Bénédicte Zimmermann, Marc Ortmann | Interview |

„Schreiben hat einen kumulativen Charakter“

Bénédicte Zimmermann im Gespräch mit Marc Ortmann

Liebe Bénédicte Zimmermann, welche Rolle spielt das Schreiben für Ihre Forschung und Ihren Alltag?

Das Schreiben ist der Abschluss einer von mir durchgeführten Forschung, aber zugleich auch ein Moment, in dem Ideen reifen, Hypothesen auf die Probe gestellt werden, neue Analyseansätze auftauchen und sich neue Forschungsprojekte eröffnen. Als Artikel oder Buch stellt es eine Forschungssequenz dar, in Form von Notizen – Feld-, Lese- oder Analysenotizen – ist das Schreiben Teil des eigentlichen Prozesses der Wissensproduktion. Je nach Zielsetzung kann es mehr oder weniger sorgfältig und kontrolliert sein, aber es beinhaltet immer eine Arbeit der Objektivierung und Formatierung – des Materials, der Daten, der Ideen. So gesehen spielt das Schreiben für mich in den verschiedenen Phasen der Forschung eine wesentliche Rolle, auch während der Feldforschung.

In meinem Beruf ist das Schreiben auch ein Medium für Bewertungsaktivitäten (von Artikeln, Diplomarbeiten, Projekten, Bewerbungen), die in den letzten zehn Jahren einen immer größeren Teil meiner Tätigkeit eingenommen haben. Als Lehrerin und Forscherin gehört das Schreiben also in einer Vielzahl von Formen zu meinem Alltag. Am wichtigsten ist mir jedoch das Schreiben im Zusammenhang mit meiner eigenen Forschungstätigkeit, und wenn mich meine anderen beruflichen Verpflichtungen zu lange davon abhalten, bin ich frustriert.

Wie sieht ein Schreibtag bei Ihnen aus? Haben Sie dafür persönliche Voraussetzungen oder Rituale?

In einer idealen Welt wäre mein Schreibtag zweigeteilt, eine Schreibzeit von drei bis vier Stunden am Morgen und eine weitere am Ende des Tages nach 16 oder 17 Uhr. Dies war der Rhythmus, in dem ich als junge Wissenschaftlerin meine Dissertation schrieb. Als ich Kinder bekam, waren es die Öffnungszeiten von Kindergarten, Schule, Kindermädchen und Babysittern, die meine Schreibzeiten bestimmten, und heute sind es die anderen Tätigkeiten, die mit dem Beruf der Lehrerin und Forscherin einhergehen: Unterricht, pädagogische, wissenschaftliche und administrative Verantwortung, Teilnahme an Kolloquien und Konferenzen, Reaktionen auf Projektausschreibungen, verschiedene Beurteilungen. 

Durch die Ausübung meines Berufs musste ich meine Idealvorstellung revidieren: Heute wäre es perfekt, wenn ich jeden Morgen drei bis vier Stunden dem Schreiben widmen könnte, und zwar dem Schreiben eines Textes, der für die Veröffentlichung oder die wissenschaftliche Verbreitung bestimmt ist. Tägliches Schreiben gewährleistet eine Kontinuität, die es mir ermöglicht, den Faden nicht zu verlieren und darüber hinaus an analytischer Tiefe zu gewinnen. Schreiben hat einen kumulativen Charakter, der bewirkt, dass es flüssiger und besser wird, wenn man es regelmäßig praktizieren kann. Aber als tägliche Praxis ist Schreiben zu einem Luxus geworden, in dessen Genuss ich nur zu bestimmten Zeiten des Jahres komme. Vielleicht auch, weil ich eine Langschläferin bin, die ihre acht Stunden Schlaf braucht. Manchmal beneide ich die Kolleg:innen, die mit sechs Stunden und weniger auskommen!

Wenn ich mir einen Schreibmorgen gönnen kann, besteht mein wichtigstes Ritual darin, ihn mit einer großen Tasse grünem Tee zu beginnen, ein paar Antworten auf Nachrichten loszuwerden, die am Vortag oder am Vorabend liegen geblieben sind, und mich dann von meinem Mailprogramm abzumelden, um mich nicht ablenken zu lassen.

Wie wechseln Sie zwischen Schreiben und Lesen?

Idealerweise verbringe ich einen Teil des Nachmittags damit, die Texte anderer Autor:innen oder meine eigenen Feld- oder Lesenotizen zu lesen, die sich auf die Schreibsequenz des nächsten Tages beziehen. Es findet dann eine Art Infusion statt: Das, was ich gelesen habe, nährt die Schreibsequenz am nächsten Tag.

Verändert sich das Schreiben für Sie, abhängig von der gedachten Leserschaft?

Die Überlegung, für welche Leserschaft ich schreibe, ist für mich in den letzten Jahren immer wichtiger geworden, in Verbindung mit der allgemeineren Frage nach dem kritischen Anspruch der Sozialwissenschaften, ihrer Rolle in der Gesellschaft und den verschiedenen Arten, wie ein/e Soziologe/in kritisch sein kann. Die eigene Prosa einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, ohne dabei in Vereinfachung zu verfallen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Es ist nicht immer einfach, den Anforderungen sowohl eines akademischen Stils, der mit Referenzen arbeitet und in theoretischen Diskussionen organisiert ist, als auch eines Mainstream-Stils gerecht zu werden.

Die Frage ist, muss man sich entscheiden oder kann man einen Mittelweg finden? Nachdem ich überwiegend akademische Texte verfasst habe, möchte ich diesen Mittelweg mehr erkunden. Das bedeutet nicht nur, im Text auf Jargon-Begriffe und lange theoretische Diskussionen zu verzichten, wie sie in der Soziologie üblich sind, sondern auch, die Art und Weise zu überdenken, in der man die Aussage strukturiert und empirisches Material einbezieht. Daraus folgt, dass man sowohl an der Form des Schreibens arbeiten muss, als auch an der Art und Weise, wie man den Inhalt darstellt und auswählt. Das Schreiben in seinen verschiedenen Varianten ist für mich ein ständiger Lernprozess. Trotz der Routine, die sich einstellt, bin ich mit immer neuen Fragen konfrontiert, die mit der Art des Themas, über das ich schreibe, den Adressaten, aber auch den verschiedenen Interessengruppen zusammenhängen (Geldgeber, Körperschaften und Personen, die sich bereit erklärt haben, sich der Untersuchung zu unterziehen und deren Anonymität gewahrt werden muss usw.).

Noch eine weitere Frage zu den unterschiedlichen Publika: Sie arbeiten, wohnen und pendeln zwischen Paris und Berlin. Was bedeutet es für Ihr Schreiben, dabei zwischen den Sprachen hin und her zu wechseln?

Das ist eine gute Frage. Vermutlich hängt die Schreiberfahrung, die ich gerade beschrieben habe – bestehend aus Routine und ständigem Lernprozess – auch stark damit zusammen, dass ich zwischen verschiedenen Sprachen hin und her gependelt bin, hauptsächlich Französisch und Englisch, wenn es um akademisches Schreiben geht. Das Schreiben in einer anderen Sprache zu lernen, hat dazu geführt, dass ich meine eigene Art zu schreiben mit Abstand betrachte, und es hat mir die Augen dafür geöffnet, dass Sozialwissenschaften in verschiedenen Sprachen nicht unbedingt auf die gleiche Weise geschrieben werden. Die Vereinfachung, die sich aus der Tatsache ergibt, dass ich dabei keine so große Bandbreite an Vokabeln und Satzbau besitze wie in meiner Muttersprache, hat mir bewusst gemacht, dass meine französischen Formulierungen manchmal unnötig überladen sind. Auf Englisch zu schreiben zwingt mich, präziser zu sein, das Implizite zu verdrängen und meine Gedanken klarer auszudrücken.

Abgesehen von Wörtern und Syntax habe ich festgestellt, dass beim Wechsel von einer Sprache in die andere die Art und Weise, wie ein wissenschaftlicher Text verfasst, strukturiert und analysiert ist, auf dem Spiel steht. Im Französischen muss ein Artikel, der für eine soziologische Zeitschrift bestimmt ist, unabhängig von der Qualität der Analysen dem Aufbau der französischen Dissertation entsprechen, das heißt, erst kommt eine Einleitung, dann zwei, drei oder sogar vier Teile, in denen die vertretene These schrittweise und kumulativ entwickelt wird. Im Englischen herrscht eine andere Struktur des folgenden Typs vor: Einleitung, Literaturübersicht, Vorstellung des Feldes und der Ergebnisse, dann in einem abschließenden Teil Diskussion und Analyse der Ergebnisse. Dies verpflichtet zu einer anderen Art des Schreibens, sodass eine einfache Übersetzung, so gut sie auch sein mag, nicht ausreicht, um aus einem guten akademischen Text in französischer Sprache einen guten akademischen Text in englischer Sprache zu machen; das Gleiche könnte man vom Deutschen sagen. Darin zeigen sich die Einschränkungen, die die Codes des akademischen Schreibens unserer Praxis auferlegen, sobald es darum geht, in den in der Disziplin anerkannten Zeitschriften zu veröffentlichen.

Besonders für die Nachwuchsforscher:innen eine letzte Frage: Auf welche Probleme stoßen Sie immer wieder beim Schreiben und wie gehen Sie persönlich damit um?

Als junge Forscherin hatte ich, wie viele andere auch, das Problem der leeren Seite, wenn ich mit einem neuen Text begann, übrigens unabhängig von seiner Länge. Ich wollte sofort die richtigen Formulierungen finden, anstatt mich einfach darauf einzulassen, das zu schreiben, was mir spontan einfiel, auch wenn es stilistisch überarbeitungsbedürftig war. Mir schon beim ersten Entwurf Schreibzwänge aufzuerlegen, hatte eine blockierende Wirkung. Das hat mich dazu veranlasst, meine Ansprüche herunterzuschrauben und auf den ersten Seiten des ersten Entwurfs die Dinge so zu schreiben, wie sie mir einfallen. Anschließend bearbeite ich sie sowohl inhaltlich als auch formal. Dadurch lösen sich die Blockaden, die Maschine wird in Gang gesetzt und es entsteht eine Grundlage, auf der man aufbauen kann, auch wenn sie noch überarbeitet werden muss. Ich finde, dass das recht gut funktioniert, vorausgesetzt natürlich, dass die zu entwickelnde Analyse ausreichend ausgereift ist und man die Struktur Textes, den man schreiben will, klar vor Augen hat.

Eine weitere Schwierigkeit, in die ich manchmal gerate, ist, dass ich über einen Satz stolpere. Meine Lösung besteht dann darin, von meinem Schreibtisch aufzustehen und ein paar Schritte zu gehen. Wenn es sich um eine einfache Frage der Formulierung handelt, reicht das in der Regel aus, um den richtigen Ausdruck zu finden. Wenn sich hinter dem Stolpern über einen Satz jedoch ein grundlegendes Problem verbirgt, ein Problem mit der Gliederung der Analyse oder der Argumentation, kann aus wenigen Schritten ein kleiner Spaziergang auf der Straße werden. Der Kontakt mit der Außenwelt hilft mir, meine Gedanken zu ordnen und zu sehen, wie ich die verschiedenen Elemente der Analyse miteinander verknüpfen kann. Es kann aber auch länger dauern, die Lösung des Problems vom Vortag fällt mir mitunter am nächsten Morgen beim Aufwachen oder ganz unerwartet zu einer anderen Tageszeit ein, wenn ich meinen nichtberuflichen Tätigkeiten nachgehe.

Wenn mir die Inspiration fehlt oder ich mich zu unkonzentriert fühle, behelfe ich mir mit einem Stück 85-prozentige Zartbitterschokolade!

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Methoden / Forschung Universität Wissenschaft

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Bénédicte Zimmermann

Bénédicte Zimmermann ist Professorin für Soziologie an der Ecole des hautes études en Sciences Sociales in Paris und Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den individuellen, gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen der Arbeit. (© Emmanuel Quétin)

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Marc Ortmann

Dr. des. Marc Ortmann ist Soziologe und Autor. In seinem Promotionsprojekt hat er Beziehungsmodi zwischen Soziologie und Literatur untersucht. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrbereich von Prof. Dr. Andreas Reckwitz (HU-Berlin) und war zuletzt zu Forschungs- und Lehraufenthalten am Centre Georg Simmel der EHESS Paris, an der Universität Basel und der University of Cambridge eingeladen.

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