Mechthild Bereswill | Rezension |

Solidarität statt Liebe

Rezension zu „They Call It Love. The Politics of Emotional Life“ von Alva Gotby

Alva Gotby:
They Call It Love. The Politics of Emotional Life
Großbritannien
London 2023: Verso
192 S., £ 11.99
ISBN 9781839767036

Analysen zum Verhältnis von Produktion und Reproduktion in kapitalistischen Gesellschaften stehen in engem Verhältnis zu feministischer Gesellschaftskritik. Derartige Analysen und die mit ihnen verbundenen politischen Kämpfe verweisen zwangsläufig auf Utopien des gesellschaftlichen Zusammenlebens jenseits einer bürgerlichen Gesellschaft, deren Geschlechterordnung durch Heteronormativität, leibliche Verwandtschaft, geschlechtsspezifische Formen der Arbeitsteilung und die Abwertung der mehrheitlich von Frauen geleisteten Sorgearbeit strukturiert wird. Insbesondere die affektgebundenen, emotionalen Dimensionen von gesellschaftlicher Sorgearbeit, die sich einer allumfassenden Kommodifizierung entziehen, bleiben dabei unsichtbar. Gefühle gelten als privat, intim und individuell. Zugleich sind Emotionen und gesellschaftliche Geschlechterkonstruktionen eng miteinander verknüpft, beispielsweise in Form bürgerlicher Mutterschafts- und Familienideale oder in der Kopplung von aggressiver Expressivität und Fähigkeiten zur emotionalen Selbstkontrolle mit hegemonialen Männlichkeitskonstruktionen.

Die in London lebende promovierte Medienwissenschaftlerin, Philosophin, Aktivistin und freie Autorin Alva Gotby stellt dieses hegemoniale gesellschaftliche Arrangement radikal in Frage. In ihrem Essay mit dem ironisch anmutenden Titel They Call It Love rückt sie die kaum sichtbare Seite sozialer Reproduktion in den Fokus: „emotional support – comforting those who feel angry or sad, cheering up a family member or friend, or creating a general spirit of niceness at home or at work. It also involves the work of building and maintaining communities and social relations.“ (S. ix) In ihrem Buch erkundet sie gesellschaftliche Konstruktionen von emotionalen Bedürfnissen und die materielle wie subjektive Organisation solcher Gefühlsarbeit. Dabei bezieht Gotby eine große Bandbreite klassischer und aktueller Denkansätze ein (marxistisch-feministisch, queertheoretisch, rassismuskritisch). Aus ihrer Sicht gehen die Funktionalisierung und Individualisierung von Emotionen als Arbeit im Kapitalismus und die Naturalisierung der weißen heterosexuellen Kleinfamilie Hand in Hand (S. 145). Diese Instrumentalisierung verstellt aus Sicht der Autorin den Blick auf die transformative Kraft, die Emotionen für ein zukünftiges gesellschaftliches Zusammenleben haben, in dem Liebe nicht länger an eine exklusive und exkludierende Version von Familie geknüpft ist. Gegenentwürfe zu diesem hegemonialen Modell, die Gotby in ihrem Essay zur Diskussion stellt, werden vielmehr von solidarischer Zuneigung und Zugehörigkeit getragen:

„Love undermines solidarity. In our society, it has been reserved for the intimate sphere of coupledom and family – it is seen as hard to find and jealously guarded. The emotional practice of solidarity is the opposite of the zero-sum game of romantic and familial love. Solidarity means precisely going beyond caring for those to whom we have an emotional attachment to build a lifeworld of intimate strangers.“ (S. 145)

Es handelt sich um den Entwurf einer durch wechselseitige Sorge strukturierten Lebenswelt, in der sich die Intimität des Sorgens und gegenseitige Fremdheit nicht ausschließen. Ein solcher Gesellschaftsentwurf ist für die Autorin mit der Abkehr von kapitalistischen Ausbeutungsbedingungen und mit der Utopie einer kommunistischen Gesellschaft verbunden. Den Weg zu dieser Form von Gesellschaft weisen ihrer Ansicht nach die Lebenswelten von marginalisierten sozialen Gruppen, deren Gewalt- und Ausgrenzungserfahrungen Gotby als Impulsgeber für solidarische Überlebenskämpfe und Gegenentwürfe heranzieht. Aus ihrer Sicht sollten politische Bewegungen Raum schaffen für die Bedürfnisse und Erfahrungen von Menschen, die sich mit dem Ausschluss aus gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen und einer normativ strukturierten Reproduktionssphäre konfrontiert sehen (S. 138). Entsprechend denkt Gotby neue Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens von den Rändern der Gesellschaft her. Auf diese Weise wird nicht nur die bürgerliche Kleinfamilie, sondern auch die Figur des weißen männlichen Proletariers als politisches Subjekt dekonstruiert und dezentriert. Dabei betont die Autorin immer wieder, dass neue Formen von Solidarität und Sorge nur unter veränderten Prduktions- und Reproduktionsverhältnissen zu realisieren sind: „There is a link between these forms of sociality and the project of reclaiming social wealth, the means of production, and access to free time. Forms of solidarity depend on appropriate spatial and material conditions.“ (S. 148)

Um sich zu Gesellschaftsentwürfen durchzuarbeiten, in denen die Materialität und die Emotionalität des Zusammenlebens ineinandergreifen, pendelt der Argumentationsgang des Essays über alle Kapitel hinweg zwischen radikaler Gesellschaftskritik und der fortlaufenden Suche nach bereits gelebten und für die Zukunft vielversprechend erscheinenden Entwürfen einer emotionalen Praxis der Solidarität. In ihrer dicht geschriebenen Einleitung reflektiert Gotby das jüngst wiedererwachte Interesse an marxistisch-feministischen Denkansätzen, beispielsweise von Silvia Federici, sowohl in wissenschaftlichen als auch in aktivistischen Kontexten. Nach Gotby hat dieses Revival älterer Theorien dazu angeregt, Reproduktion als „Terrain“ (S. xi) antikapitalistischer Kämpfe wiederzuentdecken. Dabei verschiebt die Autorin ihre Perspektive zugleich in Richtung der neoliberalen Gegenwartsgesellschaft und reflektiert den Wandel von Arbeits- und Geschlechterverhältnissen im Hinblick auf Prekarisierungen und Entgrenzungen. Der Fokus ihres Argumentationsgangs richtet sich auf die emotionalen und subjektiven Aspekte von reproduktiver Arbeit, unter anderem mit Bezug zu den emotions- und affekttheoretischen Ansätzen von Arlie Hochschild und Sara Ahmed. In diesen emotionalen und subjektiven Dimensionen verortet sie das „disruptive potential“ (S. xvii) der reproduktiven Arbeit. Die Arbeit mit Emotionen wird somit als doppeltes Phänomen von Ausbeutung und Befreiung zugleich untersucht.

Diese Perspektive entfaltet die Autorin in den folgenden fünf Kapiteln des Essays, indem sie die Struktureigentümlichkeiten von Gefühlsarbeit („Feeling Work“, S. xviii) aus verschiedenen Blickwinkeln umkreist. Gotby hat dabei auch im Sinn, was sie als „abolition of gender“ (S. xxiii) bezeichnet, nämlich das Ver- und Neulernen des Umgangs mit Emotionen, deren Potenziale zukünftig nicht mehr an Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit geknüpft sein sollten. Auf diese Weise werden marxistisch-feministische und queere Ansätze in allen Abschnitten des Essays miteinander verwoben, wobei Queerness sowie den Erfahrungen und Praktiken von Trans oder Black Communities transformatorisches Potenzial für den zukünftigen Umgang mit gesellschaftlichen Sorgeverhältnissen attestiert wird.

Im ersten Kapitel Emotional Reproduction (S. 1) entfaltet die Autorin ein Kaleidoskop aus theoretischen Perspektiven auf Rolle und Funktion der Familie als „proper place of intense feelings“ (ebd.) und als Ort der Gewalt, des Traumas wie auch der ideologischen Investition in Liebe und Arbeit. Dabei wird ein weiter Argumentationsbogen geschlagen: vom Konzept der Gefühlsarbeit über die Kritik eines affektiven Individualismus, das Sorgemonopol der Familie, die Privatisierung von heteronormativer Elternschaft, die Abhängigkeit von Kindern bis hin zu klassenspezifischen Formen der emotionalen Reproduktion und den Grenzen der Kommodifizierung von Reproduktionsarbeit. Auch im zweitem Kapitel (S. 28) geht Gotby ihren Gegenstand aus verschiedenen Perspektiven an, um zu zeigen, wie die Krise der sozialen Reproduktion und die Prozesse der Naturalisierung und Privatisierung von Arbeit und Gefühlen ineinandergreifen. „Heterosexuality is the naturalisation of unwaged labour – through heterosexuality, the gendered division of labour becomes natural, desirable, and good.“ (S. 47)

Gotby spitzt ihre Kritik im dritten Kapitel weiter zu, indem sie die Ko-Konstitution von Arbeit, Emotionen und Geschlecht diskutiert. Dabei argumentiert sie stets mit Blick auf die klassenspezifischen Formungen dieser Verschränkungen: „Niceness is a bourgeois family value which women are compelled to create through both domestic and emotional labour.“ (S. 56) Hinzu kommt die Verschränkung von bürgerlichen Weiblichkeitsidealen mit „whiteness“ (S. 57). Den in diesem Kapitel entfalteten, teilweise recht pauschal formulierten Perspektiven auf die Instrumentalisierung von Weiblichkeit und die Ausbeutung von Frauen setzt Gotby im vierten Kapitel mit dem Titel Feminist Emotions Versionen einer „feminist subjectivity“ (S. 90) entgegen, deren „outlaw emotions“ (S. 91) sie als Quelle des Widerstands gegen die zuvor analysierten Verhältnisse darstellt. Hier wird die Bedeutung von widerständigen und als deviant stigmatisierten Gefühlen für politische Prozesse betont. Gefühle wie Zorn, Frustration, Unzufriedenheit oder emotionale Krisenausbrüche, die soziale Konventionen durchkreuzen, haben aus dieser Perspektive subversives Potenzial. Zugleich beschwört die Autorin eine kollektive feministische Subjektivität herauf (S. 91). Auch wenn es sich hierbei nicht um die essentialistische Version eines feministischen Kollektivsubjekts handelt, erstaunt diese Affirmation eines Kollektivsubjekts dennoch, weil sie deutlich hinter den differenzierten Blick auf komplexe politische Bündnisse zurückfällt. Zugleich bezieht Gotby sich in diesem Kapitel, wie auch in allen anderen, ausdrücklich und mit großer Emphase auf die vielfältigen Stimmen Schwarzer Feminist:innen, auf queere Positionen und auf klassenspezifische Anliegen, wobei sie die „working class“ nicht auf Lohnarbeitende beschränkt und davon ausgeht, dass Menschen, die aus Lohnarbeitsverhältnissen ausgeschlossen und sozial marginalisiert sind, wichtige politische Kämpfe ausfechten und für solche auch gewonnen werden sollten (S. 98). Außerdem betont die Autorin die wichtige Rolle, die Forderungen nach einer Entgeltzahlung für Hausarbeit im Rahmen einer radikalen Kritik an den Arbeitsverhältnissen in der kapitalistischen Gesellschaft spielten. Diese Bewegung, so Gotby, wollte ein kollektives feministisches Subjekt hervorbringen, das Forderungen nach einer anderen Welt formulierte, nämlich einer ohne feminisierte Arbeit und die sie begleitenden gesellschaftlichen Arbeitsbeziehungen (S. 109). Vor diesem Hintergrund holt Gotby im letzten Kapitel ihres Essays weit aus, um den gegebenen Verhältnissen A Different Feeling entgegenzusetzen. Zunächst grenzt sie sich scharf von gleichstellungspolitischen und Mainstreaming-Strategien ab, die sie als heteronormative und weiße Tunnelperspektiven kritisiert, die ihrer Auffassung nach zudem dazu beitrügen, Geschlechterdifferenzen zu verfestigen. Im Fokus steht hierbei auch die Familie, deren Status als primärer Ort von Sorge in solchen Ansätzen nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr perpetuiert würde. Dem setzt Gotby die Abschaffung der Familie und die Überwindung einer binären Geschlechterordnung entgegen. Wege für diesen Prozess weisen aus ihrer Sicht „black, indigenous, trans, and intersex feminists, who have long struggled against the physical and psychic imposition of binary white heterogender“ (S. 126) und Ansätze eines queeren Marxismus (S. 128). Konkrete Entwürfe neuer Formen von Sozialität hält sie allerdings nicht für sinnvoll, wenn sie schreibt, „we should not pretend to know too much too soon, or seek a ready-made blue print for future sociality.“ Vielmehr plädiert sie mit Shulamith Firestone für „utopian gestures towards the future“ (S. 129), um dem mangelnden Imaginationsvermögen für Alternativen zur bürgerlichen Kleinfamilie etwas entgegenzusetzen. Solche utopischen Gesten müssten der Autorin zufolge in einer gemeinsamen Praxis entstehen, statt konzeptionell vorgedacht zu werden. Gotbys Konzept für eine solche Praxis lautet „queering“ (ebd.), worunter sie eine große Bandbreite von devianten Praktiken der Reproduktion und der wechselseitigen Sorge fasst. Entsprechend entfaltet sie in diesem letzten Kapitel ein Kaleidoskop an hypothetischen wie konkret gelebten Gegenentwürfen jenseits der traditionellen Familie wie etwa die Überwindung separater Einrichtungen für die Versorgung von Kindern und älteren Menschen im Sinne einer „generational integration“ (S. 134) jenseits der Kleinfamilienstruktur. Gotby plädiert für eine Praxis, die „queering eldercare“ (S. 133) und „non-exclusive forms of childcare“ (S. 134) verbindet und findet Inspirationen für eine solche Praxis auch in der „African-American tradition of multiple forms of parenting“ (S. 135), aber auch spezifische Formen von Sozialität und Solidarität, die kriminalisierte Menschen aufgrund ihrer Ausgrenzung entwickeln. Die Autorin zieht hierzu insbesondere die Ausgrenzung und Kriminalisierung von queeren Menschen heran (S. 138), wobei sie das Beispiel der 1970 von Sylvia Rivera und Marsha P. Johnson gegründeten Street Transvestite Action Revolutionaries (STAR) anführt (S. 138 f.). Abschließend plädiert Gotby für „radical politics of friendship“ (S. 142) als eine Strategie zur Abschaffung des normativen Modells der Kleinfamilie.

They Call It Love ist ein elegant formulierter, sehr gut zu lesender Essay. Alva Gotby schöpft das Potenzial dieses Genres weit aus, indem sie zahlreiche verschiedene Stimmen und zu verschiedenen Zeiten geführte Debatten aus unterschiedlichen Kontexten versammelt und daraus einen eigensinnigen Argumentationsgang entwickelt. Die verschiedenen Kapitel gehen fließend ineinander über, Denkfiguren werden wiederholt, zugleich verschoben und weitergesponnen. Dabei verschränken theoretische Analysen und politischer Aktivismus sich fortlaufend, mit dem Ziel einer radikalen Gesellschaftsveränderung, die von den Rändern der Gesellschaft her gedacht wird. Dabei entgeht die Autorin nicht der Gefahr einer Idealisierung von sozial marginalisierten sozialen Gruppen als revolutionäre Subjekte, gleichwohl sie die Grenzen dieser Denkfigur auch reflektiert. Ihre Zusammenschau utopischer Gesten in Richtung Zukunft ist bewegend und bleibt zugleich flüchtig – eine Leseerfahrung, die der Absicht der Autorin, bewusst keine „blueprints“ für eine zukünftige Gesellschaft zu liefern, entsprechen dürfte.

Mit ihrer Belesenheit und kreativen Ausdruckskraft würdigt Alva Gotby wegweisende Arbeiten und Ansätze einer nicht-normativen Sozialität, die aus ihrer Sicht nur in einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft, in Form eines noch zu findenden queeren Kommunismus verwirklicht werden könnte. Die Lektüre des Essays regt auf jeden Fall zum Weiterdenken, aber auch zum Widerspruch an.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Affekte / Emotionen Care Familie / Jugend / Alter Feminismus Gender Gesellschaft Kapitalismus / Postkapitalismus Körper Lebensformen Politik Queer

Mechthild Bereswill

Prof. Dr. Mechthild Bereswill ist Professorin für die Soziologie sozialer Differenzierung und Soziokultur an der Universität Kassel. Ihre Arbeitsschwerpunkte in Forschung und Lehre sind feministische Geschlechterforschung, soziale Probleme und soziale Kontrolle, qualitative Methodologien.

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