Gunter Gebauer | Rezension |

Sportphilosophische Untersuchungen

Rezension zu „A Philosopher Looks at Sport“ von Stephen Mumford

Stephen Mumford:
A Philosopher Looks at Sport
Großbritannien
Cambridge 2021: Cambridge University Press
142 S., EUR 12,50
ISBN 9781108992961

Warum ist Sport so wichtig für die vielen, die ihn betreiben und die ihm zuschauen, wo er doch relativ folgenlos für die Gesellschaft bleibt? Von einem philosophischen Standpunkt gesehen ermöglicht er menschliche Erfahrungen des Selbst und der Anderen, setzt grundlegende Werte der Anerkennung und des Fairplay voraus und wird durch soziale Institutionen organisiert, die diese Werte zu respektieren haben. An den Reibungen im Sport kann die Gesellschaft eigene Probleme wahrnehmen. Diese Überlegungen bilden den Ausgangspunkt des Buches von Stephen Mumford, Professor für Metaphysik an der britischen Durham University, Autor von Büchern über Dispositionen, Naturgesetze und neuerdings über Abwesenheit und das Nichts.

Zum Thema Sport hat Mumford bereits zwei weitere Publikationen verfasst. Das vorliegende Buch ist in einer neuen Reihe der Cambridge University Press erschienen, die renommierte Philosoph:innen dazu einlädt, allgemeinverständlich zu Problemen der Gegenwart zu schreiben. Im Sinne der Reihe entwickelt der Autor seine Thematik ausgehend von persönlichen Erfahrungen. Bei Mumford sind diese geprägt von der Überwindung der Furcht vor dem Kopfsprung ins Wasser – eine befreiende Erfahrung, die er als ein „flourishing“, als Aufblühen seiner Körpererfahrung bezeichnet: Sport ist eine wesentlich körperliche Aktivität, die zur Entfaltung des Menschen führt.

Analytische Beinarbeit

Im umfangreichen ersten Teil des Buchs (Kapitel 1 bis 3) arbeitet Mumford pointiert heraus, was in seiner Sicht den Sport ausmacht. Als analytischer Philosoph in der Linie von Ludwig Wittgenstein hütet er sich vor Begriffsbestimmungen mit scharfen Abgrenzungen: Sie führten zu essentialistischen Fixierungen eines Wesenskerns, die in Anbetracht der zahllosen Ausprägungen und Bedeutungen des Sports dogmatisch wären. Einen großen Überschneidungsbereich hat der Sport mit dem Spiel, insbesondere durch das von beiden geteilte Merkmal der Zweckfreiheit. Das Spiel definitorisch einzugrenzen, führt zu ähnlichen Problemen wie beim Sport. Mumford erspart seinen Lesern folgerichtig jede begriffliche Gymnastik und nimmt stattdessen eine elegante Abkürzung mit Bernard Suits’ origineller Formulierung aus dem Jahr 1978, die das Spezifikum des Spielens mit frappierender Einfachheit erfasst: „Ein Spiel spielen ist der freiwillige Versuch, unnötige Hindernisse zu überwinden.“[1] Sport ist Spiel in diesem Sinn; er muss aber noch zwei zusätzliche Bedingungen erfüllen: Das Spiel muss als Wettkampf organisiert werden, und damit dieser möglich wird, muss er ein Regelwerk erhalten, das die Bedingungen der Zulassung zu der Konkurrenz und deren friedliche Durchführung festlegt.

Anlage und Vorgehen Mumfords lassen den analytischen Philosophen angelsächsischer Prägung erkennen, der logische Schärfe mit einer pragmatischen Grundeinstellung verbindet: So viel gedankliche Feinarbeit wie für die Begriffsbestimmung nötig, aber auch nicht mehr. Das erspart viel unnötigen Aufwand und kommt mit einfachen Worten schneller ans Ziel: Notwendige Bedingung des Sports ist der Wettkampf. Dieser schließt den Bezug zu anderen Personen ein, gegen die man sich durchsetzen will, ausschließlich mit friedlichen Mitteln, im Rahmen der sportlichen Regeln. Mumfords Zwischenfazit: „We have seen that, while not all competition is sport, there are some good reasons to accept that all sport is competition.“ (S. 43)

Auf schwankendem Grund

Wo Wettkampf ist, muss es Regeln geben. Wer setzt das Regelwerk des Sports fest und wie wird es aufrechterhalten (Kapitel 4, „Spectacle“)? Dies geschieht durch die sozialen Institutionen des Sports, durch die internationalen Verbände (wie die FIFA und das IOC). Mit diesem Thema befindet sich Mumford nach der Begriffsbestimmung in den vorangegangenen Kapiteln auf einem anderen Terrain: Das analytische Vorgehen muss dringend erweitert oder sogar durch ein anderes ersetzt werden. Insofern bilden die Kapitel 4 bis 6 einen zweiten Teil des Buches mit anderem Charakter; sie befassen sich mit aktuellen Problemen des Sports und nehmen einen stärker soziologischen Charakter an. Diese Veränderung des Vorgehens macht das Buch zeitgemäß, appelliert an das Interesse der Leserschaft, stimuliert die Parteinahme – eine erfrischende Wendung, ob man den Thesen Mumfords folgen mag oder nicht.

Dass der Sport vor Zuschauern betrieben und zu einem Schauspiel (spectacle) wird, ist Mumford zufolge Teil seiner „Ontologie“ (S. 94). Damit ist gemeint, dass sportliche Wettkämpfe konstitutionell so angelegt sind, dass sie vor Zuschauern stattfinden. Dies ist nicht nur Folge ihrer grundsätzlichen Beschaffenheit, sondern ist auch das Ergebnis kontingenter historischer Entwicklungen in den Ländern, die den modernen Sport geprägt haben. Über diesen Prozess (zum Beispiel über die Rolle der Medien und das Interesse an Körperlichkeit, über die dadurch entstandenen Märkte und Interessen u.v.m.) sagt Mumford fast nichts. Immerhin erwähnt er die entscheidenden Institutionen, die den Sport heute geradezu ,regieren‘. Seine angekündigte „institutional theory of sport“ wird jedoch, jedenfalls im vorliegenden Buch, höchstens in Umrissen sichtbar, vielleicht weil er die Diskussion ganz auf dem Terrain der Philosophie halten will. Dabei hätte er auf Arbeiten von Soziologen mit philosophischer Kompetenz verweisen können, etwa auf Georg Simmel (über Konkurrenz), Norbert Elias (über die Suche nach Erregung) oder Pierre Bourdieu (über den Markt des Sports). Auch Verweise auf die Konzepte der Theatralität und Performativität aus dem kontinentalen Diskurs hätten Mumfords Schauspiel-Kapitel etwas mehr Farbe geben können. Diese Bemerkungen sollten als Ermutigung verstanden werden, die philosophisch-analytische Erörterung des Sports für andere Disziplinen zu öffnen.

Wie Mumford klar herausarbeitet, ist der Sport ein durch und durch normatives Konzept, das von den großen Institutionen des Weltsports dominiert und bis in Einzelheiten hinein reguliert wird. Die sanktionierende Gewalt dieser Föderationen diskutiert der Verfasser an zwei Beispielen, die die offizielle Anerkennung als sports zwar verdienten, diese aber bisher nicht offiziell erhalten haben: „e-sports“ und „Parkour“. Sollten sie aber von den Sportverbänden aufgenommen werden, könnten ihnen durch deren Machtansprüche erhebliche Schwierigkeiten entstehen.

Ein sportlicher Gesellschaftsvertrag

Eine wesentliche Errungenschaft des Sports ist seine ethische Beschaffenheit (Kap. 5): Er bewegt sich laut Mumford in einer „ethical bubble“ (S. 88), eine geschickt gewählte Metapher. In diese Blase treten die Beteiligten durch einen „consent“ ein, durch die freiwillige überwiegend stillschweigende Zustimmung zu den Bedingungen des Wettkampfs (S. 100 f.). Sie umfasst unter anderem den intendierten Verzicht auf physische Schädigung der Konkurrenten, der eine relativ sichere Teilnahme aller an den Wettkämpfen gewährleisten soll.

Dieser consent bezieht sich auf die grundsätzliche Einstellung der Handelnden zum Wettkampf. Das heißt, dass er auch dann weiterhin gilt, wenn das Subjekt einmal dagegen verstoßen sollte. Mit der Einwilligung akzeptieren die Beteiligten ebenfalls, dass der Sport keine absolute Egalität der Konkurrenz herstellen kann (es gibt unvermeidlich günstigere und schlechtere Bedingungen im Wettkampf, zum Beispiel durch meteorologische Einflüsse). Hier zeigt sich erneut die begriffliche Geschmeidigkeit von Mumfords analytischer Vorgehensweise; ein consent bleibt durchweg freiwillig und stellt keine Unterwerfung dar: „It can be withdrawn at any moment if what occurs violates the agreement.“ (S. 101)

Unter ethischen Gesichtspunkten weist der Begriff des consent auf eine wichtige Problematik hin: Die Zustimmung zu den Bedingungen des Wettkampfs setzt voraus, dass der Athlet und die Athletin fähig sind, die sich daraus ergebenden Konsequenzen zumindest grundsätzlich zu überblicken. Man darf jedoch nicht ohne Weiteres annehmen, dass sehr junge, hochmotivierte Beteiligte zu einer solchen Voraussicht fähig oder bereit sind. In ethischer Perspektive ist es daher geboten, sie vor exzessivem Training und vor Entscheidungen, die ihre Zukunft belasten können (zum Beispiel der heute fast üblich gewordene Verzicht auf eine Berufsausbildung), zu schützen. In erster Linie wäre dies die Aufgabe der Verbandsvertreter:innen (Trainerinnen und Betreuer), die aber oft nur an kurzfristigen Erfolgen interessiert sind, schon weil ihre eigenen beruflichen Chancen von diesen abhängen.

Gegen diesen Trend fordert Mumford, dass erwachsenen Sportler:innen Autonomie gewährt werden müsse: Ihre Stimme sollte gerade in politischen Fragen, wie bei der Beachtung von Menschenrechten bei den Olympischen Spielen in Beijing und der Fußball-WM in Katar, eine viel größere Aufmerksamkeit erhalten als bisher – ein wichtiger Einwand gegen die Behauptung von Sportverbänden, dass politische Meinungen im Sport nichts zu suchen hätten. Mumfords Formulierung gegen die Entscheidung von IOC und FIFA, politische Stellungnahmen bei internationalen Meisterschaften zu verbieten, lässt an Klarheit nicht zu wünschen übrig: „Deciding what is or isn’t political is itself a political act.“ (S. 106)

Ein Inklusionsdilemma

In der Frage, wer bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften teilnehmen darf und wer nicht, üben die internationalen Verbände eine bedeutende Entscheidungsgewalt aus. Die Zulassung zu Titelkämpfen ist an eine Reihe von Bedingungen geknüpft. Mumford demonstriert dies an zwei Fällen des Ausschlusses von olympischen Wettbewerben: am Problem der Ausgrenzung von Behinderten von olympischen Wettbewerben (hier diskutiert am Beispiel von Sportler:innen mit Beinprothesen)[2] und an der strittigen Frage der Zulassung zu Frauen-Wettbewerben von Menschen, deren geschlechtliche Selbstidentifizierung als weiblich vom IOC nicht anerkannt wird. Der erste Fall hat eine weithin akzeptierte Lösung gefunden mit den Special Olympics, die zeitversetzt, aber im gleichen Rhythmus wie die offiziellen olympischen Wettkämpfe stattfinden, und den Paralympics, die unmittelbar nach den Spielen auf denselben Sportstätten und mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit organisiert werden: Die sportlichen Leistungen von Behinderten rufen das Interesse einer weltweiten Öffentlichkeit hervor, was zur Folge hatte, dass die Frage der Vergleichbarkeit der Leistungen von Behinderten und Nicht-Behinderten beiseitegelegt werden konnte.

Die Deutungskämpfe um die Feststellung des weiblichen Geschlechts werfen hingegen schwierige und weithin kontroverse Probleme nicht nur des Leistungsvergleichs, sondern auch der Fairness auf. Sie werden im vorliegenden Buch bei weitem nicht in zufriedenstellender Weise dargestellt und noch weniger gelöst. Mumford diskutiert solche Fragen unter anderem am Beispiel der südafrikanischen Läuferin Caster Semenya. Aufgrund eines sehr hohen Werts von männlichen Sexualhormonen zog das IOC 2019 Semenyas Zulassung für Frauenwettbewerbe zurück. Bei früheren Teilnahmen hatte sie mehrfach sämtliche Konkurrentinnen deklassiert. Mumford spricht sich – auf das Beispiel Semenya stützend – vehement für die Beteiligung von Trans Athletinnen an olympischen Frauen-Wettbewerben aus, ohne die Benachteiligung von Frauen überhaupt nur zu erwähnen. Wie kann aber, wenn man diesem Vorschlag folgt, das Prinzip der Chancengleichheit – ein hohes Gut der Olympischen Spiele – bewahrt werden? Das sich so ergebende Dilemma von Inklusion versus Chancengleichheit wird von Mumford unbearbeitet liegen gelassen.

Mit dieser Ausnahme liegt die Stärke des Buches in durchweg sorgfältig argumentierenden Diskussionen. Mumford bewegt sich im ersten Teil elegant durch den Begriffsparcours der Probleme des aktuellen Wettkampfsports. Die Differenziertheit der analytischen Philosophie bewährt sich auch im zweiten Teil, aber aufschlussreiche Betrachtungen mit neuen Einsichten eröffnet sie nicht. Stephen Mumford zeigt, dass die analytische Sportphilosophie wertvolle Arbeit leistet, aber doch ,nur‘ vorbereitende Arbeit, weil die soziale, politische und ethische Komplexität der gegenwärtigen Sportkultur ohne engen Kontakt zur Empirie und zur einschlägigen Forschung nicht reflexiv durchdrungen werden kann.

  1. Bernard Suits, The Grasshopper. Games, Life and Utopia (1978), Peterborough, ON 2005, S. 59 (meine Übersetzung, G.G.).
  2. Mumford diskutiert den Fall des südafrikanischen 400m-Läufers Oscar Pistorius. Daneben ist etwa der deutsche Weitspringer Markus Rehm zu nennen, der mit einer Beinprothese viermal in Folge bessere Leistungen erzielte als der Deutsche Meister.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Samir Sellami.

Kategorien: Körper Kultur Lebensformen Philosophie

Porträtfoto von Gunter Gebauer

Gunter Gebauer

Gunter Gebauer ist emeritierter Professor für Philosophie und Sportwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsgebiete sind Historische Anthropologie, Sprach- und Sozialphilosophie sowie Sporthilosophie und Sportsoziologie. Zuletzt erschienen 2020 „Olympische Spiele“ im Reclam Verlag und 2021 „Wie wird man ein Mensch? Anthropologie als Grundlage der Philosophie“ bei transcript.

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