Mechthild Bereswill | Rezension | 26.01.2023
Schluss mit „Das war eben damals so“
Rezension zu „Rassismus begreifen. Vom Trümmerhaufen der Geschichte zu neuen Wegen“ von Susan Arndt

In den einleitenden Bemerkungen zu ihrem Buch situiert Susan Arndt sich als weiße Autorin, die ihren eigenen Rassismus sowie ihre gesellschaftlichen Privilegien reflektiert hat. Ihr erklärtes Ziel ist es, Rassismus radikal zu bekämpfen und andere Menschen dafür zu gewinnen, Rassismus nicht länger zu verdrängen, sondern ihn offensiv zu thematisieren und zu hinterfragen. Eingangs erinnert sie an die Ermordung des Schwarzen US-Amerikaners George Floyd durch einen Polizisten am 25. Mai 2020 und zieht ausgehend von diesem Ereignis Verbindungslinien zu den Rassismus bedingten Verhältnissen sozialer Ungleichheit und deren Zuspitzung während der Corona-Pandemie. Arndt würdigt die Bewegung Black Lives Matter (BLM), die den auch in die deutsche Gesellschaft tief eingeschriebenen Rassismus auf die Tagesordnung gesetzt hat. Daran anschließende politische Auseinandersetzungen und veränderte Haltungen im Umgang mit alltäglichem Rassismus vermisst Susan Arndt, wenn sie der deutschen Gesellschaft bescheinigt, sie würde das Phänomen Rassismus auf seine „gewaltvollen Spitzen“ (S. 11) reduzieren und mit Hilfe von liberalen Selbstkonstruktionen als für das eigene politische Denken und Handeln irrelevant abwehren. Die Autorin stellt fest: „Vielen fällt es leichter, Rassismus wegzuerklären, als ihn anzuschauen.“ (ebd.) Andererseits nimmt sie wahr, dass Menschen sehr wohl über konkrete Konflikte wie beispielsweise rassistische Sprache oder Rassismus im Allgemeinen sprechen wollen, teils aber schlichtweg nicht wissen, wie sie das bewerkstelligen sollen (ebd.). Dieser Sprachlosigkeit, diesem Unvermögen möchte die Autorin mit ihrem Buch etwas entgegensetzen, weil der „Wunsch, begreifen zu wollen“ ihrer Ansicht nach einen „Grenzraum“ eröffnet, in dem Kompetenzen erlangt werden können, die zur Bekämpfung von Rassismus beitragen können.
Das Buch ist aus einer radikal antirassistischen Perspektive verfasst, ein Umstand, auf den die Autorin auch im Hinblick auf ihr eigenes Schreiben immer wieder verweist und betont: „Zu dessen Credo gehört es, über Rassismus zu reden und zu schreiben, ohne ihn zu reproduzieren.“ (S. 11) Zu diesem Zweck formuliert sie „eher in Aktiv- als in Passivsätzen“, um die konkrete Verantwortung für rassistische Gewalt zu benennen. Arndt verfolgt eine Schreibstrategie, die „die Macht rassistischer Wörter dadurch bändigen“ (S. 12) soll, dass diese Wörter bei ihrer Ersterwähnung im Text tiefgestellt und durchgestrichen sowie im Folgenden dann nur noch abgekürzt verwendet werden, was dann beispielsweise aussieht wie auf Seite 32:

Diese Strategie wendet sie auch auf Zitate aus wissenschaftlichen wie historischen Quellen an und will der „Gewalt, die diesen Wörtern [...] innewohnt“ (S. 12) auf diese Weise Grenzen setzen. (Die abgekürzten Wörter können in einem Glossar am Ende des Buches nachgeschlagen werden, dort sind sie ebenfalls typografisch absenkt.)
Arndt will mit ihrem Buch historisches wie aktuelles Wissen über Rassismus aufbereiten und greift zugleich aktiv in bestehende Wissenskonfigurationen ein, indem sie Sprache sowie die Regeln wissenschaftlichen Schreibens verändert und Lesegewohnheiten irritiert. Aus dieser Perspektive führt sie in aktuelle theoretische und politische Debatten über rassistische Begriffe ein und trägt umfangreiches historisches Wissen über die Geschichte des Rassismus als Geschichte weißer Suprematie und über die europäische Geistes- und Ideengeschichte der Erfindung von ‚Rassen‘ sowie der gewaltförmigen Legitimation rassistischer Gewalt zusammen. Schließlich fordert sie zu einem klaren Handeln gegen Rassismus auf und formuliert hierfür eigene Vorschläge, etwa für rechtspolitische Interventionen.
Neben den einleitenden Bemerkungen gliedert sich das Buch in drei Kapitel, von denen das zweite zur Geschichte des Rassismus das umfangreichste ist. Im ersten Kapitel (I.) mit dem Titel „Rassismus: Grundlagen, konzeptionelle Verirrungen und Strömungen“ (S. 15–77) definiert und diskutiert die Autorin Konzepte wie beispielsweise das Othering und den Racial Turn, verbunden mit der Konzeption von Weißsein; sie hinterfragt die Behauptung, es gäbe umgekehrten Rassismus und unterscheidet in dem Abschnitt zu „Strömungen des Rassismus“ (I.9.) verschiedene Ausprägungen wie etwa Antijudaismus und Antisemitismus oder Ziganistischen Rassismus. In diesem gesamten Kapitel verschränkt die Autorin wissenschaftliche Differenzierungen mit politischen Debatten über angemessene Begriffe, insbesondere aus der Perspektive von unmittelbar von Rassismus betroffenen Menschen. Arndt bezieht dabei immer eine eigene politische Position, beispielsweise im Hinblick auf die aus ihrer Sicht notwendige Abgrenzung von Antizionismus und Antisemitismus in Konflikten über Kritik am Staat Israel (S. 56 ff.) oder wenn sie sich dagegen ausspricht, wissenschaftlichen Ansätzen zu folgen, die von „Rassismus ohne Rassen, Kulturellem Rassismus oder Kulturalismus“ ausgehen (S. 75).
Theoretisch-konzeptionelle Überlegungen, die Vermittlung von Wissen über Rassismus und politische Einschätzungen greifen über den gesamten Text hinweg ineinander. Das gilt auch für das längste, zweite Kapitel (II.) „Geschichte des Rassismus als Geschichte der Erfindung von >Rassen<“ (S. 79–309). In diesem Abschnitt durchschreitet Susan Arndt, wie sie selbst einleitend schreibt, „die globale Geschichte des Rassismus in Siebenmeilenstiefeln“ und betont, dass ihr „Augenmerk auf deutschen Prozessen“ (S. 12) liegt. Ihre Rekonstruktion der Geschichte des Rassismus beginnt in der griechischen Antike (1. Griechische Konstruktionen von Selbst und Anderen) und schließt mit einem Abschnitt (7.) zu globaler (Post-)Dekolonisierung und zum Kaltem Krieg. Dazwischen spannt sie einen quellen- und faktenreichen Bogen über historische Konstellationen und Ereignisse der gewaltförmigen Unterwerfung Schwarzer Menschen, verschränkt mit Legitimationen aus Philosophie, Theologie und Natur- wie Lebenswissenschaften. Arndts dichte Beschreibungen von europäischer Herrschaftsgeschichte als Geschichte weißer Suprematie folgen dabei durchgängig der Perspektive, die „Erfindung von >Rassen<“ mit einer Vielzahl an historischen Fakten zu belegen und sie zugleich aus der eigenen Gegenwartsperspektive zu bewerten und fortwährend scharf zu verurteilen. So wird beispielsweise die widersprüchliche Haltung, die Las Casas 1542 im Hinblick auf die Frage einnahm, ob Indigene Menschen seien, aufgegriffen und mit Gegenwartsbezug folgendermaßen resümiert:
„Auch wenn der Widerspruch von Las Casas, Vitoria und anderen nicht in ein Umdenken kolonialer Praktiken mündete und diese letztlich rassistisch gegenüber Indigenen Menschen und Afrikaner*innen blieben, so zeigt sich doch, dass es unmöglich ist, sich auf die Position zurück zu ziehen: Das war eben damals so. Keineswegs hätte irgendwo widerspruchslos hingenommen werden müssen, was der anderen Welt (oder eben auch Jüd*innen, Muslim*innen und Rom*nja) angetan wurde“ (S. 115).
Diese Perspektive auf Verantwortung und Schuld strukturiert das umfangreiche Kapitel zur Geschichte des Rassismus grundlegend. Arndt analysiert historische Prozesse als aktive, intendierte und von den eindeutigen Herrschaftsinteressen aller Weißen angetriebene Handlungs- und Ereignisketten. Das kommt auch pointiert im Untertitel des Buches „Vom Trümmerhaufen der Geschichte zu neuen Wegen“ zum Ausdruck, in dem Susan Arndt Rassismus als ubiquitäres Herrschaftsgefüge mit unterschiedlichen „Strömungen“, letztlich aber mit dem gemeinsamen Bezugspunkt einer intentionalen „Erfindung von >Rassen<“ im Interesse der Aufrechterhaltung weißer Herrschaftsverhältnisse einkreist.
Diesem ausführlichen historischen Nachweis der tiefen Einschreibung von Rassismen in die globalen Machtbeziehungen zwischen Gesellschaften und die sozialen Beziehungen innerhalb dieser Gesellschaften folgt das dritte Kapitel (III.), überschrieben mit „Zeitgenössische Manifestationen des Rassismus seit 1990: Deutschland im globalen Kontext“ (S. 311–415). Hier widmet sich die Autorin aktuellen Fragen und Debatten, beispielsweise über „Erinnerung, Entschuldigung, Entschädigung“ (1.) oder über gesellschaftliche Konstruktionen wie diejenige der >Leitkultur< oder der >Flüchtlingskrise< (2.). Es folgen Ausführungen zu rassistischer Gewalt, institutionellem Rassismus, Alltagsrassismus und rassistischem Wissen sowie über rassistische Sprache. Schließlich setzt sich die Autorin im letzten Abschnitt (9.) mit dem im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) festgeschriebenen unzureichenden rechtlichen Schutz von Menschen vor Rassismus auseinander und plädiert für eine Strafverfolgung von rassistisch motivierten Handlungen. Aus Arndts Sicht bedarf es „einer neuen Rechtsprechung gegen Rassismus – und gegen Diskriminierung im Allgemeinen“ (S. 413), BGB und StGB gehörten um entsprechende Paragrafen erweitert. Zudem votiert die Autorin dafür, Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes abzuändern und darin „auf das Wort >Rasse< zu verzichten“ (S. 414).
Das Fazit ihres Buches beginnt Arndt mit der Feststellung, Rassismus gehöre „zweifelsohne zu den gravierendsten und folgenschwersten Hypotheken, mit denen sich die Welt auch im 21. Jahrhundert auseinanderzusetzen hat“ (S. 416). Sie fordert Weiße dazu auf, ihr „Happyland“ zu verlassen (S. 416), Rassismus den Kampf anzusagen und sich einzugestehen: „Ja, es gibt ihn, den Rassismus. Ja, als weiße Person profitiere ich von ihm, diskriminiere ich aus ihm heraus.“ (S. 418) Existierende Initiativen wie etwa die „Weltoffene Hochschule“, „Schule ohne Rassismus“ oder „Schule mit Courage“ bezeichnet Arndt abwertend als „Label“ und „Shortcuts“, da sie „weder Deutschland noch andere Teile der Welt von Rassismus befreien“ (S. 419) würden. Stattdessen werde hier „das postrassistische Zeitalter ausgerufen, das vermeintlich keines Widerstandes mehr bedürfte“ (ebd.). Alternativ empfiehlt die Autorin „kompetenzgesättigte Debatten“, die eine „Critical Race Literacy“ (ebd.) in Gang setzen könnten, zu der unter anderem Schritte wie Awareness-Bildung, Monitoring-Maßnahmen zur Aufdeckung von Rassismus, Empowerment von Menschen, die rassistische Diskriminierung erfahren, und „proaktive Quotenregelungen“ (S. 412) zählen. Schließlich, so ihr Fazit, sollten alle zunächst vor ihrer eigenen Tür kehren, im Sinne von alltäglichen Interventionen und Veränderungsschritten: „Jede umbenannte M-Apotheke ist ein Zahnrädchen weniger“ (S. 421), das den Gesamtmechanismus Rassismus am Laufen hält.
Rassismus begreifen ist das Buch einer hoch engagierten wissenschaftlichen Aktivistin oder aktivistischen Wissenschaftlerin, deren eigene antirassistische Haltung im gesamten Text zum Ausdruck kommt. Arndt verurteilt Geschichte wie Gegenwart des Rassismus scharf, weist Verantwortung und Schuld über historische Epochen hinweg klar zu und buchstabiert auf diese Weise den Untertitel ihres Buches, den „Trümmerhaufen der Geschichte“, aus. Die sprachlichen Brüche, die die Autorin durch die verwendeten Abkürzungen rassistischer Begriffe in den gesamten Text einbaut, setzen starke Impulse. Sie irritieren, unterbrechen den Lesefluss und lösen ambivalente Reaktionen aus. Insofern regt ihre Schreibstrategie zu Reflexionen über die Bedeutung und Veränderung von Sprache an. Die verbale Provokation führt in der Tat zu produktiven Auseinandersetzungen mit der Frage, wie auf gesellschaftlicher Ebene mit einem rassistisch belasteten sprachlichen Erbe umzugehen ist. Damit verbundene Widersprüche und Ambivalenzen interessieren Susan Arndt allerdings nicht, sie setzt ganz klar bei konkreten Handlungsoptionen an, die sie umgesetzt sehen will. Das gilt auch für den rechtspolitischen Vorschlag, rassistische Diskriminierung strafrechtlich zu verfolgen. Wenn auch auf den ersten Blick einleuchtend, da Arndt Rassismus eindeutig als „Verbrechen“ wertet, ist dieser Vorschlag mindestens diskussionswürdig, weil die Frage nach der moralischen Wirkung solcher Strafen dann doch nicht so eindeutig zu beantworten ist, wie Susan Arndt dies nahelegt. Als erstaunlich und kaum nachvollziehbar muss ihre harsche, abwertende Sicht auf bereits existierende zivilgesellschaftliche Initiativen gegen Rassismus bezeichnet werden, mit der sie ihre Einschätzung unterfüttert, weiße Deutsche lebten in einem „Happyland“, würden geschlossen über Rassismus schweigen und ihre eigene Beteiligung daran verleugnen. Ein solch undifferenzierter Pauschalvorwurf ist ganz sicher nicht dazu geeignet, die unbestritten dringend notwendigen Bündnisse gegen Rassismus zu schließen, sondern evoziert eher das, was überwunden werden soll – nämlich Abwehr gegenüber der zweifelsohne notwendigen Reflexion der eigenen Position in einer durch Rassismus strukturierten Gesellschaft.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.
Kategorien: Affekte / Emotionen Demokratie Diversity Erinnerung Geschichte Gesellschaft Gewalt Migration / Flucht / Integration Politik Rassismus / Diskriminierung Soziale Ungleichheit
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