Gundula Ludwig | Essay |

Souveränitätsphantasma und Normalitätsfetisch

Politik in Zeiten der Corona-Krise

Seuchen ohne Seuchenpolitik gibt es nicht. Der Medizinhistoriker Malte Thießen bezeichnete Seuchen als die „sozialsten aller Krankheiten“[1] – nicht nur, weil sie die gesamte Gesellschaft betreffen, sondern auch, da gesellschaftliche Diskurse festlegen, wie Menschen Seuchen erfahren und mit ihnen leben. In den Diskursen, welche die unterschiedlichen Maßnahmen begleiten, mit denen der Covid-19-Pandemie seit nunmehr zwei Jahren in Deutschland begegnet wird, prägen insbesondere zwei Begriffe die gesellschaftlich-politische Wahrnehmungsweise der Pandemie: Zum einen ist von Beginn an Freiheit eine gewichtige Größe, zu der die Maßnahmen stets in ein Abwägungsverhältnis gesetzt werden. Zum anderen findet sich in der politischen Rahmung der Pandemie an prominenter Stelle das Versprechen, dass Souveränität auch in Ausnahmezeiten der beste politische Kompass sei, um als Staat erfolgreich zu navigieren – ungeachtet dessen, dass diese vermeintliche Ausnahmesituation mittlerweile schon seit zwei Jahren andauert und in dieser Zeit Alltäglichkeiten irritiert und Gewissheiten zerstört hat. Im Folgenden möchte ich diese zwei Elemente und die mit ihnen verbundenen politischen Rahmungen aus der Perspektive der politischen Theorie reflektieren und dabei nach Bruchlinien moderner westlicher Gesellschaften fragen.

1. Freiheit als „Egopolitik“

„Freiheit“ wurde mit der Covid-19-Pandemie zum zentralen politischen Schlagwort. Besonders deutlich zeigt sich dies anhand der Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen, bei denen Rechtsextreme, Rechtspopulist*innen, Antisemit*innen und Esoteriker*innen zusammenkommen und sich als Verteidiger*innen der Freiheit inszenieren. Im Folgenden will ich den Fokus jedoch nicht auf die Corona-Demos legen, sondern ganz grundlegend fragen, wie der Begriff der „Freiheit“ von staatlicher Seite bis heute in den hegemonialen Politiken und Rhetoriken verwendet und mit der Pandemie verknüpft wird.

Ein Blick auf die Anfänge der Covid-19-Pandemie macht schnell deutlich, dass die politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie stets als Einschränkungen der individuellen Freiheit gerahmt wurden. Damit setzte sich von Beginn an ein Freiheitsverständnis durch, das mit dem liberalen Theoretiker Isaiah Berlin[2] als negatives Freiheitsverständnis bezeichnet werden kann: Demnach besteht Freiheit nicht im gemeinsamen Handeln, sondern in der Abwesenheit äußerer Einschränkungen oder Hindernisse. Der liberalen Idee der negativen Freiheit zufolge gibt es einen Bereich im Leben der Individuen, der politischen und gesellschaftlichen Einflüssen und Zugriffen entzogen bleiben muss: die Sphäre der Privatheit. Die Anderen und die Gemeinschaft erscheinen aus dieser Perspektive als potenzielle Gefahr für die eigene Freiheit, die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie als eigentlich unzulässige und nur ausnahmsweise gerechtfertigte Eingriffe in die Privatsphäre.

Genau dieses Freiheitsverständnis wurde trotz aller Beschwörungen eines nationalen Wir im Zuge der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie immer wieder aufs Neue akzentuiert. Entsprechend wurden die Menschen vorrangig in ihrer Eigenschaft als Träger*innen individueller Freiheitsrechte adressiert, die es nun galt, in unterschiedlichen Ausmaßen zurückzustellen. Die Aufrufe zur Solidarität lassen sich daher als Aufrufe zu einer „monadischen Solidarität“[3] verstehen, die auf dem Ideal der negativen Freiheit basiert.

Dieses Freiheitsverständnis ist keineswegs neu. Es entspricht weitgehend jener Vorstellung von Freiheit, die in den letzten Jahrzehnten des Neoliberalismus hegemonial wurde. Das neoliberale Ideal der Freiheit hat das isolierte Subjekt ins Zentrum gerückt, das Margaret Thatcher mit ihrer berühmt gewordenen Losung „There is no such thing as society“ zur politischen Basiseinheit erklärt hat. Die Traditionslinien des negativen Freiheitsverständnisses lassen sich freilich noch viel weiter zurückverfolgen. Wie dekoloniale Theoretiker*innen gezeigt haben, wird das Subjekt der negativen Freiheit als vollständig autonome, beziehungs- und bedürfnislose Monade imaginiert. Mit dem dekolonialen Theoretiker Walter Mignolo lässt sich die mit dieser Vorstellung des Individuums verbundene Form politischen Handelns als „Egopolitik“[4] charakterisieren. Diese bildete sich, wie Mignolo zeigt, während der Neuzeit mit dem Kolonialismus heraus und strukturiert bis in die Gegenwart die Art und Weise, in der sowohl Beziehungen zwischen Menschen als auch zwischen Mensch und Natur konzipiert werden. Egopolitik basiert auf der Verleugnung der wechselseitigen Verbundenheit und Abhängigkeit und nimmt die menschliche ebenso wie die nicht-menschliche umgebende Welt nur als Materie beziehungsweise Objekte wahr, was zu deren Ausbeutung und im Extremfall zu deren Vernichtung führt.[5] Ähnlich formuliert es Achille Mbembe. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer rassistischen „Trennungsarbeit“,[6] die ihre Wurzeln im Kolonialismus und der Versklavung hat und eine „auf Gegenseitigkeit oder wechselseitiger Einbindung beruhende Beziehung“[7] verhindert und zu dem Phantasma verleitet, dass wir uns wie Monaden aus der grundlegenden Verbindung miteinander und mit der Umwelt lösen könnten. Das negative Freiheitsverständnis basiert genau auf diesem weißen, eurozentrischen Phantasma des Subjekts, das seine grundlegende Relationalität und Abhängigkeit verleugnet.

Wie insbesondere Judith Butler argumentiert hat,[8] ist jedoch Relationalität, also das Angewiesensein auf und das Ausgesetztsein an andere, genau das, was menschliches Leben ausmacht – nicht zuletzt, weil Leben immer körperliches Leben ist. Der Körper – so zeigt die Pandemie überaus deutlich – setzt uns den anderen notwendig aus und diese fundamentale Verwobenheit können wir nicht überkommen, es sei denn um den Preis der sozialen Isolation. Aus Butlers Perspektive ist unser Körper daher keine abgeschlossene Entität, sondern „Modus einer Beziehung“, die zugleich ein „Modus der Enteignung“ ist.[9] Denn durch unseren Körper sind wir notwendigerweise mit anderen Körpern, anderen Individuen und dem Sozialen verbunden und genau diese Verbindung, über die wir niemals gänzlich verfügen können, ist unabdingbar für das (Über-)Leben. Der Körper ist „konstitutiv sozial und interdependent“, er ist „sowohl an seiner Oberfläche als auch in seiner Tiefe ein soziales Phänomen“.[10] Demnach „ist die beschränkte und lebendige Erscheinung des Körpers die Bedingung dafür, dass wir dem anderen ausgesetzt sind; wir sind dem Flehen, der Verführung, der Leidenschaft und der Verwundung ausgesetzt und dies in einer Weise, die uns sowohl stärken aus auch zerstören kann“.[11] Körper sind in ihrem (Über-)Leben folglich von externen Bedingungen abhängig: von menschlichen und nicht-menschlichen Anderen, von sozialen Beziehungen und Gefügen, von Umweltbedingungen und staatlichen Institutionen. „Das ‚Sein‘ des Körpers […] ist ein immer schon anderen überantwortetes Sein, es ist immer schon auf Normen und soziale und politische Organisationen verwiesen“.[12] Mit Butlers Feststellung, dass Körper untrennbar mit den politischen Bedingungen ihrer Existenz verwoben sind, wird der Körper aus dem individualistischen Korsett der liberalen Denktradition herausgelöst:

„Wir können uns überlegen, wie wir den menschlichen Körper durch Identifikation seiner Grenze von anderen Körpern scheiden können; wir können uns überlegen, an welche Form er gebunden ist. Aber damit verfehlen wir den entscheidenden Punkt, dass der Körper auf bestimmte Weise und sogar unausweichlich gar keine Grenze besitzt […]. Er ist außer sich, in der Welt der anderen, in einem Raum und in einer Zeit, die er nicht beherrscht, und er existiert nicht nur im Vektor dieser Beziehungen, sondern ist selbst dieser Vektor. In diesem Sinn gehört der Körper nicht (zu) sich selbst.“[13] Der Körper ist also keine „von einer Grenze umschlossene Entität“,[14] sondern „eine lebendige Menge von Beziehungen“.[15]

Von einem derartigen Verständnis des Körpers ausgehend erweisen sich die theoretischen Grundlagen der negativen Freiheit als defizitär. Die Verleugnung der menschlichen Relationalität führt im Aufrufen der negativen Freiheit dazu, „eine interdependente gesellschaftliche Bedingung der Politik zu zerstören“,[16] wie sich in den Corona-Politiken zeigt: Das individualistische Freiheitsverständnis, das den hegemonialen Diskurs über Corona prägt, vermag diese grundlegende Relationalität nicht zu fassen und auch nicht lebbar zu machen, sondern versucht sie zu verleugnen. Das negative Freiheitsverständnis und die ‚monadische Solidarität‘[17] verkennen zudem, dass wir immer schon in ein soziales Netz eingebettet sind, über das wir nie gänzlich verfügen können. Nur aus dieser egopolitischen Perspektive können rechtsstaatliche und verhältnismäßige Maßnahmen zur Eindämmung einer globalen Pandemie als Beschränkung meines Ichs, meiner Privatsphäre und meiner Rechte erscheinen. Damit wird aber auch der politische Diskurs verengt: Es geht – so lässt sich nach zwei Jahren Corona-Politiken resümieren – vorrangig um die Frage, welche Einschränkungen in die je eigene Freiheit (noch) legitim sind, statt um die Frage, wie wir im Ausgang von der notwendigen Verbundenheit aller Körper einen solidarischen und nachhaltigen Umgang mit der für Menschen konstitutiven Relationalität, Abhängigkeit und Verletzbarkeit finden können.

Aus einer solch umfassenden Perspektive betrachtet, erweisen sich die schrillen Rufe nach Freiheit, wie sie auf den Demos gegen die Corona-Maßnahmen erschallen, als gefährliche Zuspitzung einer weißen, eurozentrischen Sehnsucht nach individueller Loslösung aus der sozialen Verwobenheit mit den anderen. Dieses Phantasma ist tief in die Grundstrukturen der modernen Ordnung eingeschrieben und hat sich auch schon vor der Pandemie in vielfältigen Formen der Indifferenz gegenüber dem Leben und Sterben anderer – beispielsweise infolge von Flucht oder aufgrund der Auswirkungen der „imperialen Lebensweise“[18] im Globalen Süden – gezeigt.

2. Souveränität als Phantasma

Das Corona-Virus legte auf deutliche Weise unsere menschliche Vulnerabilität frei – und zwar in einem Ausmaß, dass sie auch jenen von uns im Globalen Norden bewusst wurde, die das Faktum der Vulnerabilität aufgrund ihrer privilegierten Lebensweise bislang weitgehend verdrängen konnten. Die dominante politische Antwort auf diese verallgemeinerte Erfahrung der Vulnerabilität besteht in einem Festhalten am Prinzip der Souveränität. Dies wurde an den nationalen Grenzschließungen und der globalen Konkurrenz um Schutzausrüstungen und Impfstoffe ebenso deutlich wie an der von Politiker*innen verschiedener Nationen geübten Kriegsrhetorik, die ihre jeweiligen Bevölkerungen dazu aufriefen, das Virus zu besiegen.

Aus queer-feministischer und dekolonialer Perspektive ist der Rekurs auf das Souveränitätsphantasma in vielerlei Hinsicht problematisch. Zuvorderst beruht es ebenso wie die Idee der negativen Freiheit auf einer irrigen Vorstellung, in diesem Fall der Vorstellung vollständiger Kontrolle und absoluter Sicherheit. Die Annahme, dass menschliches Leben gänzlich geschützt und abgesichert werden könne, ist – zumal in einer Pandemie – eine Omnipotenzfantasie, die kein Staat der Welt einlösen kann. Dennoch wird mit dem Souveränitätsphantasma und dem damit verbundenen Sicherheitsversprechen des Staates die alte weiße patriarchale Tauschlogik von Schutz und Unterwerfung reaktiviert.[19]

Darüber hinaus trägt das maskulinistische Phantasma souveräner Nationalstaatlichkeit dazu bei, politische Asymmetrien und ökonomische Abhängigkeiten zu verschleiern. Staaten aus dem Globalen Süden können angesichts postkolonialer Machtverhältnisse nicht in dem gleichen Maße Souveränität für sich beanspruchen wie die einflussreichen und zahlungskräftigen Staaten des Globalen Nordens. Für die Bevölkerung in den Staaten des Globalen Südens bedeutet dieser Umstand einmal mehr ein erhöhtes Risiko des Todes. Während im Zuge des Kolonialismus viele Menschen durch eingeschleppte Seuchen ihr Leben verloren, führt gegenwärtig die eurozentrische postkoloniale Aufteilung der Welt in Nationalstaaten dazu, dass die Menschen im Globalen Süden infolge der ungleichen Verteilung von medizinischem Gerät, Schutzausrüstungen und Impfstoffen deutlich höheren Gesundheitsrisiken ausgesetzt sind. Zugleich bedient das Souveränitätsphantasma das koloniale Narrativ, dem zufolge alle anderen Erdteile Europa unterlegen seien.[20] Dass die Erfolge von vielen afrikanischen Ländern wie etwa Senegal, wo sehr früh vor Ort entwickelte Schnelltests zur Anwendung kamen,[21] in den Diskursen des Globalen Nordens zur Eindämmung von Covid-19 kaum Erwähnung finden, ist davon beredter Ausdruck. Zugleich zeigt sich darin die anhaltende Ignoranz der Staaten des Globalen Nordens, von Staaten aus dem Globalen Süden und deren Erfahrungen mit vorangegangenen Epidemien zu lernen.

Darüber hinaus führt das Souveränitätsphantasma zu einer eingeschränkten Form von Politik. Anstatt Politik zu einem Raum zu machen, in dem die mit einer Pandemie einhergehenden Unsicherheiten artikuliert und kollektiv bearbeitet werden können, prägt ein zutiefst maskulinistischer wie eurozentrischer Politikstil die Corona-Krise: Das hegemoniale Politikverständnis basiert auf dem Versprechen, auch in einer Ausnahmesituation mit ungewissem Verlauf Unsicherheiten und Unkontrollierbarkeit überkommen zu können. Es zielt darauf ab, Unsicherheit durch Gewissheit, Souveränität und eine starke Führung zu überwinden und ehestmöglich zur vermeintlichen Normalität der vorpandemischen Welt zurückzukehren. Diese politische Praxis korreliert mit der Erwartungshaltung, dass die Menschen trotz Erschöpfungszuständen, Zusatzbelastungen, Angst und Sorge weitgehend funktionieren sollen: Es gibt kaum Arbeitserleichterungen – weder für Menschen, die in sogenannten systemrelevanten Berufen tätig sind oder all ihre Tätigkeiten auf Online-Formate umstellen müssen, noch für Menschen mit Sorgeverpflichtungen oder Schüler*innen und Student*innen, die weiterhin nahezu unveränderte Leistungen erbringen sollen. Und auch emanzipatorische Diskurse über einen demokratischen, nachhaltigen Umgang mit Unsicherheit, Verletzbarkeit und Unkontrollierbarkeit sucht man in der breiteren Öffentlichkeit vergeblich. Stattdessen prägt der Fetisch der Normalität den politischen Diskurs. Die Rückkehr zur vermeintlichen Normalität, symbolisch überhöht in der Ausrufung eines Freedom Day, ist das erklärte Ziel, dem alles andere untergeordnet wird. Die Fixierung auf das Ende der staatlich verordneten Corona-Maßnahmen verstellt den Blick auf die strukturellen Ursachen der Corona-Krise wie die „Entsorgung der Sorge“,[22] die „Trennungsarbeit“[23] und die Unfähigkeit, das Zusammenleben an den Bedürfnissen aller Menschen auszurichten – allesamt strukturelle Defizite, die der kapitalistischen, heteronormativ-patriarchalen, postkolonialen Gesellschaftsordnung inhärent sind. Ein wichtiger Kipppunkt war hier der Spätfrühling 2020: Während es in den ersten Wochen der Pandemie zu erstaunlich offenen politischen Diskussionen über die Problematik der kapitalistischen Globalisierung, die Neoliberalisierung der Gesundheitssysteme, die prekäre Versorgung von alten und kranken Menschen oder die Zunahme von häuslicher Gewalt in heteronormativen Familien kam, gelangten diese systemkritischen Diskurse im Zuge des von den politisch Verantwortlichen versprochenen ‚normalen Sommers‘ rasch an ihr Ende.

Das Souveränitätsphantasma begegnet schließlich auch in der Rahmung der Impfung als Allheilmittel der Covid-19-Pandemie. Die Krise werde vorbei sein, so war bereits im ersten Jahr der Pandemie zu hören, sobald es einen wirksamen Impfstoff gebe. Wie wir allerdings schon damals aus den Erfahrungen mit HIV/Aids hätten prospektiv folgern können, würde dies primär eine ‚Lösung‘ für die Staaten des Globalen Nordens sein. So hat die die Einführung von anti-retroviralen Medikamenten bei HIV/Aids nicht zu einem Ende der Krankheit, sondern zu ihrer Verlagerung vom Globalen Norden in den Globalen Süden geführt. Ähnliches zeichnet sich nun auch in der Covid-19-Pandemie ab, wie ein Vergleich der Impfraten im Globalen Norden mit denen im Globalen Süden zeigt.

Ohne Zweifel erweist sich die Impfung als wichtige Errungenschaft in der Pandemiebekämpfung. Allerdings ist aus der Perspektive kritischer politischer Theorie augenfällig, dass in der hegemonialen Politik die Impfung wie ein diskursiver Verkleinerungsspiegel wirkt, der die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, die dazu beitrugen, dass die Pandemie zu einer globalen Krise werden konnte, marginalisiert. Notwendige Debatten über die strukturellen Voraussetzungen der Krise und die damit einher gehende Frage, wie sich Pflege und Sorge anders als im heteronormativ-patriarchal-postkolonialen Kapitalismus organisieren lassen, werden durch die Fokussierung auf die Impfung als Königsweg zurück zur Normalität zum Verstummen gebracht. Und auch hier zeigt sich, dass die öffentlich geführten Auseinandersetzungen durch nationalistische und kapitalistische Logiken begrenzt sind: Die Fixierung auf die Impfquote der je eigenen Nation und die Ausblendung der globalen Verteilung von Impfstoffen sind dafür ebenso Beleg wie die insbesondere für Deutschland charakteristische Vermeidung einer Diskussion über eine mögliche Freigabe der Impfpatente.

Das Vertrauen auf die ,normalisierende‘ Wirkung der Impfung und ihre Rahmung als Allheilmittel setzen einen seitens der kritischen politischen Theorie schon vor der Pandemie problematisierten Trend fort: Die Technokratisierung von Politik, also die Verengung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse auf technisch zu lösende Probleme. Die dekoloniale Feministin Françoise Vergès weist genau diese technokratische Machbarkeitsphantasie als ein Element des „rassifizierten Kapitalozäns“ aus, das auf der Vorstellung beruhe, „that ‚Man‘ can invent a mechanical, technical solution to any problem“.[24]

Das Souveränitätsphantasma ist schließlich auch aus einer demokratietheoretischen Perspektive bedenklich: Denn die Corona-Krise traf ja neben der Krise des neoliberalen Kapitalismus und der fundamentalen Care-Krise auch auf eine Krise der Demokratie. Eine Aushöhlung demokratischer Prozesse, technokratische Verengungen von Politik und eine wachsende Akzeptanz autoritärer Politik waren bereits vor der Pandemie zu beobachten. Die entsprechenden Tendenzen beschränkten sich dabei keineswegs nur auf das Spektrum der rechtspopulistischen Parteien und ihrer Anhänger*innen, sondern wirkten bis weit in die politische Mitte hinein. Diese Krisentendenzen der Demokratie spitzen sich weiter zu: Die exkludierenden, autoritären, antisolidarischen, antisemitischen Positionen, die auf den Corona-Demonstrationen mittlerweile unverhohlen vertreten werden, sind nur der lautstärkste und sichtbarste Ausdruck davon. Sie dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die zuvor geschilderten Formen der Technokratisierung und Verengung von Politik einem etatistischen und nur bedingt demokratischen Politikverständnis Vorschub leisten, das sich weiterhin am weißen, androzentrischen Souveränitätsphantasma orientiert.

3. Wider den Normalitätsfetisch

Ganz gleich, wie oft sie ausgerufen wird, eine Rückkehr zur Normalität ist eine Illusion. Ein „Weiter so“ wird die gegenwärtigen Krisen nicht lösen. An die Stelle der „Politiken der Starken“ muss vielmehr, wie Yener Bayramoğlu und Maria do Mar Castro Varela in ihrem Buch Post/Pandemisches Leben schreiben,[25] ein neuer Umgang mit „Fragilität“ treten.[26] Dafür braucht es eine radikale Perspektivverschiebung, die das negative Freiheitsverständnis wie das Souveränitätsphantasma überwindet. Ähnlich plädiert Bini Adamczak dafür, die Corona-Krise zu nutzen, um deren „Potenzial, andere Bilder zur Verfügung zu stellen“,[27] emanzipatorisch zu wenden. Die Corona-Krise, so Adamczak, rufe „eine fundamentale Abhängigkeit in Erinnerung, jedoch eine, die direkt unter die Haut geht“ – unter anderem, weil „Menschen nicht nur durch ihre Daten, Waren und Währungen miteinander verbunden [sind], sondern weltweit auch durch ihre Körper“.[28]

Es gilt, an die Stelle des „Anthroponarzissmus“[29] neue „Beziehungsweisen“ zu stellen,[30] die von der Verletzbarkeit, der Relationalität und der Sorge ausgehen. Dazu gehört auch, eine Haltung zu erlernen, die es uns ermöglicht, Relationalität, Ausgesetztsein und Abhängigkeit nicht als Mangel oder Verlust zu erleben, sondern als Ausgangspunkt für neue Formen von Politik und Gemeinschaft. Wenn die geteilte Abhängigkeit weder verleugnet noch als Bedrohung gerahmt wird, dann folgt daraus, wie Butler verdeutlicht hat, ein demokratischer Impetus. Denn mit „dem Bekenntnis, dass wir einander brauchen, bekennen wir uns auch zu Grundprinzipien, die die sozialen und demokratischen Bedingungen für ein lebenswertes Leben mitbestimmen“.[31] Eine solche Politik, die von der fundamentalen Relationalität und Angewiesenheit aller ausgeht, würde – im Gegensatz zur gegebenen heteronormativ-patriarchalen, postkolonialen, kapitalistischen Gesellschaftsformation – von den Bedürfnissen aller ausgehen und diese nicht mittels Herrschaft in einer Weise regulieren, sodass sie nur fragil, mangelhaft und nicht-nachhaltig gesichert werden können.

Diese neuen „Beziehungsweisen“[32] und diese neue Form von Politik müssen freilich nicht erst erfunden werden, da es hierfür viele emanzipatorische Archive gibt. Eines davon ist das queere Archiv der Kämpfe und Praktiken in der HIV/Aids-Krise. Wie auch Bayramoğlu und Castro Varela schreiben, wurden in den 1980er-Jahren in queeren Communities neue Sorge-Netzwerke entwickelt, die sowohl heteronormativ-patriarchale Familienstrukturen transzendierten als auch die ebenso heteronormativ-patriarchale Grenzziehung von Öffentlichkeit und Privatheit. Ermöglicht wurde dies dadurch, dass die Sorge und die Begleitung durch Krankheit und Tod nicht familialistisch geregelt wurde, sondern durch Freund*innennetzwerke oder „Aids-Buddy-Systeme“,[33] deren Mitglieder auch ihnen unbekannte Aids-Erkrankte begleiteten. „Den Aidsaktivist*innen gelang es trotz Anfeindungen, ein alternatives Netzwerk der Pflege, Solidarität, Intimität und Verbundenheit zu entwickeln. Damit unterliefen sie auch die rigiden Kategorien der Zugehörigkeit. Solche Formen der Verbundenheit und des Mitgefühls waren nur möglich, weil nicht nur die Fragilität des Lebens der ,Anderen‘ anerkannt wurde – als derer, deren Leid ansonsten gerade nicht als solches anerkannt wurde –, sondern auch die Fragilität des eigenen Lebens.“[34]

Im Kontext der HIV/Aids-Krise wurden von queeren Aktivist*innen nicht nur neue Sorge-Netzwerke entwickelt, sondern auch neue kollektive Umgangsformen mit dem Tod. Auch für Trauer und Tod ist in der Corona-Gegenwart zwischen Normalitätsfetisch und Souveränitätsphantasma kaum Raum und Zeit – und auch hierfür ließe sich aus dem queeren Aids-Aktivismus viel lernen. Denn in diesem wurde das Sterben bewusst als Teil des Lebens erfahrbar gemacht, wofür nicht zuletzt neue Umgangsweisen mit dem Tod sowie besondere Rituale des Trauerns und des Gedenkens entwickelt wurden.

Die Archive, in denen wir auf der Suche nach Politiken jenseits des Souveränitätsphantasmas fündig werden können, sind jedoch keineswegs auf Pandemiepolitiken beschränkt. In radikalen, queeren, feministischen, Schwarzen, dekolonialen Aktivismen und Praxen werden immer schon andere Formen des Lebens und der Solidarität ausgelotet, ausprobiert, entdeckt und gelebt: Praxen des buen vivir, wie es von indigenen Aktivist*innen in Südamerika als Gegenkonzept zum postkolonialen Kapitalismus entwickelt wurde, Bewegungen wie Fridays for Future, die für eine neue „Responsabilität“[35] eintreten, Black Lives Matter und die #Niunamenos-Bewegung, die sich gegen die rassistische „Trennungsarbeit“ und die damit verbundene Gewalt engagieren, queer-feministische Sorge-Streiks – all diese Bewegungen und Aktivismen lassen sich mit Eva von Redecker als Elemente einer „Revolution für das Leben“[36] verstehen, in deren Rahmen auf der Grundlage von Relationalität und Abhängigkeit neue Formen der Politik und des Zusammenlebens erprobt werden. Isabell Lorey hat unter Rekurs auf queer-feministische Sorgestreiks den Begriff der „präsentischen Demokratie“[37] eingeführt und argumentiert, dass in diesen Netzwerken ein neues „soziales Band“ entworfen werde, „das Sorge und Verbundenheit mit anderen nicht abwertet, sondern vielmehr davon ausgeht“. Queer-feministische Sorgekämpfe und -streiks begreift Lorey als „eine situierte und internationale politische Strategie, das Prekärsein, die Abhängigkeit jeden Lebewesens von Sorge und Reproduktion, zum Ausgangspunkt von Kämpfen in der Jetztzeit zu machen“.[38]

In diesen multiplen Kämpfen der Gegenwart vor und während der Corona-Krise werden also auch bereits neue Beziehungsweisen und neue Formen der Bezüglichkeit, des Sorgens, des Lebens, des Gemeinsamen und der Politik entworfen. Diese gehen nicht von dem weißen, liberalen, heteronormativen, andro- und eurozentrischen Verständnis von Subjekt und Politik als „Egopolitik“ aus,[39] sondern von solidarischen und emanzipatorischen Beziehungsweisen und Politiken, die eine umfassende Verantwortlichkeit für die Bedürfnisse aller zum Fundament und Zweck haben. Diese alternativen Lebens- und Politikentwürfe gilt es zu stärken, wenn wir mit der Corona-Krise auch das Souveränitätsphantasma und den Normalitätsfetisch überwinden und hinter uns lassen wollen. Im Lichte des Umstands, dass die Gegenwart bereits vor der Covid-19-Pandemie von „multiplen Krisen“[40] des Kapitalismus, der Demokratie, der Sorge- sowie der sozio-ökologischen Verhältnisse gezeichnet war, die sich im Zuge des Ukraine-Kriegs und seiner Folgen weiter zuspitzen werden, erscheint die Suche nach radikal neuen Formen von Politik und Zusammenleben dringlicher denn je.

  1. Malte Thießen, Infizierte Gesellschaften: Sozial- und Kulturgeschichte von Seuchen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 65 (2015), 20/21, S. 11–18, hier S. 3.
  2. Isaiah Berlin, Zwei Freiheitsbegriffe [1969], in: ders., Freiheit. Vier Versuche, übers. von Reinhard Kaiser, Frankfurt am Main 1995, S. 197–256.
  3. Tobias Boos / Katharina Hajek / Benjamin Opratko, Corona-Solidaritäten, in: Femina Politica. Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft 29 (2020), 2, S. 123–124, hier S.123.
  4. Walter D. Mignolo, Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, übers. und eingeleitet von Jens Kastner und Tom Waibel, Wien 2012, S. 162.
  5. Claudia Brunner, Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne, Bielefeld 2020, S. 48.
  6. Achille Mbembe, Politik der Feindschaft, übers. von Michael Bischoff, Frankfurt am Main 2017, S. 88.
  7. Ebd., S. 88 f.
  8. Judith Butler, Gefährdetes Leben. Politische Essays, übers. von Karin Wördemann, Frankfurt am Main 2005.
  9. Ebd., S. 41.
  10. Judith Butler, Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, übers. von Reiner Ansén, Frankfurt am Main 2010, S. 36. Butler spricht in diesem Zusammenhang auch von der „sozial ekstatischen Struktur“ des Körpers. Ebd., S. 39.
  11. Judith Butler, Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, übers. von Frank Born, Berlin 2016, S. 145.
  12. Butler, Raster des Krieges, S. 10 f.
  13. Ebd., S. 57 (meine Hervorhebung, G.L.).
  14. Ebd., S. 56.
  15. Butler, Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, S. 88.
  16. Ebd.
  17. Boos/Hajek/Opratko, Corona-Solidaritäten, S. 123.
  18. Ulrich Brand / Markus Wissen, Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, München 2017.
  19. So auch Isabell Lorey, Die Regierung der Prekären, Wien 2012, S. 35.
  20. Demba Sanoh, Wer braucht hier Hilfe? Wie Covid-19 das Bild Afrikas im Globalen Norden infrage stellt, in: Dieter F. Bertz (Hg.), Die Welt nach Corona. Von den Risiken des Kapitalismus, den Nebenwirkungen des Ausnahmezustands und der kommenden Gesellschaft, Berlin 2021, S. 536–541.
  21. Ebd., S. 539.
  22. Anna Hartmann, Entsorgung der Sorge. Geschlechterhierarchie im Spätkapitalismus, Münster 2020.
  23. Mbembe, Politik der Feindschaft, S. 88.
  24. Françoise Vergès, Is the Anthropocene Racial?, in: Gaye Theresa Johnson / Alex Lubin (Hg.), Futures of Black Radicalism, London 2017, S. 72–80, hier S. 80.
  25. Yener Bayramoğlu / María do Mar Castro Varela, Post/Pandemisches Leben. Eine neue Theorie der Fragilität, Bielefeld 2021.
  26. Ebd.
  27. Bini Adamczak, Living in a Bacterial World, 24.8.2020.
  28. Ebd.
  29. Ebd.
  30. Bini Adamczak, Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende, Frankfurt am Main 2017.
  31. Judith Butler, Rücksichtslose Kritik. Körper, Rede, Aufstand, übers. von Michael Adrian und Bettina Engels, Konstanz 2019, S. 120.
  32. Adamczak, Beziehungsweise Revolution.
  33. Bayramoğlu / Mar Castro Varela, Post/Pandemisches Leben, S. 123.
  34. Bayramoğlu / Mar Castro Varela, Post/Pandemisches Leben, S. 124.
  35. Zum Begriff der „Responsabilität“ vgl. Donna J. Haraway, Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, übers. von Karin Harrasser, Frankfurt am Main 2018, S. 10.
  36. Eva von Redecker, Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, Frankfurt am Main 2020.
  37. Isabell Lorey, Demokratie im Präsens. Eine Theorie der politischen Gegenwart, Frankfurt am Main 2020.
  38. Ebd., S. 195.
  39. Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, S. 162.
  40. Pauline Bader / Lia Becker / Alex Demirović / Julia Dück, Die multiple Krise – Krisendynamiken im neoliberalen Kapitalismus, in: Alex Demirović / Julia Dück / Lia Becker / Pauline Bader (Hg.), VielfachKrise im finanzmarktdominierten Kapitalismus, Hamburg 2011, S. 11–28.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Care Demokratie Feminismus Gender Gesellschaft Gesundheit / Medizin Kapitalismus / Postkapitalismus Kolonialismus / Postkolonialismus Körper Ökologie / Nachhaltigkeit Politische Theorie und Ideengeschichte Queer Rassismus / Diskriminierung Soziale Ungleichheit Staat / Nation

Porträt Gundula Ludwig

Gundula Ludwig

Gundula Ludwig ist Professorin für Sozialwissenschaftliche Theorien der Geschlechterverhältnisse und Leiterin des Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck (CGI) an der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte sind queer-feministische Staats-, Macht-, Demokratie- und Gesellschaftstheorien. Foto: © michelleschmollgruber

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