Brigitte Aulenbacher | Nachruf |

Soziologie im Interesse der Humanität

Nachruf auf Michael Burawoy

Portrait von Michael Burawoy (2012)
Michael Burawoy (2012), © Volodymyr Paniotto

„In Zeiten der Tyrannei des Marktes und des staatlichen Despotismus steht die Soziologie – und insbesondere ihr öffentliches Antlitz – für die Interessen der Humanität ein.“ (Michael Burawoy)

Ein „starker Satz“ sagte der Verlag, als wir ihn vor zehn Jahren vorschlugen, um für Michael Burawoys deutschsprachiges Buch „Public Sociology“[1] zu werben. Ja! Und er bringt auf den Punkt, was Michael Burawoys Wirken auszeichnet: Die Entwicklung einer Soziologie, die sich an der Seite der Zivilgesellschaft sieht – und damit in einer Tradition, die er selbst gerne bis auf Karl Marx, Max Weber, Émile Durkheim zurückführte. Der Public Sociology, der öffentlichen Soziologie, hatte er 2004 seine Rede als Präsident der American Sociological Association (2002–2004), der auch obiges Zitat entstammt, gewidmet. Seither wurde die Public Sociology mit seinem Namen verbunden, während er selbst sie als so traditionsreiches wie vielstimmiges Unterfangen und Anliegen zahlreicher Soziolog*innen weltweit begriff, zu denen er sich zählte.[2] Sein mit Begeisterung vorgetragenes Plädoyer für eine öffentliche Soziologie inspirierte zahlreiche akademische und nicht-akademische Publika, rief Kritik hervor und erzeugte eine derartige Resonanz, dass sein weiteres Wirken bisweilen in den Hintergrund rückte.[3]

In Ergänzung zur Lektüre von Michael Burawoys Schriften durfte ich, was ich als große Ehre und Bereicherung empfand, sein Wirken in persönlichen Gesprächen, auf Veranstaltungen und durch Kooperationen in verschiedenen Kontexten verfolgen: In der International Sociological Association, deren Präsident er von 2010 bis 2014 war, an deren III Forum of Sociology ich im lokalen Organisationskomitee in Wien mitwirkte, und in deren Rahmen ich gemeinsam mit Klaus Dörre seine Nachfolge als Herausgeber*innen des von ihm gegründeten vielsprachigen Global und Public Sociology-Magazins Global Dialogue[4] antrat; als Fellow am DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; während seines Visiting Professorship an der Johannes Kepler Universität Linz; bei Aktivitäten der International Karl Polanyi Society Wien und des Karl Polanyi Institute of Political Economy Montreal. Im Folgenden werde ich einige Schlaglichter auf Michael Burawoys Werk und Wirken werfen, um anschließend auf seine öffentliche Soziologie zurückzukommen.

Da ist das (auto-)ethnografische Moment, das sein Schaffen durchzog. Die Erfahrungen, die er als Student auf Reisen in Sambia machte, führten zu seiner ersten Auftragsforschung in den dortigen Kupferminen; seine arbeitssoziologischen Studien in Ungarn und Russland verdankten sich seinen teilnehmenden Beobachtungen als Arbeiter. Mit dem Begriffspaar „politics of production“ und „politics in production“ gelang es ihm, die anhaltend brisante Frage, warum und wie die Beherrschten in Unternehmen mitspielen, im Kontext der Labour Process Debate in neuem Lichte zu betrachten.[5] Auch sein eigener Arbeitsplatz, die Universität, zuletzt und langjährig die University of California in Berkeley, blieb von seinem (auto-)ethnografischen Blick nicht verschont. Er machte die seit vier Jahrzehnten fortschreitende Vermarktlichung der Universitäten und ihre zerstörerischen Folgen für wissenschaftliche Arbeit und Erkenntnis zum Thema und sah sich gerade als etablierter Wissenschaftler in der Pflicht zu Kritik und Protest.[6] Der ethnografische Blick prägte auch seine Reisen in über fünfzig Länder und inspirierte seine als Präsident der International Sociological Association gehaltene Rede „Facing an Unequal World“, in der er in Auseinandersetzung mit den „three P’s“ (Pope, Piketty, Polanyi) seine Beobachtungen zu den sozialen Protestbewegungen, die in vielen Teilen der Welt gegen die Folgen des Finanzmarktkapitalismus aufbegehrten, präsentierte.[7] Ethnografische Methoden waren für Michael Burawoy zentral, um eine soziologische Sicht zu entwickeln, die die Gesellschaft lokal wie global ‚von unten‘ analysiert.[8]

Dann ist da die theoretische Dimension seines Denkens. Michael Burawoy stand der Marx‘schen Tradition nahe und betrieb eine von Polanyi inspirierte Analyse der seit den 1970er-Jahren beobachtbaren „marktfundamentalistischen“ Entwicklung des Kapitalismus.[9] Vor diesem Hintergrund nahm er die desaströsen sozial-ökologischen Folgen einer entfesselten kapitalistischen Ökonomie ebenso in den Blick wie er bestrebt war, nach transformativen Auswegen – „utopias“[10] – zu suchen. In zahlreichen Arbeiten argumentierte er in inspirierender Weise theorienvergleichend und -pluralistisch. Dies waren die Fundamente seiner globalen Soziologie, die er in Auseinandersetzung mit vielen Weggefährt*innen entwickelte, nicht zuletzt seinen langjährigen, viel zu früh verstorbenen Kollegen und Freunden Edward Webster in Südafrika und Erik O. Wright in den USA.[11] Diverse Aufsätze zu Karl Marx, Karl Polanyi und Antonio Gramsci wurden ebenso grundlegend wie das mit Karl von Holdt als imaginäre „conversation“ gestaltete Zusammentreffen verschiedener Ansätze mit dem Denken Pierre Bourdieus.[12] Der Hegemonie der US-amerikanischen Wissenschaft kritisch gegenüberstehend, ihre „Provinzialisierung“[13] fordernd, richtete Michael Burawoy den Blick zudem auf in den Soziologien des Globalen Nordens marginalisierte Ansätze und Theorien des Globalen Südens, wie W. E. B. Du Bois und Frantz Fanon. Wie Theoriediskussion mit Studierenden geht, durfte ich im Rahmen eines Co-Teachings beobachten, in dem wir Michael Burawoys Auseinandersetzung mit Max Weber diskutierten:[14] Je intensiver und kritischer die Studierenden – nach Überwindung der Scheu angesichts des prominenten Gastprofessors – seine Ausführungen diskutierten, desto differenzierter ging Michael Burawoy mit großer Wertschätzung auf jeden ihrer Beiträge ein und schuf eine Atmosphäre, in der Theoriediskussion nicht nur spannend war, sondern schlichtweg Spaß machte. Noch Semester später sprachen mich Studierende auf dieses Highlight ihres Studiums an.

Überhaupt ist da Michael Burawoys Bemühen um „young people“: Studierende, aber auch Nachwuchswissenschaftler*innen waren für ihn schlichtweg die Zukunft der Soziologie. So finden sich in seinen Publikationen nicht nur Danksagungen an seine Studierenden, sondern der Kontakt zu jüngeren Leuten – sei es in der Lehre, sei es in der International Sociological Association – war für ihn zentral. Und auch im Global Dialogue, der von einem circa hundertköpfigen Team meist junger Soziolog*innen oder Soziologiestudent*innen vom Englischen in fünfzehn Sprachen übersetzt wird, sah Michael Burawoy immer zweierlei: Die Chance, mit soziologischen Kurzbeiträgen aus aller Welt ein globales akademisches und nicht-akademisches Publikum zu erreichen, und das Wirken der „next generation of global sociologists“, die Schranken im Denken überwindet, welche im vermachteten und stratifizierten Raum der Wissenschaft trotz der internationalen Etablierung feministischer, postkolonialer und vieler weiterer kritischer Ansätze immer noch bestehen.

In gewisser Weise fügen sich diese und viele weitere Momente in seinem Bestreben, einer globalen öffentlichen Soziologie den Weg zu bereiten, in ganz eigener Weise zusammen. Im Rahmen seiner machtanalytischen Betrachtung der Soziologie, in die sein Plädoyer für eine öffentliche Soziologie eingelassen ist, machte er vier Felder aus: Die „professionelle“ und „angewandte“ Soziologie, die aus seiner Sicht das „instrumentelle“ Wissen des Fachs hervorbringen, sowie die „kritische“ und „öffentliche“ Soziologie, die mit ihrem „reflexivem“ Wissen das „kritische Gesicht“ oder das „Gewissen“ der erstgenannten beiden Soziologien bilden. Die öffentliche Soziologie wird dabei nochmals unterschieden in eine „traditionelle“ Linie, in der Soziolog*innen sich beispielsweise medial als öffentliche Intellektuelle äußern, und eine „organische“ Linie, in der die Soziologie direkt mit zivilgesellschaftlichen Gruppen oder Initiativen zusammenarbeitet. Alle vier Soziologien stehen für Michael Burawoy in einem unauflöslichen Spannungsverhältnis.[15] Als Professionspolitiker plädierte er dafür, die Spannungen, welche Soziolog*innen individuell zu bearbeiten haben, sobald sie sich beruflich durch alle Felder bewegen, und die das Fach als Ganzes konfliktträchtig machen, produktiv auszutragen, so dass die Soziologie geeint und gestärkt daraus hervorgeht. Als „organischer“ öffentlicher Soziologe wusste er durchaus, dass sein Ansatz hinsichtlich der Frage, was das Fach leisten kann, darf und soll, für so manche Kritiker*innen inakzeptabel war. Für ihn war das 21. Jahrhundert jedoch die Epoche, in der die öffentliche Soziologie in den Vordergrund rückt und auch rücken muss,[16] damit das Fach in kritischer Reflexion auf seine eigenen Voraussetzungen, Orientierungen und Grenzen an der Seite der Zivilgesellschaft, die er mit Blick auf rechtspopulistische Einflüsse wahrlich nicht idealisierte, für die „Interessen der Humanität“ eintreten kann. Wie nötig das ist, zeigt sich angesichts der voranschreitenden „marktfundamentalistischen“[17] wirtschaftlichen und autoritären politischen Entwicklung – somit in den gegenwärtigen „Zeiten der Tyrannei des Marktes und des staatlichen Despotismus“ – in vielen Ländern der Welt. Es handelt sich um Tendenzen, die die Zivilgesellschaft und die Wissenschaft, darunter nicht zuletzt die Soziologie, massiv bedrohen.

Michael Burawoy starb viel zu früh am 3. Februar 2025 in seiner langjährigen Wahlheimatstadt Oakland/Kalifornien durch einen Autounfall mit Fahrerflucht. Fachlich bleibt seine theoretische, empirische, ethnografische, öffentliche Soziologie, persönlich bleiben viele schöne Erinnerungen an einen großen globalen Soziologen.

  1. Michael Burawoy, Public Sociology. Öffentliche Soziologie gegen Marktfundamentalismus und globale Ungleichheit, (hg. von Brigitte Aulenbacher und Klaus Dörre mit einem Nachwort von Hans-Jürgen Urban), Weinheim und Basel 2015, S. 89.
  2. Michael Burawoy, Public Sociology. Between Utopia and Anti-Utopia, Cambridge and Medford, 2021; Michael Burawoy, Public Sociology, 2015, S. 24 ff.
  3. Leslie Hossfeld / Brooke E. Kelly / Cassius Hossfeld (Hg.), The Routledge International Handbook of Public Sociology, London and New York, 2021.
  4. https://globaldialogue.isa-sociology.org/ (23.2.2025)
  5. Michael Burawoy, Manufacturing Consent. Changes in the Labor Process under Monopoly Capitalism Chicago and London, 1979; Michael Burawoy, The Politics of Production. Factory Regimes under Capitalism and Socialism, London 1985.
  6. Michael Burawoy, Public Sociology, 2021, S. 178 ff.
  7. Michael Burawoy, Public Sociology, 2015, S. 188
  8. Michael Burawoy u.a., Global Ethnography. Forces, Connections, and Imaginations in a Postmodern World, Berkeley, Los Angeles, London, 2000; Michael Burawoy, The Extended Case Method. Four Countries, Four Decades, Four Transformations and One Theoretical Tradition, Berkeley, Los Angeles, London 2009.
  9. Michael Burawoy, Public Sociology, 2015, S. 145 ff. und 208 ff.
  10. Michael Burawoy, Public Sociology, 2021.
  11. Michael Burawoy, Public Sociology, 2021.
  12. Michael Burawoy, Karl v. Holdt, Conversations with Bourdieu. The Johannesburg Moment, Johannesburg, 2012.
  13. Michael Burawoy, Public Sociology, 2015, S. 82
  14. Michael Burawoy, From Max Weber to Public Sociology, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.): Transnationale Vergesellschaftungen Bd. 2. Verhandlungen des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt am Main 2010, Wiesbaden 2013, S. 741–755
  15. Michael Burawoy, Public Sociology, 2015, S. 64 ff.
  16. Michael Burawoy, Die Zukunft der Soziologie, in: Brigitte Aulenbacher u.a. (Hg.), Öffentliche Soziologie, Wissenschaft im Dialog mit der Gesellschaft, Frankfurt und New York 2017, S. 99-112, hier: S. 106 ff.
  17. Michael Burawoy, Public Sociology, 2015, S. 208 ff.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

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Portrait Brigitte Aulenbacher

Brigitte Aulenbacher

Brigitte Aulenbacher, Prof. i.R., Dr., bis Oktober 2024 Professorin für Theoretische Soziologie und Sozialanalysen (unter Berücksichtigung der Gender Dimension) an der Johannes Kepler Universität Linz/Österreich, Vize-Präsidentin der International Karl Polanyi Society Wien, Herausgeberin des Global Dialogue (2018–2022, mit Klaus Dörre), Herausgeberin der Buchreihe „Arbeitsgesellschaft im Wandel (mit Tine Haubner, Birgit Riegraf, Karin Scherschel), Arbeitsgebiete: Feministische Gesellschaftstheorie und Kapitalismusanalyse, Arbeits- und Careforschung, öffentliche Soziologie.

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