato erkennbare Dynamiken und Ambivalenzen dieses Umbruchs zu diskutieren“ (ebd.).

Das zweite Kapitel steckt das Forschungsfeld genauer ab, indem es sich „Grundlagen und Positionen“ einer „Soziologie der Technik“ widmet (S. 15 ff.). In einem knappen Abriss rekonstruiert Schrape zunächst die Thematisierung von Technik in der Geschichte der Soziologie, um anschließend verschiedene Technikbegriffe vorzustellen. Angesichts des ausdifferenzierten Theoriediskurses zur Handlungsträgerschaft von Technik[1] scheinen die diesbezüglichen Überlegungen überraschend kurz geraten (vgl. S. 28 f.). Es mag dem Theorieumfeld des Autors geschuldet sein, dass der Schwerpunkt des Kapitels stattdessen auf der Darstellung von Modellen soziotechnischer Innovationsprozesse liegt (vgl. S. 30–41). Mithin steht weniger die sozialtheoretische Frage nach dem Status von Technik in der Gesellschaft als deren Erfindung, soziale Aneignung und Diffusion im Mittelpunkt der Ausführungen – stets mit Blick auf die langfristige „Koevolution von Technik und Gesellschaft“ (S. 41–48).

In fünf Schritten zur digitalen Transformation

Das dritte Kapitel soll nun das Versprechen einlösen, „die Digitalisierung als einen lang gestreckten soziotechnischen Transformationsprozess“ (S. 12) nachzuzeichnen, der wiederum auf umfassenderen Prozessen der Informatisierung beruht. Denn selbstredend hatte auch die zur Mitte des 20. Jahrhunderts einsetzende Digitalisierung im engeren Sinne ihre Vorläufer und gesellschaftlichen Voraussetzungen (vgl. S. 50 f.). Strukturgebend für das Kapitels sind aber zwei einander ergänzende Argumentationsstränge: Schrape teilt die digitale Transformation in fünf Phasen ein und untersucht zu jeder Phase zeitgenössische Diskursverläufe, in denen sich die Akteure einen Reim auf die jeweiligen Entwicklungen zu machen versuchten.

Die kenntnisreiche Darstellung beginnt Mitte der 1950er-Jahre, als die ersten Großcomputer gebaut wurden und die Idee der Informationsgesellschaft aufkam (vgl. S. 52–57). Ab den 1980er-Jahren setzte nach Schrape dann die allmähliche „Computerisierung der Lebenswelt“ (S. 57) ein, zum Beispiel durch den Einsatz von elektronischer Datenverarbeitung (EDV) in Unternehmen und Handel (vgl. S. 59). Die gesellschaftliche Aneignung des Internets erfolgte jedoch erst ab 1993 mit der Erfindung des world wide web durch Tim Berners-Lee (S. 63–68). Die vorletzte Phase der digitalen Transformation – Stichwort Web 2.0 – zeichnete sich ab circa 2005 ab und war durch neue Interaktionsmöglichkeiten für die Nutzenden gekennzeichnet. Der Aufstieg der Plattformunternehmen zum Ende der Nullerjahre konterkarierte jedoch die damit verbundenen utopischen Hoffnungen (S. 68–74). In der letzten Phase, die ungefähr 2010 begann und bis heute andauert, findet schließlich eine „Vergegenwärtigung der digitalen Transformation“ (S. 74) statt, die sich etwa daran zeigt, dass wir die Gesellschaft als Ganze zunehmend als digitalisiert erleben (S. 74–80).

Bilanzierend sieht Schrape den Wert einer Langzeitbetrachtung bestätigt, denn nur so lasse sich erkennen, dass mitunter in ihrer Zeit als randständig erachtete Inventionen später durchaus zu gesellschaftsprägenden Innovationen aufsteigen könnten. Zudem vermag der Autor wegen der längeren Belichtungszeit seiner Studie eine typische Dynamik technischer Innovationen zu extrapolieren: Die anfängliche offene Kollaborationstätigkeit werde mit der Zeit regelmäßig von einer Kommodifizierung der Technik durch wenige Unternehmen abgelöst. Üblicherweise gebe die Frühphase Anlass zu Hoffnung, wenn nicht sogar zu utopischen Zukunftserwartungen, die allerdings meist im Zuge der Kommerzialisierung ins Dystopische umschlagen würden. Auch hier wirke die Langzeitperspektive heilsam, um sich weder von Euphorie noch Pessimismus mitreißen zu lassen (vgl. S. 80–85).

Wirkungsfelder der Digitalisierung

Nachdem die ersten Kapitel zum einen der Theorieperspektive, zum anderen der historischen Rekonstruktion gewidmet sind, sollen das vierte und fünfte Kapitel „die bis dato realiter erkennbaren soziotechnischen Veränderungsverläufe, die mit der digitalen Transformation einhergehen“ (S. 84) beleuchten. Mit der „Rekonfiguration gesellschaftlicher Koordinationsmuster“ (Kap. 4) und dem „Wandel gesellschaftlicher Kommunikations- und Öffentlichkeitsstrukturen“ (Kap. 5) nimmt Schrape dafür zwei „Wirkungsfelder“ (ebd.) genauer in den Blick.

Unter der Annahme, dass technische Infrastrukturen stets „ermöglichende“ und „strukturierende Eigenheiten“ aufweisen, aber auch soziale Kontrollmöglichkeiten erweitern (vgl. S. 87 f.), betrachtet Schrape im vierten Kapitel die Bereiche Markt, Arbeit und Organisationen. Dabei kommen dem Modell der Plattform und den ambivalenten Dynamiken der digitalen Transformation Schlüsselrollen zu: So rekonstruiert der Abschnitt zum Markt (S. 90–101) anhand des Spannungsverhältnisses von Dezentralisierung/Zentralisierung vor allem den wissenschaftlichen Diskurs zur Plattformökonomie. Arbeit gerät über die Ambivalenz von Flexibilisierung/Standardisierung ebenfalls primär in ihrer über Plattformen koordinierten Form in den Blick (S. 101–112).

Organisationen schließlich untersucht Schrape unter den Stichworten der Horizontalisierung und Reformalisierung (S. 112–121). Einerseits können sich Organisationen durch die Digitalisierung verstärkt horizontal vernetzen und agile Prozessmodelle implementieren, andererseits trägt sie zur größeren Nachverfolgbarkeit sowie zur technisch bedingten Begrenzung und Kontrolle von Handlungen bei. Es sind aber nicht nur die Abläufe innerhalb von Organisationen, sondern auch solche zwischen Organisationen, die sich nach Schrape transformieren. So ist zu beobachten, dass Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten von mehreren Organisationen gemeinsam angestoßen, vorangetrieben und finanziert werden (Stichwort open innovation). Auch hier stellt der Autor mit dem Begriffspaar „Öffnung und Schließung“ ein Spannungsverhältnis in den Mittelpunkt (S. 121–131). Den Abschluss des Kapitels bildet die Auseinandersetzung mit neuen Formen der Kollektivität im Internet (S. 131–143) – vom dezentral organisierten Kollektiv bis zur produktorientierten Gemeinschaft –, denen auf digitalen Plattformen zwar neue Möglichkeiten der „situativen Formierung“ (S. 141) zur Verfügung stehen, die zugleich aber auch einer starken „Kanalisierung kollektiven Verhaltens“ (ebd.) ausgesetzt sind.

Das fünfte Kapitel lenkt die Aufmerksamkeit auf den Bereich der Öffentlichkeit und gesellschaftlichen Kommunikation (S. 147–199). Der „medientechnische Wandel“ (S. 149) sei durch fünf „Kerndynamiken“ (ebd.) gekennzeichnet: Erstens, die zunehmende „Plattformisierung der Medienstrukturen“ (S. 150–160), die Schrape sowohl im Bereich des Nachrichtenjournalismus als auch der Unterhaltungsmedien nachzeichnet. Den erweiterten Zugangsmöglichkeiten und Orientierungsleistungen stehe eine wachsende „Macht der Plattformbetreiber“ (S. 160) gegenüber, die durch ihre spezifische Kuratierung das Medienangebot kanalisieren. Der zweite Punkt, die zunehmende „Individualisierung der Medienrepertoires“ (S. 160–170), betrifft vor allem das individuelle Medienverhalten, tangiert aber auch die gesamte Öffentlichkeit (Stichworte Filterblasen und Echokammern), sodass es drittens Schrape zufolge zu einer „Pluralisierung von Öffentlichkeitsarenen“ kommt (S. 170–178). In den verschiedenen (Teil-)Öffentlichkeiten – Schrape unterscheidet zwischen situativer, themenspezifischer und übergreifender Öffentlichkeit (vgl. S. 183 ff.) – vollzieht sich viertens eine „[s]oziotechnische Aushandlung von Sichtbarkeit“ (S. 179). In kleineren Öffentlichkeiten bestünden erleichterte Teilnahmemöglichkeiten, während gerade im Bereich größerer Reichweiten Aufmerksamkeit selektiv zugewiesen werde (S. 179–188). Fünftens konstatiert Schrape unter Rekurs auf Luhmann eine „Dynamisierung gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktion“, bei der die Sozialen Medien die Massenmedien als weltvermittelnde Instanz infrage stellen oder sie in dieser Funktion bereits abgelöst haben (S. 188–195).

Fazit: Kritisch und informiert

In der Gesamtschau sind das gewissenhafte Vorgehen und die differenzierte Argumentation des Autors hervorzuheben. Schrape betont durchgängig die Ambivalenz der beschriebenen Entwicklungen. Mal schlage das Pendel stärker in Richtung einer Erweiterung und Ermöglichung von Handlungsoptionen, Kreativität und Spontanität aus, mal schwinge es eher in Richtung einer vermehrten Strukturierung und sozialen Kontrolle. Zudem ist durchweg seine Skepsis gegenüber geschichtsvergessenen Erzählungen erkennbar, etwa wenn er betont, dass die Digitalisierung viele bereits bestehende Trends im Bereich der Arbeit lediglich verstärkt, nicht aber hervorgebracht hat (vgl. S. 101–105).

Den Kapiteln ist anzumerken, dass der Autor zu den jeweiligen Themen bereits seit einigen Jahren regelmäßig publiziert. Entsprechend klar und fundiert fällt die Darstellung aus, auch wenn sie – dem Überblickscharakter eines Lehrbuchs entsprechend – den jeweiligen Gegenstand nicht immer in der gewünschten Tiefe analysieren kann, und auch wenn er eine thematische Auswahl treffen musste, wie der Autor selbst betont. So lässt sich zusammenfassend konstatieren, dass der Band erkennbar von den Vorarbeiten und der Forschungsperspektive des Autors geprägt ist. Die Darstellung von Forschungsfeld und -gegenstand weist damit einen leichten Bias auf; ich möchte das Buch Lernenden und Lehrenden der Soziologie trotzdem empfehlen, kann es ihnen doch als gleichzeitig historisch informierter und aktueller Einstieg in das Thema der digitalen Transformation nützlich sein. Hilfreich dabei ist insbesondere die übersichtliche Gestaltung, unterstützt durch einen klaren Aufbau, zahlreiche Abbildungen und Tabellen sowie stichwortartige Zusammenfassungen am Seitenrand, was nicht zuletzt auch dem Rezensenten die Arbeit erleichtert hat.

  1. Vgl. dazu z.B. Werner Rammert / Ingo Schulz-Schaeffer, Technik und Handeln. Wenn soziales Handeln sich auf menschliches Verhalten und technische Abläufe verteilt, in: dies. (Hg.), Können Maschinen handeln? Soziologische Beiträge zum Verhältnis von Mensch und Technik, Frankfurt am Main / New York 2002, S. 11–64; Florian Muhle, Sozialität von und mit Robotern? Drei soziologische Antworten und eine kommunikationstheoretische Alternative, in: Zeitschrift für Soziologie 47 (2018), 3, S. 147–163.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Daten / Datenverarbeitung Digitalisierung Kommunikation Medien Öffentlichkeit Sozialer Wandel Technik

Abbildung Profilbild Jonathan Kropf

Jonathan Kropf

Dr. Jonathan Kropf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im BMBF-Projekt „Faire digitale Dienste: Ko-Valuation in der Gestaltung datenökonomischer Geschäftsmodelle“ (FAIRDIENSTE) am Fachgebiet Soziologische Theorie in der Fachgruppe Soziologie der Universität Kassel.

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