Dieter Rucht | Nachruf |

Soziologe, Steuermann und feiner Mensch

Nachruf auf Friedhelm Neidhardt (1934–2023)

Friedhelm Neidhardt
Friedhelm Neidhardt, © Bernhard Ludewig

Am 31. Oktober 2023 verstarb Friedhelm Neidhardt im Alter von 89 Jahren. Er ist in mehrfacher Hinsicht herausragend: als bedeutender Soziologe, als einflussreicher Beobachter, Organisator und Gutachter im Wissenschaftsbetrieb, schließlich als außergewöhnlicher Charakter.

Der Soziologe

Die wissenschaftliche Karriere Neidhardts verlief gradlinig und steil. Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften in Kiel und München sowie Forschungsaufenthalten in Indiana (USA) und Buenos Aires studierte er, wiederum in Kiel, Soziologie und wurde dort 1962 promoviert. Bereits kurz nach seiner Habilitation im Fach Soziologie in München (Thema: Soziale Schichtung und soziale Stabilität) erhielt er eine Professur für Soziologie in Hamburg (1968), später in Tübingen (1971), Köln (1975) und Berlin (1989). Von 1988 bis 2000 war er Direktor der Abteilung „Öffentlichkeit und soziale Bewegungen“ am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB), dem er von 1994 bis 2000 zudem als Präsident vorstand. Dem WZB blieb er ab 2001 als Emeritus verbunden.

Mit Blick auf die genannten Stationen fällt auf, wie schnell Neidhardt mit zusätzlichen Leitungsfunktionen betraut wurde, etwa als Dekan der Hamburger Akademie für Wirtschaft und Politik oder als Dekan des sozialwissenschaftlichen Fachbereichs in Tübingen, als Direktor des Kölner Forschungsinstituts für Soziologie und als Präsident des WZB in Berlin. Das hat, worauf noch einzugehen ist, auch mit seinen Fähigkeiten als kluger Berater, Richtungsgeber und Vermittler zu tun.

Im Mittelpunkt des Neidhardt‘schen Verständnisses von Soziologie steht die Kategorie der Interaktion, somit die Deutung der Gesellschaft von der Mikro- bis zur Makroebene als eines oft konflikthaften Beziehungsgefüges, das auf unterschiedlichen Interessen, Werten und Funktionen beruht und in dem oft auch die Rolle des Publikums in Rechnung zu stellen ist.

Seine eigene Auffassung von Wissenschaft umriss Neidhardt mit dem Begriff des „organized skepticism“ und nahm dabei auf Robert Merton Bezug. Mit Letzterem verband Neidhardt zudem seine Präferenz für Theorien mittlerer Reichweite. Um die Großtheorien von Gesellschaft, die er durchaus kannte, machte er eher einen Bogen. Im Umgang mit soziologischer Theorie mied Neidhardt jede Form von Konfessionalisierung und das Bekenntnis zu einer bestimmten soziologischen „Schule“. Ihn interessierte vielmehr der Gebrauchswert von Theorie in Bezug auf den jeweiligen Untersuchungsgegenstand und zentrale Untersuchungsfragen. Auf theoretische Ansätze rekurrierte Neidhardt fast ausschließlich im Rahmen konkreter Fragestellungen, etwa nach Bedeutung und Mechanismen von Massenmedien, nach dem Netzwerkcharakter sozialer Bewegungen oder bei der Reflexion über gesellschaftliche Streitfragen. Ausufernde Rezeptionen von Theorien in Gestalt von „Lesefrüchten“ waren ihm ebenso zuwider wie redundante Textschleifen. Vielmehr zählten für ihn die Gebote der exakten Analyse, aber auch der Klarheit und Sparsamkeit ihrer sprachlichen Darstellung.

Die Distanz gegenüber jeglicher Konfessionalisierung von Theorie vertrat Neidhardt ebenso in methodischer Hinsicht. Er war gleichermaßen offen für qualitative wie quantitative Vorgehensweisen, führte Leitfadeninterviews und Inhaltsanalysen durch, förderte die quantitativ ausgerichtete Protestereignisanalyse und vieles mehr.

Das Verfassen dicker und womöglich mehrbändiger „Wälzer“ war nicht seine Sache. Gemessen an anderen namhaften Kollegen seines Faches hat er als alleiniger Autor nur relativ wenige größere Monografien verfasst. Im Vordergrund stehen vielmehr kürzere Texte, die zuweilen dem Genre des Essays nahekommen. Darüber hinaus war Neidhardt als Ko-Autor an zahlreichen forschungsbasierten Publikationen beteiligt.

Als Soziologe wies er ein breites Interessenspektrum auf. In der Kurzfassung seines Lebenslaufs nannte Neidhardt die Stichworte Wissenschaft, Terrorismus, Öffentliche Meinung, Massenmedien und Gewalt. In seiner akademischen Laufbahn hat er sich nie dauerhaft und exklusiv einer Bindestrich-Soziologie verschrieben, sondern seine Arbeitsschwerpunkte stets neu gesetzt. Doch sind dabei vielfach Einsichten aus vormaligen Forschungskontexten in seine jeweils aktuellen Veröffentlichungen eingeflossen.

Einem größeren Kreis bekannt wurde Neidhardt durch seine frühen Arbeiten zur Gruppensoziologie und zum Terrorismus, besonders durch den von ihm editierten Sonderband der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS) zur Gruppensoziologie (1983), durch seinen Text zum Terrorismus Über Zufall, Eigendynamik und Institutionalisierbarkeit absurder Prozesse (1981)[1] sowie durch weitere Aufsätze zu diesem Thema, veröffentlicht vor allem in den 1980er-Jahren.[2] Auch in späteren Phasen seines Schaffens kam Neidhardt auf den Terrorismus zurück, so etwa in einer Akademievorlesung im Juni 2006 mit dem Titel Handlungsfeld Terrorismus – Täter, Opfer, Publikum.

Mit der Übernahme der Direktorenstelle in der 1988 gegründeten Forschungsabteilung „Öffentlichkeit und soziale Bewegung“ am WZB ergaben sich für Neidhardt ebenjene zwei neuen Themenschwerpunkte, die er, zusammen mit einem Kreis von Mitarbeiter:innen, auf konzeptioneller wie empirischer Ebene anging. Die in diesem Rahmen gewonnenen Einsichten inspirierten das von Neidhardt herausgegebene und eingeleitete Sonderheft der KZfSS mit dem Titel Öffentlichkeit, öffentliche Meinung und soziale Bewegungen (1994). Das Öffentlichkeitsthema erschloss der Soziologe vor allem über die Rolle von Nachrichtenwerten, öffentliche Meinung, den Stellenwert des Publikums und über Kategorien wie Prominenz und Prestige. Die konzeptionelle Grundlegung erfolgte in dem von Jürgen Gerhards und Neidhardt zunächst als Arbeitspapier vorgelegten und später an anderen Stellen publizierten Text Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit: Fragestellungen und Ansätze (1990). Den sozialen Bewegungen hat sich Neidhardt erstmals in einem 1985 erschienenen Aufsatz[3] und später in diversen weiteren Arbeiten (teilweise mit mir als Ko-Autor) gewidmet.[4] Im Rahmen größerer empirischer und oft auch quantitativ ausgerichteter Forschungsprojekte entstanden unter anderem Studien zum Protestgeschehen in Deutschland, zum Abtreibungskonflikt und zur Bedeutung journalistischer Kommentare.

Nach dieser Phase intensiver und meist projektförmig gestützter Publikationstätigkeit in den 1990er-Jahren wendete sich Neidhardt erneut verstärkt allgemeineren soziologischen Fragen und dem Profil des Faches Soziologie zu, exemplarisch sei hier auf seine öffentliche Vorlesungsreihe zum Thema Logik und Soziologik (2004), auf seinen Beitrag Sätze, Wörter, Zeichen. Soziologentexte im Vergleich (2015)[5] sowie den Aufsatz ‘Public Sociology‘ – Burawoy-Hype und linkes Projekt (2017).[6]

Etwa ein Jahr vor seinem Tod äußerte Neidhardt mir gegenüber, dass er kaum noch soziologische Literatur zur Kenntnis nehme, wohl aber an geistigen, literarischen und politischen Entwicklungen weiterhin interessiert sei. Damals bat er mich um die Kommentierung eines Aufsatzmanuskripts, das seine letzte soziologische Arbeit werden sollte. Sie erschien jüngst unter dem kryptisch anmutenden Titel Zugutachterei. Bedingungen und Folgen korruptiver Nachsicht.[7]

Neidhardt war ein ungemein vielseitig interessierter, kenntnisreicher und anregender Soziologe, der Teilgebiete seiner Disziplin maßgeblich inhaltlich geprägt und weiterentwickelt hat. Darüber hinaus hat er seit den 1970er-Jahren Enormes für die weitere Regulierung und Qualifizierung des Faches Soziologie geleistet, was nachfolgend nur angedeutet werden kann.

Der Steuermann

Mit Blick auf den Wissenschaftsbetrieb im Allgemeinen und die Soziologie im Besonderen trat er als scharfsinniger Beobachter, Organisator und Gutachter auf. Zu nennen sind, in einer unvollständigen chronologischen Abfolge, seine Tätigkeiten als Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (1970–1976), als Fachgutachter der Alexander von Humboldt Stiftung (1973–1985) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1976–1979), als Herausgeber der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (1978–1990), als Mitglied des Wissenschaftsrats (1980–1987) und Vorsitzender dessen wissenschaftlicher Kommission (1985–1987), Mitglied des Kuratoriums des WZB (1985–1987), Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (seit 1993), Ehrenmitglied der Humboldt-Universität (seit 1993) und, wie schon genannt, als Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (1994–2000). Weiterhin war er Mitglied der Steuerungsgruppe „Forschungsevaluation“ des Wissenschaftsrats (2008–2012) sowie Ombudsmann der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (2012–2020).

In etlichen dieser Funktionen, darunter auch im Rahmen diverser Regierungskommissionen und Beiräte, nahm der in Gruppen- wie Konfliktsoziologie geschulte Neidhardt eine souveräne Rolle ein. In zahlreichen Fällen profilierte er sich jedoch nicht als Verbündeter der einen oder anderen Konfliktpartei, sondern vielmehr als der von Simmel typisierte und als konkrete Person fleischgewordene „Dritte“, dessen Argumenten und Ratschlägen hohes Gewicht beigemessen wurde.

Diese Prädestination für die Rolle des „Dritten“ war wohl auch ausschlaggebend dafür, dass Neidhardt immer wieder als Ratgeber, Gutachter, Ombudsmann, somit als eine Art Wissenschaftslotse, gefragt und geschätzt war. Beispielhaft dafür steht seine Steuerungsfunktion bei der inhaltlichen wie personellen Neuausrichtung der Sozialwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität nach dem Ende der DDR. Darüber hinaus machte er sich auch als Bewerter des Bewertungsgeschäfts einen Namen. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang seine Publikationen zum Gutachterwesen der Deutschen Forschungsgemeinschaft,[8] zum Forschungsrating des Wissenschaftsrats,[9] zur Exzellenzinitiative[10] und zu den Funktionsbedingungen des Wissenschaftsrats.[11]

Ein feiner Mensch

In seinem sozialen Umfeld agierte Neidhardt eher zurückhaltend, war seinem Gegenüber dabei jedoch stets sehr zugewandt. Er war nach vielen Seiten hin neugierig und aufgeschlossen, fragte nach, erkundigte sich auch nach Befindlichkeiten und privaten Dingen. Nie trat er laut oder gar polternd auf, verfügte er doch – auch jenseits seiner offiziellen Leitungsfunktionen – über ein hohes Maß an personaler Autorität. Durch subtile Signale ließ er erkennen, was er schätzte und was nicht.

Im beruflichen und mehr noch im privaten Kontext waren Neidhardts Einlassungen zuweilen von einem hintergründigen Humor gekennzeichnet. So betitelte er etwa seine Tischrede vor Stiftern und Kuratoren im Jahr 2001 als „Versuch, vor Kollegen keine Tischrede zu halten“. Vor allem im Genre des Essays blitzte seine feinsinnige Formulierungskunst auf. In einem privaten Rahmen bekannte er sich, Alfred Andersch zitierend, als „Liebhaber des Halbschattens“.

In einigen länger zurückliegenden wie auch unmittelbar nach seinem Tod geführten Gesprächen mit Kolleg:innen wurde Friedhelm Neidhardt unisono als ein „feiner Mensch“ bezeichnet. In dieser knappen Formel steckt das große Lob auf seine Persönlichkeit. Damit wird oft die Aussage verbunden, viel von ihm gelernt zu haben. Das gilt gleichermaßen für seinen von Toleranz und Respekt getragenen zwischenmenschlichen Umgang wie für das Geschäft soziologischer Wissensproduktion und die Einhaltung fachlicher Qualitätsstandards.

  1. In: Heine Alemann / Hans Peter Thurn (Hg.), Soziologie in weltbürgerlicher Absicht. Festschrift für René König zum 75. Geburtstag, Opladen 1981, S. 243–257.
  2. Darunter: Soziale Bedingungen terroristischen Handelns. Das Beispiel der Baader-Meinhof-Gruppe, in: Wanda von Baeyer-Katte et al., Gruppenprozesse, Bd. 3 „Analysen zum Terrorismus“, Opladen 1982, S. 318–392.
  3. Einige Ideen zu einer allgemeinen Theorie sozialer Bewegungen, in: Stefan Hradil (Hg.), Sozialstruktur im Umbruch. Karl Martin Bolte zum 60. Geburtstag, Opladen 1985, S. 193–204.
  4. Zum Beispiel: Dieter Rucht und Friedhelm Neidhardt, Soziale Bewegungen und kollektive Aktionen, in: Hans Joas / Steffen Mau (Hg.), Lehrbuch der Soziologie, 4. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Frankfurt am Main 2020, S. 831–864.
  5. In: Leviathan 43 (2015), 4, S. 616–641.
  6. In: Berliner Journal für Soziologie 27 (2017), 2, S. 303–317.
  7. In: Soziologie 52 (2023), 1, S. 36–49.
  8. Selbststeuerungsprozesse in der Forschungsförderung. Das Gutachterwesen der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Opladen 1988.
  9. Das Forschungsrating des Wissenschaftsrats. Einige Erfahrungen und Befunde, in: Soziologie 37 (2008), 4, S. 421–432.
  10. Exzellenzinitiative – Einschätzungen und Nachfragen, in: Stephan Leibfried (Hg.), Die Exzellenzinitiative – Zwischenbilanz und Perspektiven, Frankfurt am Main 2010, S. 53–80.
  11. Institution, Organisation, Interaktion – Funktionsbedingungen des Wissenschaftsrats, in: Leviathan 40 (2012), 2, S. 271–296.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Stephanie Kappacher.

Kategorien: Demokratie Gewalt Interaktion Medien Methoden / Forschung Öffentlichkeit Wissenschaft Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen

Dieter Rucht

Dieter Rucht forscht als Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialwissenschaften (WZB) zu politischer Öffentlichkeit und Partizipation, sozialen Bewegungen, sowie zu politischem Protest und Konflikten.

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