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Systemtheorie der Gesellschaft, Selbstthematisierung und die Grenzen der Organisierbarkeit

Niklas Luhmann reconsidered

Im Dezember 2017 ist Niklas Luhmanns Systemtheorie der Gesellschaft bei Suhrkamp erschienen. Es handelt sich um den beeindruckend elaborierten Entwurf einer Gesellschaftstheorie, an dem der Bielefelder Soziologe Mitte der 1970er Jahre gearbeitet hatte, ohne den damals entstandenen Text je zu Lebzeiten publiziert zu haben. Das Typoskript, unter Mitarbeit von Christoph Gesigora aus dem Nachlass von Luhmann herausgegeben von Johannes F. K. Schmidt und André Kieserling, stellt den zweiten von insgesamt vier annähernd vollständigen, bisher jedoch unveröffentlichten Anläufen zu einer umfassenden Gesellschaftstheorie dar, die Luhmann in den Jahren zwischen 1967 und 1992 beschäftigt hatten. Da er erst 1997, ein Jahr vor seinem Tod und damit gegen Ende eines extrem produktiven Daseins als Sozialwissenschaftler, mit der Gesellschaft der Gesellschaft eine ausgearbeitete Gesellschaftstheorie vorlegte, ist die Systemtheorie der Gesellschaft von großer werk- und theoriegeschichtlicher Relevanz. Sie bietet einen faszinierenden Einblick in die Werkstatt des Systemtheoretikers und gestattet sowohl dia- wie synchrone Schneisen durch dessen Oeuvre zu ziehen.

Die Veröffentlichung des Manuskripts von 1975 verdankt sich der systematischen Erschließung des wissenschaftlichen Nachlasses Luhmanns, die schon seit einigen Jahren an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld erfolgt. Dort wird, neben der Vorbereitung weiterer Publikationen nachgelassener Textkonvolute, auch die Digitalisierung des berühmten sogenannten Zettelkastens vorangetrieben. Luhmanns etwa 90 000 Notate beinhaltender Kasten soll mitsamt des komplexen Verweisungssystems, das eine sinnvolle Nutzung der Karteikarten erst ermöglicht, in absehbarer Zukunft online zugänglich gemacht werden. Ein erster Einblick, über den Soziopolis berichten wird, ist für die kommenden Wochen angekündigt.

Eine an anderer Stelle aufbereitete (Wieder-)Veröffentlichung von Texten Luhmanns findet sich in der auf sechs Bände angelegten Edition „Schriften zur Organisation“,  die Ernst Lukas und Veronika Tacke herausgeben. Diese Ausgabe wird alle vorhandenen Aufsätze und Vorträge Luhmanns zum Thema Organisation versammeln und auch Texte präsentieren, die  bis dato unveröffentlicht waren.

Soziopolis hat einen Themenschwerpunkt vorbereitet, der die Aufmerksamkeit auf die jetzt lesbar gewordenen Schriften lenken möchte. Den Aufschlag liefert ein Interview, das Martin Weißmann und Martin Bauer mit André Kieserling geführt haben. Der Mitherausgeber und exzellente Luhmann-Kenner ordnet das Buch in die Werkgeschichte ein und beleuchtet seine Besonderheiten.

Zugleich publizieren wir einen Literaturessay von Andreas Göbel, der unter dem Titel „Ein ‚Spezialproblem‘ mit ‚zentrale(r) Bedeutung‘“ der Frage nachgeht, welche Rolle der „Selbstthematisierung des Gesellschaftssystems“ in und für Luhmanns Systemtheorie der Gesellschaft zukommt. Es handelt sich um die erste systematische Würdigung der Neuerscheinung aus dem Dezember 2017, die Luhmanns Argumentation sowohl werkhistorisch kontextualisiert, als sie auch vor dem Hintergrund weiterer Analysen, die der Systemtheoretiker im selben Zeitraum veröffentlicht hatte, schärfer konturiert.

Wir beschließen den Schwerpunkt mit einer Rezension des ersten Bandes der „Schriften zur Organisation“, in der Thomas Hoebel den analytischen Mehrwert des beeindruckenden Konvoluts von Vignetten und Aufsätzen unter der Perspektive gewichtet, wie Luhmann jeweils die „Grenzen der Organisierbarkeit“ diskutiert, Organisation also, um es mit anderen Worten zu sagen, aus ihren Limitiertheiten begreift. - Die Red.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer, Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Geschichte der Sozialwissenschaften

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