Klaus Schlichte | Essay |

Sowjetisch-Afrika oder die Herrschaft der „Exzellenzinitiative“

Ein Zwischenruf

Es ist wieder die Zeit für große Worte: Bund und Länder hatten um Vollanträge im Wettbewerb um „Exzellenz“ gebeten. Was sich nach einer urliberalen Idee anhört, führt aber zu einer Wissenschaftspolitik, die bei näherer Betrachtung so liberal nicht wirkt. Es wurde schon häufiger beschrieben, dass die Exzellenzinitiative nicht nur viel Zeit kostet, sondern dass sie auch mindestens ebenso viel Frustration schafft wie sie Energien freisetzt. Weniger beachtet ist sie als politisches Phänomen: Was für eine Art von Herrschaft ist hier entstanden? Die Antwort lässt sich bei Max Weber und Hannah Arendt finden, und sie erinnert stark an Befunde der Herrschaftssoziologie des nachkolonialen Afrika und der Sowjetunion: Die Herrschaft der Exzellenzinitiative ist zugleich personal und vollendet bürokratisch.

Sie ist Webers bürokratische Herrschaft in Potenz, und damit Arendts „Herrschaft des Niemand“.[1] In der Logik von Antrag, Projekt und Evaluierung hat die Bürokratisierung der Wissenschaftspolitik ihre Formvollendung gefunden: Heerscharen von Professoren und ihnen Zuarbeitenden basteln an Anträgen. Dabei hilft ihnen ein in den letzten Jahren erheblich gewachsener Stab von Universitätsmitarbeitern, der nicht forscht oder lehrt, sondern nur noch mit der Planung, Organisation und Beratung von Anträgen beschäftigt ist.

Ihnen gegenüber stehen zwei Gruppen – Gutachter und Ratsmitglieder. Anonyme Gutachter bewerten, die Ratsmitglieder (russisch: Sowjets) entscheiden dann. Die Verantwortung für eine Entscheidung weisen alle zurück: Die Gutachter beraten ja nur! Und die Sowjets sind auch nicht verantwortlich – sie folgen doch nur den Ratschlägen der Gutachter! Das ist die Herrschaft des Niemand.

Wie im Kleinen, so im Großen: Entscheidungen fällt offiziell „die Politik“, aber sie verweist gleich auf die Ratschläge der auf opake Weise rekrutierten Expertenkreise. Minister und Senatoren träumen von der „Exzellenz“, weil sich der Glanz der Länder nicht mehr in Heerschauen und Schlössern vergegenständlicht, sondern in „Leuchttürmen“ der Universitäten mit ihren „Centers“ zur Erforschung des Klimas, des Lebens, oder der guten liberalen Ordnung. Die Universitätsleitungen, vor allem der finanzschwächeren Länder, geraten ins Schwärmen, wenn sie an Bundesfinanzierungen denken. Ihre Professorinnen und Professoren, der Autor dieser Zeilen nicht ausgenommen, überbieten sich in Vorschlägen, weil ihre Bedeutung immer mehr in Budgetgrößen und Gefolgschaftszahl gemessen wird, als wären sie Manager oder Kriegsherren. Nicht ihre Gelehrsamkeit, die Innovation ihrer Forschung oder ihre Leistungen in der Lehre entscheiden über ihre Reputation, sondern nur noch die „Einwerbung“ und „Führung“ von Großprojekten – Input kommt vor Output. Wie unter Breschnew herrscht die Tonnenideologie.[2]

Die Herrschaft des Niemand, die Hannah Arendt zufolge in totalitären Systemen ebenso zu Hause sein kann wie in liberalen Demokratien, hat deshalb trotz gegenteiliger Beteuerung nicht größere Gleichheit, sondern noch steilere Hierarchien zur Folge.

So lässt sich trotz allem Diskurs um flache Hierarchien und trotz des sich ausbreitenden Geduzes vor allem Oligarchisierung beobachten: Wer einmal ein großes Budget ergatterte, gilt fortan als Experte für die Beratung der anderen. Außer der Entscheidung über das eigene Budget kommt so die über andere Institutionen hinzu, die über die Nominierungen für ihre „boards“ nach „Reputation“ schauen, die sie durch solche Ernennungsakte zugleich selbst produzieren. Die reisenden Bischöfe der Wissenschaft aber gleichen dagegen den kolonialen Inspektoren, die von Distrikt zu Distrikt reisten.[3] Wie Gogols Revisor werden sie von denen umschwärmt, die von ihrem Urteil abhängen.

Der Druck ist groß, denn 90 Prozent der Forschenden sind nur befristet beschäftigt. Dem abgebrühten Teil des Nachwuchses, nicht dem naiv-idealistischen, stehen diese Verhältnisse aus Not längst klar vor Augen. Wer Ambitionen hat, versucht die Aufmerksamkeit der Oligarchen zu erregen, die in möglichst vielen Gremien und Stiftungsbeiräten sitzen, weil sie als erfolgreiche Jäger gelten. Die Wissenschaftler sind keine Mythenjäger mehr, wie der Soziologe Norbert Elias sie sich wünschte,[4] sondern sie jagen Mittel und Stellen. Nicht ihre intellektuelle Leistung, sondern ihre Fähigkeit als Beutegreifer begründet ihren Ruhm, weil sie „Sonderforschungsbereiche“, „Graduate Schools“, „Cluster“ oder „Kollegs“ mit den Zähnen an die Ufer der eigenen Universität geschleppt haben. Für Planübererfüllung werden sie auch von der Lehre freigestellt, die in diesem Geschäft nur noch als Belastung gilt.

Doch nicht nur von der Sowjetunion, auch von Afrika wurde gelernt: Jeder fortgeschrittene Doktorand kennt diese Organisationspotentaten seines Fachs mit ihren Millionenetats. Unter ihnen bilden sich klientelistische Netzwerke wie unter den Präsidenten Afrikas. Die Patrimonialisierung, sonst eher der Kolonialherrschaft und den postkolonialen Staaten Afrikas als Strukturmerkmal zugeschrieben,[5] boomt an deutschen Universitäten. Die „Big Men“ (und „Women“) der Exzellenz können es locker mit Togos Gnassinbé Eyadema[6] oder Gabuns Omar Bongo aufnehmen, die jahrzehntelang ohne Wahlen regierten. Wie diese sind sie auf Jahre hinaus „incontournable“: Sie leiten Institute mit vielen Projekten, sie stehen den mächtigsten Klientelketten vor und bieten Stellen für loyale Helfer. Je nach Fach sind diese Klientelketten rein deutsche Stämme, manchmal gibt es OECD-Exogamie. Es zählt, wenn man von Gleichgesinnten in Mannheim oder München promoviert wurde, ein anderes Mal ist es eben Stanford oder Florenz. Bischkek oder Kampala zählen jedenfalls nicht. Es heißt, dort gebe es Patronage!

Patrimonialisierung und Klientelismus als Stellen-gegen-Gefolgschafts-Beziehung: Das erinnert zugleich an Alexander Sinowjevs Romane über die Sowjetische Akademie der Wissenschaften.[7] An die Sowjetunion erinnert auch der Tratsch der Machtlosen in den Fluren, in den Speisewagen auf dem Rückweg von der Konferenz oder in gewitzten SMS. Oder das „boasting“ derjenigen im langsam ergrauenden Nachwuchs, die, statt sich zu organisieren, dem heimlichen Glauben erliegen, doch (noch) zu den zukünftig Auserwählten zu gehören, wenn nur alles richtig gemacht wird – der richtige Professor, das richtige Thema, das richtige Journal – auf dem Weg zur Exzellenz! Denen, die dazu nicht bereit sind, bleibt der Weg in die billiger möblierten Unis auf dem Lande, die schon mangels Größe vom großen Geld ausgeschlossen sind. Und schließlich bleibt ja auch noch die „exit-option“, sei es durch Wechsel der Berufswahl oder durch Abwanderung ins Ausland.

Der „decision point“, und damit die Zurechenbarkeit von Politik, verdampft in den verkoppelten Gremien, denen kein politisches Risiko droht. Denn anders als den Patrimonialherren Afrikas dräuen keine Straßenunruhen, keine „Strukturanpassungsprogramme“ durch die Weltbank und auch keine Guerilla, die sich im Exil formiert und irgendwann auf die Hauptstadt marschieren könnte.[8]

So viel Prestigearbeit nötig ist, um einmal reinzukommen: Wer einmal drin ist, kommt nicht mehr raus. Denn die Niederlage in dem einen Wettbewerb macht ja umso größere Anstrengungen im nächsten nötig – den Autor dieser Zeilen auch hiervon nicht ausgenommen.

Die Frage ist nur, ob die deutsche Wissenschaftspolitik das Schicksal der Sowjetunion vermeiden kann, in der das Charisma der revolutionären Idee dann doch schneller verblasste, als alle dachten. „Everything was forever until it was no more“ lautet Alexei Yurchaks Analyse der Alltagskultur in der späten Sowjetunion.[9] Nur die Bürokratie und die Oligarchie haben überlebt.

  1. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002, S. 51 [Original: The Human Condition, Chicago, IL u.a. 1958].
  2. Jacques Sapir, Logik der sowjetischen Ökonomie oder die permanente Kriegswirtschaft, Münster 1992.
  3. Michael Pesek, Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika: Expeditionen, Militär und Verwaltung seit 1880, Frankfurt am Main 2005.
  4. Norbert Elias, Was ist Soziologie?, Weinheim 2014, S. 11 [Original: Was ist Soziologie?, München 1970].
  5. Jean-François Médard, Le „Big Man“ en Afrique: Esquisse d’analyse du politicien-entrepreneur, in: Année sociologique 1992, S. 167–192.
  6. Vgl. Komi Toulabor, Le Togo sous Eyadéma, Paris 1986.
  7. Alexander Sinowjew, Lichte Zukunft, Zürich 1983.
  8. Vgl. Klaus Schlichte, In the Shadow of Violence. The Politics of Armed Groups, Frankfurt am Main/Chicago, IL 2009.
  9. Alexei Yurchak, Everything Was Forever Until It Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton, NJ 2006.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.

Kategorien: Wissenschaft

Klaus Schlichte

Klaus Schlichte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bremen und leitete dort von 2012 bis 2015 die exzellenzgeförderte Graduate School für Sozialwissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Soziologie internationaler Politik und politische Gewalt in historischer Perspektive.

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