Clara Arnold | Rezension |

Selbstregulation 1.0

Rezension zu „Vom Leben als Kampf. Wie Lebensratgeber die Lebensführung beeinflussen“ von Steven Sello

Abbildung Buchcover Vom Leben als Kampf von Sello

Steven Sello:
Vom Leben als Kampf. Wie Lebensratgeber die Lebensführung beeinflussen
Deutschland
Weinheim 2022: Beltz
125 S., 18,99 EUR
ISBN 978-3-779-96896-2

Glaubenssätze „als Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme“, die Suche nach dem „Zweck der Existenz“ und die „Kultivierung der Härte“ (S. 117) sind ebenso aktuelle wie klassische Topoi der Lebensratgeberliteratur. Dies ist eine zentrale Erkenntnis des Soziologen Steven Sello in seiner 2022 erschienenen Monografie Vom Leben als Kampf. Wie Lebensratgeber die Lebensführung beeinflussen. Eine genauere Lektüre zeigt, so Sello, dass die Lebensratgeber drei Funktionen haben: Erstens vermitteln sie „Deutungsmuster zur Wahrnehmung der Wirklichkeit, die darüber entscheiden, was überhaupt als Gegenstand praktischer Fragen in den Horizont der Lebensführung rückt“ (S. 113). Zweitens stellen sie ein „Vokabular bereit, um Erfahrungen und Befindlichkeiten ausdrücken zu lernen“ (ebd.). Drittens sorgt die Literatur für „narrative Bausteine“, die „für die Selbstdarstellung in verschiedenen sozialen Situationen und für die autobiographische Erzählung eingesetzt werden können“ (ebd.).

Sellos schlanke Studie macht ein doppeltes inhaltliches Angebot. Zum einen entwickelt der Soziologe, der an der Berliner Humboldt-Universität lehrt, in den ersten drei Kapiteln eine Analyseheuristik, um „das Phänomen der Ratgeberliteratur soziologisch [zu] verstehen“ (S. 1). Zum anderen bietet er im vierten Kapitel einen Einblick in sein äußerst spannendes Material: einen historischen Text aus dem Genre der Lebensratgeber, das sich in Europa vor etwas mehr als hundert Jahren etablierte. Sello präsentiert und analysiert exemplarisch den 1917 erstmalig erschienenen Ratgeber von Friedrich Albrecht Brecht (1864–1952), die Gesetze der Lebenskunst (GL).[1]

Doch was kennzeichnet Lebensratgeber überhaupt? Sello schließt in seiner Definition an Eva Illouz an, wenn er schreibt, das Genre ziele auf den Menschen und sein Leben als Ganzes ab, es gebe sich unparteiisch und neutral, adressiere eine breite Palette an Problemen und vermittle den Anschein von Glaubwürdigkeit und anerkanntem Expert:innenwissen (vgl. S. 61). Mit seiner Studie grenzt sich Sello von einer „ideologiekritische[n] Lesart“ (S. 7) seines Gegenstands ab, die für ihn zu kurz greift. Mit dem darin immer wiederkehrenden Argument, dass sich „unter dem Vorwand der Selbstermächtigung nur eine perfide ‚post-disziplinäre Kontrolle‘ verberge“ (S. 67), nehme man das „emanzipative Moment“ (ebd.) der Texte nicht ernst genug. Viel eher müsse der „funktionale Beitrag“ (S. 69) gesehen werden, der

„die Rezipienten mit einem Vokabular und mit Deutungsvorschlägen ausstattet, mit denen sie Erfahrungen von Erfolg und Misserfolg, Glück und Unglück, Desorientierung und Hilflosigkeit sinnhaft verstehen und in eine autobiographische Erzählung verweben können“ (ebd.).

Auf ebenjenen funktionalen Beitrag konzentriert sich seine anschließende Analyse.

Um den Mehrwert des Genres aus Sicht der Rezipient:innen in den Blick nehmen zu können, geht Sello in der soziologischen Reflexion wie folgt vor: Im zweiten Kapitel steckt er anhand von zwölf Bedingungen den analytischen Rahmen einer Theorie der Lebensführung ab. Dabei beleuchtet er unter anderem das Konzept der „Subjektivität“, welches es ermögliche, ein reflexives Selbstverhältnis zu entwickeln (vgl. S. 28). Er setzt darüber hinaus ein „Kontingenzbewusstsein“ voraus, das „die Wahl zwischen Handlungsalternativen“ (vgl. S. 34) ermöglicht und einen „Willen“, der notwendig ist, damit Akteur:innen zwischen diesen Alternativen wählen (vgl. S. 36). Die Bedingungen führt Sello schließlich in einem doppelten Konzept von Lebensführung zusammen, das eine existenzielle und eine soziologische Dimension besitzt: Erstere umfasst die Idee, dass der Mensch als Gattung in die Welt gestellt ist und sich dazu verhalten muss, zweitere, dass der Mensch als Individuum in einen sozialen Zusammenhang eingebunden ist (vgl. S. 44).

Im dritten Kapitel geht Sello der Frage nach, wann und aus welchen Gründen Lebensratgeber zu auflagenstarken Publikationen avancierten und sich das Genre in „seiner modernen Form in Europa und Nordamerika etabliert“ (S. 57) hat. Er diagnostiziert eine „Ratlosigkeit der Moderne“ (S. 48), die auf einem veränderten Zusammenhang von Erfahrung und Erzählung beruhe: Denn die modernen Lebensumstände hätten Erfahrung in einem engeren Sinne verunmöglicht, wodurch die Bedeutung von Schrift zugenommen hätte (vgl. S. 53). Dies erkläre auch die Ausbreitung psychologischen Wissens und psychoanalytischer Semantiken, durch die das moderne Selbst in der Lage sei, mit Eva Illouz gesprochen, „ein kohärentes Selbst auszubilden“.[2] Aus seinen bis dato angestellten Überlegungen entwickelt Sello schließlich ein analytisches Schema, um die Ratgeberliteratur einer hermeneutischen Textanalyse zu unterziehen (vgl. ab S. 69). Dazu stellt er sechs Analysekategorien vor: metaphysisch-anthropologisch, Sozialverhältnisse, Selbstverhältnisse, ethnisch-normativ, praktisch und Verhaltenslehre/Lebensführung. Diese bringt er im vierten Kapitel zur Anwendung, indem er den Ratgeber Gesetze der Lebenskunst von F. A. Brecht einer fallartigen Besprechung unterzieht.

Sello begründet seine Wahl unter anderem damit, dass das Buch aus ebenjener Zeit stammt, in der sich das Genre etablierte. Brechts Buch ist laut Sello aber nicht nur deshalb interessant, weil es während des Ersten Weltkriegs entstanden ist; es ist darüber hinaus als Klassiker der Lebensratgeber zu verstehen. Denn die Gesetze der Lebenskunst propagiert normative Ideale, die bis heute in Lebensratgebern vorkommen (vgl. S. 11). Sello flankiert die Darstellung des Ratgebermaterials mit zeitgenössischen Romanen und Analysen von Soziologen wie Helmuth Plessner und Georg Simmel, was seine Ausführungen gut illustriert und plausibilisiert.

In seiner Untersuchung arbeitet Sello vier zentrale Aspekte heraus, die besonders charakteristisch für die Gesetze der Lebenskunst sind: der Lebenskampf, um sich in der Welt zu behaupten (vgl. S. 82); das Streben nach Eindeutigkeit und die Kontrolle im Umgang mit dem Gefühl von Ohnmacht (vgl. S. 88); die Ausbildung einer Persönlichkeit, die sich selbst gestaltet (vgl. S. 91); sowie praktische Übungen wie die Autosuggestion, die die eigenen Schwächen bearbeiten (vgl. S. 94). Für Letztere entwarf F. A. Brecht kurze Textabschnitte, die die Leser:innen laut und eindringlich wiederholen sollten: „Es ist ja gar nicht wahr, daß ich nervös bin.“ (GL, S. 84 f.)

Die beschriebenen Motive zielen auf ein Modell von Lebensführung ab, das Sello im Anschluss an Helmut Lethens Verhaltenslehren der Kälte als „Verhaltensregulation der Kälte“ (S. 100) bezeichnet. Ziel dessen war, innerlich unberührt zu bleiben, die eigenen Schwächen zu überwinden und im Eigeninteresse zu handeln (vgl. S. 103). Die entsprechende Persönlichkeitsstruktur werde im Modus des Kampfes ausgebildet, gegen die Welt und sich selbst, um ganz „Mann und Mensch zu werden“ (S. 104). Insgesamt seien die Gesetze der Lebensführung das „Zeugnis einer Abwehrbewegung gegen die soziale Fremdbestimmung“ (S. 115). Ihr Autor Brecht stelle, so Sello, der bürokratischen Regulierung eine „Regierung des Selbst“ (ebd.) gegenüber, die zum primären Gegenstand der Lebensführung wird.

Aus Sicht der Rezensentin bleiben drei Aspekte offen: Erstens betont Sello an mehreren Stellen, dass es ihm darum gehe, die „zentralen Funktionen“ des Genres darzulegen, statt – wie die Arbeiten zu Gouvernementalität und Subjektivierung – „ideologiekritische“ (S. 1) Analyse zu betreiben. Letztlich ähneln seine auf die Funktionen abzielenden Beschreibungen aber jenen, die aus den Untersuchungen neoliberaler Gouvernementalität und Subjektivierung entstehen, denn auch bei Sello erfolgt „der Widerstand gegen die Fremdregierung […] durch die Steigerung der Selbstregierung“ (S. 115).

Zweitens stehen der theoretische und der empirische Textteil weitgehend unverbunden nebeneinander; so sind die zentralen Aspekte und Funktionen der Lebensratgeber bereits vorab klar, anstatt dass sie aus dem Material entwickelt werden. Dadurch bleibt die Chance ungenutzt, mithilfe der hermeneutischen Inhaltsanalyse eines einzelnen Buches Schlüsse für die weitere Untersuchung des Genres zu ziehen. Es wäre sicherlich interessant gewesen zu erfahren, ob sich aus der genealogischen Betrachtung eines zu Beginn des 20. Jahrhunderts publikationsstarken Ratgebers funktionale Eigenheiten des gesamten Genres ableiten lassen – und wenn ja, welche.

Offen bleibt drittens schließlich auch, wer das Subjekt der Verhaltensregulation F. A. Brechts war. Wen hatte er im Blick, als er die Gesetze der Lebenskunst schrieb? Für wen, und für wen auch nicht, stellt die Gesetze der Lebenskunst also Deutungsmuster und Vokabular zur Verfügung? Oder anders gesagt: Welche Rückschlüsse auf die Konstitution eines Subjekts, das sein Leben als Kampf führen soll, lassen sich aus den Ausführungen Brechts ziehen?

Die von Sello gezogenen Schlüsse zu den Funktionen der Ratgeberliteratur sind plausibel und relevant, nicht zuletzt weil sie den Erfolg des Genres erklären: Die Ratgeber reagieren auf eine „spezifisch moderne Form der Ratlosigkeit“ (S. 113), in der sie Interpretationen, narrative Bausteine sowie Erzählstrukturen bereitstellen und auf diese Weise eine „Sozialisationslücke“ (S. 113) schließen. Im heuristischen Herzstück des Bandes, der auf sechs Kategorien beruhenden Inhaltsanalyse, gibt die Arbeit spannende Einblicke in die „neue Selbstregulation“ (S. 115) des beginnenden 20. Jahrhunderts.

Wer allerdings erwartet, einen historisch-hermeneutischen Beitrag zu einem der ersten Bücher des im Entstehen begriffenen Genres geliefert zu bekommen, wird möglicherweise enttäuscht. Denn die sorgsame und gut lesbare theoretische Reflexion zur Analyse von Lebensratgebern nimmt den überwiegenden Teil der Arbeit ein. Der Ratgeber von F. A. Brecht dient im Anschluss daran eher als Exempel. Am Ende macht Sello deutlich, dass es ihm vor allem darum geht, einen Vorschlag zur soziologischen Analyse des Phänomens Lebensratgeber zu unterbreiten. Seine mehrschrittige und sehr aufwendige Herleitung bietet ein methodisches Instrumentarium, das eine systematische Analyse ermöglicht. Ob er damit zu gänzlich anderen Schlüssen kommt als die von ihm kritisierten Arbeiten, die Ratgeber als Zeugnis einer neoliberalen Gouvernementalität begreifen (S.7), bleibt fraglich.

  1. Alle Textstellen, die mit GL gekennzeichnet sind, beziehen sich auf die zweite Auflage: Friedrich Albert Brecht, Gesetze der Lebenskunst, Berlin 1920.
  2. Eva Illouz, Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe, übers. von Michael Adrian, Berlin 2011, S. 40.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Wibke Liebhart.

Kategorien: Affekte / Emotionen Lebensformen Moderne / Postmoderne

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Clara Arnold

Clara Arnold ist Soziologin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB 948 Helden – Heroisierungen – Heroismen an der Universität Freiburg. In ihrer Dissertation forscht sie zu sozialpsychologischer Autoritätsforschung seit Beginn des 20. Jahrhunderts.

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