Martin Bauer, Christina Müller | Veranstaltungsbericht |

Soziologie als „kraftvolle politische Schriftstellerei“

Akademische Gedenkfeier für Professor Ulrich Beck, 29.–30. Oktober 2015, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die zweitägige Gedenkveranstaltung zu Ehren von Ulrich Beck, die das Institut für Soziologie der LMU München knapp ein Jahr nach seinem frühen Tod ausrichtete, begann am Donnerstagabend mit einer Feierstunde im keineswegs voll besetzen Auditorium Maximum der Münchener Universität. Schon in den Grußworten war von den „sprühenden Ideen“, dem „ansteckenden“ Enthusiasmus, dem „Optimismus“ Ulrich Becks die Rede, also nicht unbedingt von Attributen, mit denen Kernkompetenzen eines gelehrten Forschers und weltweit anerkannten Akademikers erfasst werden. Auch der ehemalige Münchner Oberbürgermeister CHRISTIAN UDE stellte in seiner Gedenkrede zunächst heraus, dass sich Beck als Bürger der Stadt in die Kommunal- und Landespolitik eingemischt und etwa die Verleihung des Münchener Kulturpreises 1996 genutzt habe, um in seiner Dankesrede die Umbenennung des Max-Weber-Platzes zu fordern, der seinen Namen nicht dem großen Soziologen, sondern einem eigentlich vergessenen Haidhausener Magistratsherrn verdankte. Tatsächlich fand der Oberbürgermeister Becks Initiative so „bizarr“, dass es unter Einsatz von Blasmusik und zum Vergnügen der Beteiligten zu einer offiziellen Umbenennung kam, die in Wahrheit gar keine Umbenennung war. Doch beließ es Ude nicht bei Anekdotischem. Angesichts der Wortmächtigkeit von Becks Zeitdiagnostik und der erstaunlichen prognostischen Kraft seines Buches zur Risikogesellschaft – zwischen Drucklegung und Erscheinen ereignete sich 1986 Tschernobyl – sprach Ude von der „kraftvollen politischen Schriftstellerei“ Becks, und davon, dass der Soziologe der „erfolgreichste politische Schriftsteller“ gewesen sei.

Demgegenüber betonten die anderen Redner HANS-BERND BROSIUS, BERND HUBER, ARMIN NASSEHI und STEPHAN LESSENICH (alle München) in ihren kurzen Statements eher die traditionellen Tugenden eines ambitionierten Wissenschaftlers und Wissenschaftsorganisators, der stets zum Widerspruch bereit gewesen sei, gleichwohl aber alle seine Gesprächspartner für sich und seine jeweiligen Projekte einzunehmen verstand. Vermutlich konnten viele der zum Teil aus weit entfernten Ländern wie Australien oder Südkorea angereisten Gäste solche Beobachtungen aus eigener Erinnerung bestätigen.

Den Hauptvortrag hielt SASKIA SASSEN (New York), die unter dem Titel „Die Konstitution des Globalen im Nationalen“ angekündigt war. Gleich dieser erste Beitrag verdeutlichte, wie heikel das Unterfangen sein kann, international renommierte Festrednerinnen und -redner zu einem Symposium zu bitten, bei dem das Werk eines verstorbenen Kollegen im Lichte der je eigenen Positionen gewürdigt werden soll. Die Organisatoren rund um den Direktor des Instituts für Soziologie, Armin Nassehi, hatten den Eingeladenen jeweils einen Schlüsselbegriff aus Becks Œuvre vorgegeben, den sie kommentieren sollten. Eine offenkundig schlecht präparierte Sassen entledigte sich ihrer Aufgabe, zu Becks Globalisierungssoziologie Stellung zu nehmen, durch die Auflistung dreier „extrem interessanter“ „Taktiken der Analyse“: Beck habe eingefahrene Begrifflichkeiten „destabilisiert“, der Forschung zur gesellschaftlichen Moderne „neue Pfade“ gewiesen, wenn auch nicht immer Antworten geliefert, schließlich das Globale zum Ausgangspunkt seiner Gesellschaftsanalyse gemacht. In einem ausgesprochen knapp gehaltenen Exkurs wurde der Münchener Soziologe am Ende noch mit der Behauptung korrigiert, letztlich komme das Globale im Nationalen zustande, was Sassen an metropolitanen Migrationsgemeinschaften exemplifizierte, die „kosmopolitische Netzwerke“ etablierten. Verhaltener Beifall.

WOLFGANG BONSS (München) eröffnete das eigentliche Symposium am Freitag nach einer kurzen Einführung durch PAULA-IRENE VILLA und STEPHAN LESSENICH (München) mit einer gründlichen Darstellung von Becks Risikogesellschaft,[1] die nicht zuletzt den zeitgeschichtlichen Kontext hervorhob, nämlich die Veröffentlichung des Buchs im Jahr der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Auch den Umstand, dass das Buch – für soziologische Veröffentlichungen ungewöhnlich – in stolze 35 Sprachen übersetzt wurde, erwähnte Bonß respektvoll. Tatsächlich förderte der weitere Verlauf der Tagung diverses Anekdotenmaterial aus Becks Engagement als unermüdlicher Initiator von Übersetzungen zutage, eine Aktivität, die bis in die richtige Titelfindung hinein ragte, um den publizistischen Erfolg der geplanten Buchpublikationen sicherzustellen. Auch das letzte, posthum erscheinende Buch aus der Werkstatt Becks ist, wie zu erfahren war, von ausgedehnten Reflektionen zur Titulierung begleitet gewesen, bis sich der Autor gegen den zunächst gewählten Titel „Transformation“ und stattdessen für „Metamorphosis“ entschied. Weil Bonß in seiner Würdigung philologischer Akkuratesse den Vorzug gab, fand er sich in der anschließenden Debatte mehr als einmal genötigt, kritische Rückfragen an Becks Konzeption von Risiko und Risikomanagement mit dem Hinweis „Beck hasn't commented on this“ zu parieren.

JUTTA ALLMENDINGER (Berlin) interpretierte anschließend das Genre des Gedenkvortrages neu, indem sie Becks zeitdiagnostische Thesen anhand jüngerer Empirie überprüfte. Ihre Auseinandersetzung mit Becks Individualisierungsthese reanimierte eine Kontroverse, die aus der gemeinsam mit Beck im Kollegium der LMU absolvierten Zeit stammte. Dort stieß die quantifizierende Sozialforschung der Mannheimer Schule, der sich Allmendinger zurechnete, auf die nachdrückliche Skepsis, mit der Beck datengestützte Sozialstrukturanalysen quittierte. Dokument seiner Zweifel ist der 1983 veröffentlichte Aufsatz „Jenseits von Klasse und Stand?“[2] gewesen, der Individualisierungsprozesse geltend machte, um die Aussagekraft sozialstruktureller Determinanten infrage zu stellen. Allmendinger bestritt nicht, dass es in Ausnahmefällen zu bemerkenswerten Aufstiegsmobilitäten gekommen sei, legte angesichts der empirischen Befunde allerdings Wert auf die Feststellung, dass solche Ausnahmen eben nicht dem statistisch ermittelten Regelfall entsprechen. Faktisch sei die Teilhabe zumal von Frauen am Arbeitsmarkt signifikant gestiegen, doch habe die Spreizung der Einkommen in der BRD zugenommen und sich die herkunftsbedingte soziale Ungleichheit verfestigt. Von einer Dynamisierung der Gesellschaft durch Individualisierung könne mit Blick auf die empirischen Tatbestände keine Rede sein.

SABINE MAASEN (München) widmete sich in ihrer Präsentation dem Thema „TechnoSociety“. Getreu der Beck'schen These, in der Risikogesellschaft liege die Macht bei denjenigen, die Risiken definieren, lenkte sie, deutlich von Bruno Latours Arbeiten inspiriert, den Blick auf einen neuen Typ von Natur- und Technikwissenschaft, der in die Modalitäten von Vergesellschaftung selbst eingreift. Damit gewinnen ‚technosoziale‘ Phänomene wie die Entwicklung von Pflegerobotern, die Etablierung interaktiver Wissenschaft im Netz oder Praktiken des Neurofeedback eine spezifisch soziologische Relevanz: Sie beleuchten, dass technische „Assemblagen“, weil sie soziale Interaktion formieren, nicht nur das Selbst der Akteure mitkonstituieren, sondern den Stoff des Sozialen insgesamt. Folglich sieht sich die Gesellschaftswissenschaft Maasen zufolge mit einem neuen Gegenstand konfrontiert, dem sie sich in seiner ganzen Ambivalenz zu stellen hat. Durch die kühne These herausgefordert, verlief die Diskussion äußerst lebhaft – gefragt wurde nicht nur nach der Bedeutung menschlicher Akteure für das beschriebene technogesellschaftliche Geschehen, sondern nach den Möglichkeiten seiner auch kritischen Analyse.

SCOTT LASH (London) begrüßte die Zuhörerschaft mit der Nachricht, sein Vortragsmanuskript sei ebenjener ambivalenten Technologie zum Opfer gefallen, die seine Vorrednerin gesellschaftswissenschaftlich beleuchtet hatte. Auf dem Flug nach München habe sich sein Laptop verabschiedet. Dies Malheur versorgte Lash mit der Lizenz, Becks Überlegungen zur reflexiven Modernisierung weniger mit ausgearbeiteten Thesen, als vielmehr im Medium weitgehend freier Assoziation einmal philosophisch-methodologisch unter die Lupe zu nehmen. Im Resultat erklärte er Beck zum Erben von Immanuel Kants dritter Kritik, das heißt zu einem Soziologen, dessen Gesellschaftsanalyse am Besonderen und „Singulären“ ansetze, um es nach der Logik von Kants reflektierender Urteilskraft unter Regeln zu bringen. Gerade in einem solchen, gewissermaßen kasuistischen Verfahren bewähre sich der Antipositivismus der Beck‘schen Soziologie. Aus ihm folge der Verzicht auf den Anspruch, gesellschaftsanalytische Erkenntnisse als „apodiktisches Wissen“ zu präsentieren. Dem zwingenden Einwand, eine so verfahrende Soziologie könne ihre Befunde nur wie ästhetische Urteile „ansinnen“, begegnete Lash mit der für ein wissenschaftliches Symposion entwaffnenden Auskunft: „You can read him like you want. I read him like I want.“

Nach der Mittagspause gab EVA ILLOUZ (Jerusalem) Aufschluss darüber, wie stark Ulrich Becks und Elisabeth Beck-Gernsheims gemeinsame Publikation Das ganz normale Chaos der Liebe[3] ihre eigene Arbeit geprägt habe – nicht zuletzt, weil kaum sonst jemand zu einem in der Soziologie derart marginalisierten Thema wie der Liebe geforscht habe. Einige Vorreiter habe es allerdings gegeben, was Illouz zu der Vermutung führte, „die Becks“ hätten ihre Argumentation in der Auseinandersetzung mit Niklas Luhmanns Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität (1983) entwickelt – eine Deutung, der die anwesende Elisabeth Beck-Gernsheim in der Diskussion vehement widersprach. Illouz unterstrich, wie bedeutsam für ihre eigene Arbeit die „Depsychologisierung“ der romantischen Liebe gewesen sei, die das Ehepaar Beck mit seiner Soziologisierung der Liebe vorgenommen habe. Deren Buch folge Luhmann insofern, als es nach der gesellschaftlichen Institutionalisierung von Emotionen frage, widerspreche ihm jedoch durch den Nachweis, dass Intimbeziehungen sozial erfolgreich ausgehandelt würden. Anders als Ulrich Beck, den Illouz in seinem Aufklärungsoptimismus als einen „unheilbar Modernen“ charakterisierte, bezweifelte sie hingegen, dass Paarbeziehungen angesichts der fortschreitenden „Dekomposition des Sozialen“ den „Exzessen der Wahlfreiheit“, wie sie sich in der Sphäre kapitalistischen Konsums manifestierten, gewachsen seien.

HOMI BHABHA (Cambridge, MA) nahm die Einladung, Becks Verständnis von Kosmopolitismus zu kommentieren, zum Anlass, allgemeine Überlegungen zu den Möglichkeitsbedingungen kosmopolitischen Gedenkens vorzutragen. Seine – im Rückgriff auf Søren Kierkegaard – entwickelte Pointe lautete, dass ein kosmopolitisches Gedächtnis[4] Leidenserfahrungen oder kollektive Traumata in der besorgten Furcht erinnern muss, sie könnten sich, da einmal geschehen, in der Zukunft wiederholen. So implantiere der Imperativ „Nie wieder!“ dem kosmopolitischen Gedächtnis eine paradoxe Struktur. Es handle sich, was die Zeitlichkeit allen kosmopolitischen Gedenkens betrifft, um eine „Erinnerung der Zukunft“, in der vergangenes Unheil zugleich in Furcht antizipiert und in Abwehr drohender Wiederholbarkeit wiedervergegenwärtigt werde.

ULRIKE GUÉROT (Berlin) kehrte schließlich zu Ulrich Beck als einem Schriftsteller zurück, dessen Texte politisch intervenieren wollten. Ihr lieferte Becks harsche Kritik am „deutschen Europa“[5], das heißt an der Bundesrepublik in ihrer Rolle als europäische Hegemonialmacht, die Stichworte für ein flammendes Plädoyer, das in der Utopie eines „europäischen Republikanismus“ gipfelte. Ein solcher Republikanismus sei als transnationale Präsidialdemokratie zu verfassen, dessen aus zwei Kammern bestehendes Parlament durch die Bürgerinnen und Bürger Europas in direkter Wahl bestimmt werden müssten. Gerade die Finanzkrise habe enthüllt, dass eine bloße Marktintegration und Währungsunion zum Scheitern verurteilt sei. Tatsächlich böten die „nationalen Container“ keineswegs den Schutzraum, den rechts- wie linkspopulistische Rhetoriken beschwören. Also bedürfe es eines „neuen Gesellschaftsvertrags“, der nicht die Gleichheit der Staaten, sondern diejenige der Bürger verankere. Nötig seien als legitimierende Basis eines europäischen „Exekutivföderalismus“ gleiches Stimmrecht, gleiche Besteuerung und gleicher Zugang zu sozialen Rechten. Erst damit würden die juristischen und materialen Voraussetzungen für eine „transnationale Solidarität“ geschaffen, die gerade zur europaweiten Bewältigung der jüngsten Flüchtlingskrise unabdingbar sei. Guérots Ruf nach einer „europäischen Revolution“ blieb nicht ohne Widerspruch. Der schärfste Einspruch lautete, hier werde eurozentristisch argumentiert, nämlich ein souveränes Europa postuliert, das gar nicht anders denn als neuer Hegemon mit globalpolitischer Agenda auftreten könne.

Wenn es einen roten Faden gab, der sich durch viele Stellungnahmen zog, so ist es die Trauer darüber gewesen, nach dem jähen Tod Ulrich Becks das animierende Gespräch nicht mehr fortführen zu können, in das er jede Begegnung zu verwandeln wusste. Eine eigene soziologische Schule wollte er nicht begründen; was jedoch – davon legte das Treffen in München Zeugnis ab – nachhaltige Spuren hinterlassen hat, ist sein außerordentliches Vermögen gewesen, seine Mit- und Umwelt durch Wort wie Schrift zu affizieren.

Konferenzübersicht:

Gedenkfeier:

Hans-Bernd Brosius / Armin Nassehi / Bernd Huber / Christian Ude / Stephan Lessenich (München), Grußworte

Saskia Sassen (New York), When the Global Gets Constituted Inside the National

Symposium:

Paula-Irene Villa / Stephan Lessenich (München), Begrüßung

Wolfgang Bonß (München), Risk Society

Jutta Allmendinger (Berlin), Individualisation

Sabine Maasen (München), Science and Technology

Scott Lash (London), Reflexive Modernisation

Eva Illouz (Jerusalem), The Normal Chaos of Love

Homi Bhabha (Cambridge, MA), Cosmopolitanism

Ulrike Guérot (Berlin), Europe and the Nation State

  1. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986.
  2. Ders., Jenseits von Klasse und Stand?, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt: Sonderband 2, Göttingen 1983, S. 35–74.
  3. Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt am Main 1990.
  4. Dieses Konzept entwickelte er in Anlehnung an den Band von Daniel Levy / Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001.
  5. Ulrich Beck, Das deutsche Europa – Neue Machtlandschaften im Zeichen der Krise, Berlin 2012.

Kategorien: Geschichte der Sozialwissenschaften

Martin Bauer

Martin Bauer, M.A., ist Philosoph, Literatur- und Religionswissenschaftler. Er war bis 2022 geschäftsführender Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Portals Soziopolis am Hamburger Institut für Sozialforschung.

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Christina Müller

Dr. Christina Müller ist Literaturwissenschaftlerin und Lektorin im Philipp Reclam jun. Verlag. Sie war bis November 2016 für das Hamburger Institut für Sozialforschung als Redakteurin der Zeitschrift Mittelweg 36 sowie des Portals Soziopolis tätig.

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