Cornelia Möser | Essay | 14.04.2016
Sexualität bei Simone de Beauvoir
Feministisches Erbe, feministische Kritiken
In[1] der zeitgenössischen feministischen Frauen- und Geschlechterforschung erscheint das Werk Simone de Beauvoirs häufig als historisch interessant, aber vom Dekonstruktivismus und von Theoretikerinnen wie Judith Butler für obsolet erklärt. Obschon sie gerade auf dem Feld der Sexualität ihren größten Einfluss auf das feministische Denken der 1970er-Jahre entwickelte, wird sie genau auf diesem Gebiet von Butler und anderen kritisiert. Was bleibt von Beauvoirs Denken für das queerfeministische Denken von heute?
Das „Erbübel, ein Leib zu sein“[2]
Das Thema Sexualität ist zentral in Das andere Geschlecht (1949), dem wichtigsten Werk Simone de Beauvoirs. Will man nachvollziehen, was Beauvoir unter Sexualität versteht und warum sie ihr diesen Stellenwert gibt, muss man ihre zahlreichen Verweise auf die Psychoanalyse sowie ihre philosophische Verortung im humanistischen und existenzialistischen Denken berücksichtigen.
Dass die Psychoanalyse die Sexualität ins Zentrum der menschlichen Subjektwerdung rückt, hat sich schließlich auch im kritischen Denken Simone de Beauvoirs niedergeschlagen. So bezieht sie sich über lange Strecken im Anderen Geschlecht auf den Psychoanalytiker Wilhelm Stekel, dessen lange und detaillierte Lebensberichte von Frauen sie für ihre Analysen nutzt.[3] Dieses Material gibt ihr Aufschluss über die gewalttätige Situation, der die junge pubertierende Frau gegenübersteht, wenn sie sich von ihrer kindlichen „Vergangenheit losreißen will“: „Sie will ihrerseits ein souveränes Subjekt werden. Sozial gesehen findet sie jedoch nur Zugang zu ihrem Leben als Erwachsene, wenn sie sich zur Frau macht.“[4]
Sexualität ist also nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse ins Zentrum der Beauvoir‘schen Analysen gerückt. Ihr konkretes Verständnis von Sexualität ist hingegen stark von der humanistischen Tradition geprägt, die eine strikte Körper-Geist-Trennung vornimmt, woraus häufig eine Abwertung des Körperlichen folgt. Entsprechend vermittelt auch Beauvoirs Schrift eine recht beklemmende Einstellung zum weiblichen Körper, dessen Erleben vor allem mit Scham, Ekel und Angst verbunden zu sein scheint. Ob sie von ersten sexuellen Erfahrungen, von der Frau in der Ehe, von Schwangerschaft oder Menstruation schreibt, Beauvoirs Vokabular beeindruckt durch seine radikale Negativität, die nicht zuletzt auch der dominanten Wahrnehmung von Frauenkörpern entspricht.
Den „Lügen“[5] der Weiblichkeit stellt Beauvoir die Authentizität der Person gegenüber, die eine Frau werden müsste, die anstrebt, endlich vom unwesentlichen zum wesentlichen Wesen zu werden. Der existenzialistischen Sichtweise zufolge entstehen sexuelle Reife und Selbstbewusstsein, wenn man seinem Selbst entrissen ist und sich zum reinen „Fleisch macht“, und das gilt für Frauen und Männer gleichermaßen – oder besser: für alle Menschen eben. Was sexuelle Praktiken betrifft, so überrascht Beauvoirs Schrift durch den Heterozentrismus ihrer Analyse, nicht zuletzt angesichts der Freiheiten, die sich Beauvoir persönlich in dieser Hinsicht nahm. Auch über die Normativität ihrer Vorstellung einer befreiten Sexualität mag man staunen, die mit „Spielerei, Verlust des inneren Gleichgewichts, Mißerfolg, Lüge […], Mißtrauen, […] Bequemlichkeit und Eigengesetzlosigkeit“[6] brechen soll. Im Anderen Geschlecht wird Penetration durchweg und kategorisch als Inbesitznahme beschrieben[7], „die erste Penetration ist immer eine Vergewaltigung“.[8] Und obwohl laut Beauvoir fast alle jungen Mädchen lesbische Tendenzen haben,[9] so gewinnen doch nur solche Lesben ihre Gunst, die das nicht zu offen zeigen und womöglich auch noch in minoritären Subkulturen ausleben.
Ausgehend von der sexuellen Misere der Frau, die sie auch mithilfe der britischen und US-amerikanischen sexologischen Studien von Alfred Kinsey und Havellock Ellis[10] diskutiert, verbindet Beauvoir Sexualität mit der Entwicklung eines Selbstbewusstseins, macht also sexuelle Reife zur Voraussetzung für die Frauenemanzipation, für die Subjektwerdung der Frau. Allerdings muss dafür Beauvoir zufolge immer die ökonomische Gleichheit der Geschlechter gegeben sein, die auch Gegenstand feministischer Auseinandersetzungen in den 1980er-Jahren war. Die Annahme, dass das Heteropatriarchat Frauen mit und durch Sexualität ausbeute, ist zur Grundlage materialistischen feministischen Denkens geworden und zum Beispiel von Christine Delphy, Monique Wittig oder Paola Tabet aufgegriffen worden.[11] Aber auch in Deutschland ist diese Position zum Beispiel bei Alice Schwarzer zu finden.
Sexualität, der Dreh- und Angelpunkt der Frauenunterdrückung
Der wichtigste Beitrag Beauvoirs zur feministischen Forschung ist meiner Ansicht nach, dass sie die gelebte Erfahrung zur erkenntnisleitenden Grundlage gemacht hat, um unterdrückende Strukturen zu verstehen. Sexualität ist jedoch nur ein Teil der vielfältigen gelebten Erfahrungen von Frauen. Wie gelangte also Sexualität zu ihrem Stellenwert im Feminismus der 1970er-Jahre?
Sexualität als von den allermeisten Frauen geteilte Erfahrung bot sich als Thema an, um über die tatsächlich sehr unterschiedlichen Erfahrungen von bürgerlichen, proletarischen, weißen, of color, lesbischen, heterosexuellen, behinderten, religiösen, atheistischen, jungen oder alten Frauen hinweg Allianzen zu begründen. Dies ist das Kernargument des Buchs Der kleine Unterschied und seine großen Folgen von Alice Schwarzer (1975), das mit Übersetzungen in zwölf Sprachen erheblichen Einfluss auf feministisches Denken hatte.[12] Schwarzer führt in diesem Buch bereits fünf Jahre vor Adrienne Rich das Konzept der Zwangsheterosexualität ein.[13] Siebzehn Frauen unterschiedlicher Klassen- und Alterszugehörigkeit hatte Schwarzer interviewt und dem eine Analyse der Zentralität von Sexualität zur Seite gestellt: „Sexualität ist zugleich Spiegel und Instrument der Unterdrückung der Frauen in allen Lebensbereichen.“[14] Damit vereindeutigt Schwarzer eine These, die in Beauvoirs Werk angelegt, aber nicht explizit ausformuliert ist.
Schwarzer, die Beauvoir während ihrer Aufenthalte in Frankreich kennenlernte, hat die Beauvoir-Rezeption in Deutschland stark geprägt. In welchem Ausmaß sie als kulturelle Übersetzerin gelten kann, belegt Schwarzers Adaption der französischen Selbstanzeigeaktion in der Zeitschrift Nouvel Observateur, das berühmte Manifeste des 343 (das auch Beauvoir unterzeichnete), für das deutsche Magazin stern im gleichen Jahr.[15] Allerdings bricht Schwarzer im Kleinen Unterschied explizit mit der Psychoanalyse, die für Beauvoir eine zentrale Analysegrundlage darstellte. Schwarzers Kritik an der Psychoanalyse wird von anderen Feministinnen zu der Zeit geteilt, auch in Frankreich, beispielsweise von Monique Wittig.[16]
Gleichwohl galt es, Beauvoirs Analysen für den feministischen Aktivismus zu nutzen und das Thema Sexualität zur Grundlage des Protests zu machen: Die vermeintlich geteilte Erfahrung sollte Einheit begründen, wo Differenzen und soziale Unterschiede den gemeinsamen Kampf bisher verhindert hatten (in dieser Hinsicht hatten es zum Beispiel die Arbeiter_innen leichter, die sich in der Fabrik bereits an einem Ort geteilter Erfahrung befanden und nur noch zu einem gemeinsamen Bewusstsein kommen mussten). Diese universalisierende Sicht auf Sexualität hat von da an immer wieder feministische Theorien inspiriert, so zum Beispiel von Catharine MacKinnon in den 1980er-Jahren in den USA, der zufolge Sexualität im Patriarchat die gleiche Rolle zukommt wie der Arbeit im Kapitalismus. Für MacKinnon ist Sexualität der Dreh- und Angelpunkt der Geschlechterungleichheit.[17]
Von sexueller Moderne zu multiplen Sexualitäten
Mit der queeren Theoretikerin Judith Butler haben die Beauvoir‘schen Analysen zur Sexualität 1990 eine ihrer schärfsten Kritikerinnen gefunden. Zwar stellt Butler in Gender Trouble die Sexualität ebenfalls ins Zentrum feministischer Geschlechtertheorien[18], doch versucht sie Beauvoirs für sie zu unkritische Übernahme des Körper-Geist-Dualismus zu überwinden. Aus den Ansätzen der Philosophin Luce Irigaray kann sie die These ableiten, dass die Ordnung, die diesen Dualismus hervorbringe, selbst Teil des Problems sei und damit schwerlich zu dessen Lösung beitragen könne.[19]
Butler beschreibt eine heterosexuelle Matrix, auf deren Grundlage vergeschlechtlichte Subjektivitäten entstünden. Doch im Gegensatz zu Monique Wittig, die schon Ende der 1970er Heterosexualität als Grundlage der Geschlechterherrschaft identifizierte, sieht Butler im Lesbischsein keine politische Strategie, um dem Machtverhältnis dieser Matrix zu entkommen. Für Wittig waren Lesben so befreit wie entlaufene Sklaven und verfügten über eine reale Möglichkeit, einen den anderen Frauen versagten Subjektstatus zu erlangen, eine Person zu werden. Butler hingegen hält das ganze Projekt des Personwerdens für verfehlt. Mit Bezug auf Michel Foucaults Geschichte der Sexualität[20] versucht sie vielmehr zu hinterfragen, wieso moderne Subjektivität sich überhaupt zwingend auf eine sexuelle Identität stützen muss.
Fazit
Mit dem Anderen Geschlecht, aber auch indirekt durch die davon inspirierten Texte anderer Autorinnen, hat Beauvoir maßgeblich dazu beigetragen, Sexualität ins Zentrum feministischen Denkens zu stellen. Durch die weiterführenden Arbeiten von Alice Schwarzer, Adrienne Rich, Catharine MacKinnon oder Andrea Dworkin ist Sexualität zu dem Dreh- und Angelpunkt der Frauenbefreiung geworden. Doch hat Beauvoir Sexualität immer im Zusammenhang ökonomischer Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen gesehen. In dieser Schwerpunktsetzung, die gelebte Erfahrung von Frauen im Kontext ökonomischer Ungleichheit zu betrachten, in der Detailgenauigkeit, mit der sie das geschlechtliche Werden aufgrund gemachter Erfahrungen analysiert und damit eine Grundlage für spätere Analysen der Situiertheit von Wissen legt, hierin liegt die Relevanz der Beauvoir’schen Arbeit für den heutigen Feminismus, dem die zentrale Aufgabe zukommt, die gelebten Erfahrungen der verschiedensten Frauen in ihren Kontexten zu begreifen.
Fußnoten
- Dieser Aufsatz, der zuerst in französischer Sprache erschien, wurde von der Autorin ins Deutsche übersetzt und erweitert. Vgl. Cornelia Möser, Après Le Deuxième Sexe, la sexualité en questions, in: Magazine littéraire566 (April 2016), S. 90–92.
- Simone de Beauvoir, Le deuxième sexe, Paris 1949, vol. 1–2; deutsche Ausgabe: Das andere Geschlecht, übers. von Eva Rechel-Mertens und Fritz Montfort, Reinbek bei Hamburg 1982 [1951], S. 340.
- Wilhelm Stekel, Die Geschlechtskälte der Frau. Eine Psychopathologie des weiblichen Liebeslebens, Berlin 1921; französische Ausgabe: La femme frigide, übers. von Jean Dalsace, Paris 1937.
- Beauvoir, Das andere Geschlecht, S. 346. In der zitierten deutschen Übersetzung wird “elle veut devenir à son tour un sujet souverain” mit “Sie will ihrerseits herrschen” übersetzt, was mir problematisch erscheint, weil es an dieser Stelle bei Beauvoir explizit um Subjektwerdung geht, nicht um herrschen, daher meine alternative Übersetzung.
- Ebd., S. 340.
- Ebd., S. 398.
- Z.B. ebd., 309f.
- Ebd., S. 361. Die deutsche Übersetzung beschwichtigt hier mit “Akt der Gewalt”, aber im Original steht an dieser Stelle “viol”.
- Ebd., S. 326.
- Alfred Kinsey, Wardell Pomperoy, Clyde Martin, Sexual Behavior in the Human Male, Saunders, Philadelphia; Havellock Ellis, Studies in the Psychology of Sex, Vol. 1 (The Evolution of Modesty, The Phenomena of Sexual Periodicity, Auto-Erotism, 1900), F.A. Davis, Philadelphia.
- Christine Delphy, L'ennemi principal 1: Économie politique du patriarcat, Paris 1998; Monique Wittig, The straight mind and other essays, New York 1992; oder Paola Tabet, La grande arnaque. Sexualité des femmes et échange économico-sexuel, Paris 2005.
- Alice Schwarzer, Der kleine Unterschied und seine großen Folgen. Frauen über sich: Beginn einer Befreiung, Frankfurt am Main 1975.
- Vgl. Adrienne Rich, Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society, 5 (1989), 4, S. 631–660.
- Schwarzer, Der kleine Unterschied, S.17.
- Vgl. Wir haben abgetrieben, in: stern, 6. Juni 1971.
- Wittig, The Straight Mind and Other Essays.
- Catharine A. MacKinnon, Feminism, Marxism, Method, and the State. An Agenda for Theory, in: Signs 7 (1982), 3, S. 533.
- Judith Butler, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York 1990.
- Butler bezieht sich hier auf die englischen Ausgaben von Luce Irigaray, Ce sexe qui n’en est pas un, Paris 1977, und dies., Speculum de l’autre femme, Paris 1974, die beide 1985 übersetzt wurden.
- Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, übers. von Ulrich Raulff, Frankfurt am Main 1983; ders., Der Gebrauch der Lüste, übers. von Ulrich Raulff, Frankfurt am Main 1986; ders., Die Sorge um sich, übers. von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt am Main 1986.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Imke Schmincke.
Kategorien: Gender
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