Julian Nicolai Hofmann | Rezension |

The Haunted House of Liberalism

Rezension zu „Liberalism against Itself. Cold War Intellectuals and the Making of Our Times“ von Samuel Moyn

Samuel Moyn:
Liberalism against Itself. Cold War Intellectuals and the Making of Our Times
USA
New Haven 2023: Yale University Press
240 S., 27.50 $
ISBN 9780300266214

Globale Pandemien, Ukrainekrieg, autoritäre Wahlerfolge und eine tiefsitzende Unsicherheit über die Zukunft der liberalen Demokratie. Glaubt man der Flut krisensensibler Publikationen der vergangenen Jahre, befinden wir uns einmal mehr inmitten eines „great war over liberalism“ (S. 2), Ausgang ungewiss. In Anbetracht multipler Bedrohungen, mit denen sich liberale Ordnungen gegenwärtig konfrontiert sehen, überrascht es kaum, wenn vertraut simple Deutungsmuster des 20. Jahrhunderts eine Renaissance erleben und sich politisches Denken einmal mehr an der argumentativen Mottenkiste des Kalten Krieges bedient: Die Demokratie ist bedroht, die Gegner der Freiheit lauern überall, kriegstreibende Autokraten im Äußeren, gefährliche Populisten im Inneren. Die aktive Verteidigung der liberalen Ordnung erscheint vielen heute notwendiger denn je.[1] Andere wiederum haben den Liberalismus schon lange verabschiedet. So etwa Patrick Deneen, dessen Beitrag Why Liberalism failed[2] es sogar auf die Summer Reading List 2018 des ehemaligen US-Star-Präsidenten Barack Obama schaffte.[3] Für Deneen, Professor an der University of Notre Dame, ist der Liberalismus bereits gescheitert, und zwar aus systemischen Gründen: Er habe sich schlicht historisch erschöpft, münde in Partikularismus, Nihilismus sowie kulturellem Niedergang, da er zentrale Integrationsfaktoren wie auch Stabilitätsgaranten politischer Gemeinschaften (beispielsweise Religion und Tradition) sukzessive durch die Förderung destruktiver Eigeninteressen ersetzt habe. Deneens Timing war perfekt: Nicht zuletzt die Empörung über Trumps populistischen Wahlsieg machte das Buch zum Bestseller.

Einen erfrischend anderen Ansatz, der sich weder mit naiven Verteidigungen noch konservativen Abgesängen gemein machen möchte, bietet das neue Buch von Samuel Moyn. Darin verortet der an der Yale University lehrende Ideenhistoriker die verworrene Debatte um das Schicksal „des“ Liberalismus streng historisch. Wo die verbohrten Kritiker des Liberalismus irren, so Moyns These, täuschen sich auch seine kompromisslosen Verteidiger, denn beide Lager beschwören gleichermaßen ein Zerrbild: Beide Kontrahenten fetischisierten einen Cold War liberalism, also eine historisch spezifische Spielart des Liberalismus, die sich längst von ihrer normativen Tradition gelöst habe und nur noch als leere Hülle fortexistiere. Einst sei der Liberalismus als Flaggschiff der Emanzipation angetreten, habe seine theoretische Schlagkraft aus dem kritischen Geist der Aufklärung geschöpft und eine zutiefst optimistische Geschichtsauffassung vertreten. Anfang des 20. Jahrhunderts habe dieser Liberalismus jedoch zu erodieren begonnen – ein Prozess, der letztlich, begleitet vom theatralischen Säbelrasseln des Kalten Krieges, zu einer vollständigen Degeneration seiner ursprünglichen politischen Motive geführt habe. Liberales Denken sei auf neoliberale Marktphantasien oder neokonservativen Moralismus zusammengeschrumpft: „Cold War liberalism was a catastrophe – for liberalism“ (S. 1).

Im Gegensatz zur vielfältigen Krisenliteratur der vergangenen Jahre verortet Liberalism against Itself die Erschöpfung des Liberalismus gerade nicht in (rechts-)populistischen Wahlerfolgen oder dem wachsenden Legitimationsverlust demokratischer Institutionen. Vielmehr verschiebt Moyn den Blick von solchen exogenen Faktoren auf die folgenschwere Selbstzersetzung zentraler Elemente der liberalen Denktradition. Die Liberalen des Kalten Krieges entkernten, so Moyn, den Liberalismus und schufen ein Denken, das die emanzipatorische Agenda abgeschrieben hatte und sich schlicht damit begnügte, bestehende Freiheiten auch mit repressiven Mitteln zu verteidigen. Übrig blieb eine Politik der Angst, die den Schutz der fragilen demokratischen Gesellschaft gegen innere wie äußere Bedrohungen zum lähmenden politischen Leitmotiv erhoben hatte.

Angesichts zweier verheerender Weltkriege sowie den totalitären Formierungen in Europa und der UdSSR tauschten die Liberalen des Kalten Krieges ihren Optimismus gegen ein Denken im Bunkermodus, das überall Feinde witterte und bereit war, sich aggressiv zur Wehr zu setzen. Der Cold War liberalism nahm die Gestalt einer restriktiven und insbesondere defensiven Weltanschauung an, die sich in Abwehrgefechten mit ihren Gegnern aufrieb und besonders in der Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts einen gefährlichen, proto-totalitären Giftcocktail ausmachte: „In the Cold War, liberalism’s relationship to emancipation and reason – rooted in the eighteen-century intellectual departure known as the Enlightenment – disintegrated. Expectant hope now felt naïve, and the aspiration to universal freedom and equality was denounced as a pretext for repression and violence.” (S. 3) Die Folge war eine theoretische Neukodierung liberaler Politik, in deren Zuge gehaltvolle politische Fragestellungen auf das Schema liberale Demokratie versus Totalitarismus reduziert wurden. Die andauernde Angst vor dem allmächtigen Staat und dem drohenden Kommunismus „triggered a new vision of the descent of liberalism“ (S. 19).

Argumentative Wucht gewann dieser Liberalismus schließlich durch eine selbstverordnete theoretische Entkernung. Moyn schildert, wie die führenden Köpfe des Cold War liberalism eine gezielte De-Kanonisierung liberaler Traditionsbestände vorantrieben: Insbesondere Rousseau, Hegel und Marx wurden zu Feinden der Demokratie stilisiert und dienten nunmehr als Zielscheibe liberaler Angriffe. Als Schurkentrio bildeten sie fortan den Kern dessen, was Moyn als liberalen „anticanon“ (S. 19) beschreibt:[4] Der rote Faden ihres Denkens spanne sich von der Aufklärungsphilosophie, über die Romantik, bis in die sowjetischen Gulags hinein. Rousseau habe den Cold War Liberals als „one of the most sinister and most formidable enemies of liberty in the whole history of modern thought, who led first to the Jacobins, and then to twentieth-century dictatorship” (S. 54 f.) gegolten. Hegels Geschichtsphilosophie sei als Legitimation für jedwedes unmoralisches Handeln verteufelt und Marx schließlich zu seinem willigen Vollstrecker erklärt worden: „Where liberalism had emerged in the nineteenth century as a consequence of Enlightenment and entangled with Romanticism and progressivism, Cold War Liberals purified it of these legacies in the name of a nearly exclusive priority of individual freedom that all three [Rousseau, Hegel, Marx, JNH] allegedly threatened.” (S. 20) Übergeordnet erinnert Moyn damit auch an die immanent politische Dimension einer ‚Arbeit am Kanon‘: Liberalism against Itself demonstriert, dass durch das gezielte Engagement einflussreicher Kreise ganze Denktraditionen eingestampft und bedeutsame Beiträge ad acta gelegt werden können.

Den Kern des Buches bilden sechs provokante wie pointierte Portraits, die den ‚Kanon des Kalten Krieges‘ repräsentieren. Neben bekannten Namen wie Isaiah Berlin, Karl Popper, Hannah Arendt und Judith Shklar finden sich hier ebenso die Historikerin Gertrude Himmelfarb sowie der Literaturkritiker Lionell Trilling. Himmelfarb und Trilling sind, anders als in den USA, hierzulande wenig bekannt.[5] In der von Moyn entfalteten Systematik kann der Leser das Ensemble gedanklich jedoch getrost durch weitere Köpfe des Kalten Krieges erweitern: In ähnlicher Weise ließen sich auch Raymond Aron[6] oder Jacob Talmon[7] in diesen Kreis einordnen. Fraglos handelt es sich bei Moyns kanonischen Kalten Kriegern um eine heterogene Auswahl. Sind die Theorien, Perspektiven wie auch akademischen Disziplinen (teils) grundverschieden, fügen sie sich im Laufe der Argumentation nichtsdestotrotz zu einer dichten Erzählung, die ein durchaus kohärentes Gesamtbild zeichnet. Allesamt waren sie schlechte Bewahrer ihrer Tradition, indem sie einen historisch vitalen Liberalismus für konservativen Pessimismus wie auch den Marktfundamentalismus des aufkeimenden Neoliberalismus anfällig machten.

Judith Shklar (Kapitel 1) dient Moyn als eine Art „guide throughout this book“ (S. 13). Der 1929 in Riga geborenen späteren Harvard Professorin, kommt als komplexer Theoretikerin des Liberalismus eine durch Paradoxien charakterisierte Sonderrolle zu: In ihrem Frühwerk After Utopia[8] (1957) warf sie ihren Zeitgenossen ebenjene Engführung des Liberalismus vor, beklagte die zunehmende Marginalisierung der Aufklärungsphilosophie und warnte gleichermaßen vor ihren Folgen: „She begann her career by seeking an alternative to Cold War liberalism“ (S. 14). Demgegenüber steht ihr bekannter Essay über den Liberalism of Fear (1989), der ihr Spätwerk prägte und als Schlüsseltext des Cold War liberalism gelten kann. Gerade in dieser Neupositionierung, so argumentiert Moyn, werde die tragische Rolle Shklars offenbar: War ihr frühes Denken darum bemüht, den Liberalismus ihrer Zeit auf seinen ursprünglich emanzipatorischen Kurs zurückzuführen, lassen spätere Publikationen jeden Optimismus vermissen und die Verteidigung des Status quo erscheint im Angesicht der Angst vor schlechteren politischen Optionen alternativlos.

Als ein „excellent example of a Cold War liberal“ (S. 28) wiederum präsentiert Moyn Isaiah Berlin (Kapitel 2), obwohl auch ihm eine gewisse politische Ambivalenz zu eigen ist: Der Lehrer Shklars war insbesondere gegenüber der Romantik deutlich aufgeschlossener als andere Vertreter des Cold War liberalism. Während viele Zeitgenossen im romantischen Denken nur eine Grundlage für politische Irrationalismen und den expansiven Nationalismus des 20. Jahrhunderts erblickten, betonte Berlin die darin liegenden Ressourcen für eine „creative“ und „romantic individuality“ (S. 57 ff.), die er durchaus im Einklang mit seiner Konzeption des Liberalismus sah. Trotzdessen verließ Berlin während seiner intensiven Auseinandersetzung mit Mill diesen Pfad und sprach sich in Two Concepts of Liberty schlussendlich für die Dichotomie von negativer und positiver Freiheit aus, was seinen romantischen Individualismus unterminierte: „[…] his [Berlin‘s, JNH] defense of the kind of state that could guarantee negative liberty cut him and his followers off politically from the Romantic liberalism for which he had made room in his canon […]“ (S. 60). Ein limitierter, eingeschränkter Staat, der sich nur auf die Sicherung von individuellen Grundrechten beschränkte, wurde für Berlin zum Leitmodell.

Den verbohrtesten Cold War Hardliner der Liste stellt zweifelsfrei der Philosoph Karl Popper (Kapitel 3) dar, mit dessen politischen Schriften Moyn hart ins Gericht geht. Poppers Charakterisierung von Rousseau, Marx und Hegel als proto-totalitär wird als abstrus entlarvt, die politische Motivation hinter seinen polternden Angriffen aufgezeigt. Finanziell wie persönlich gefördert durch Friedrich von Hayek geriet Popper zunehmend in neoliberale Kreise, übernahm ihr reduktionistisches Denken und geißelte die als Schurken enttarnten Denker in propagandistischer Manier als Wegbereiter der Diktaturen des 20. Jahrhunderts: „Socialism itself leads directly to totalitarianism.“ (S. 85)

Für Irritationen wiederum könnte die Präsenz Hannah Arendts (Kapitel 5) in Moyns Auswahl sorgen, nicht zuletzt da sie „repeatedly declared she wasn’t a liberal“ (S. 115). Moyn begreift sie daher auch eher als „fellow traveler“ denn als lupenreine kanonische Kalte Kriegerin. Seine durchaus provokante These lautet, dass Arendts eigensinnige Konzeption von Freiheit „proved hostage to many cold war liberal premises – far beyond her obvious contribution to the concept of totalitarianism” (ebd.). Zu diesen Prämissen zählten für Moyn nicht nur die rigorose Ablehnung von Rousseau und Hegel oder ihre explizite Opposition zur Sozialen Frage der französischen Revolution,[9] sondern ebenso ihre koloniale, ja ‚weiße Perspektive‘, welche die Bewahrung der Freiheit an das Bollwerk des transatlantischen Westens binde:[10] „She adopted the Cold War contrast of Western civilization against French revolutionary manias. She saw them perverting global politics as decolonialization became an alibi for tyranny and violence.“ (S. 116) Arendt kritisiere die amerikanische Bürgerrechtsbewegung und zeige sich den anti-kolonialen Befreiungskämpfen des globalen Südens gegenüber mehr als skeptisch (S. 129 ff.). Ihr kurzzeitiges Engagement für den Zionismus[11] wiederum füge sich hier bestens ein: Nationale Unabhängigkeit und ein durchaus gewaltsames nation building würden dort toleriert, wo es sich um ein jüdisch-westliches Projekt handele. Den Verdammten dieser Erde gestünde Arendt diese Option jedoch nicht zu. Es gelinge ihr letztlich nicht, so Moyn, Freiheit unabhängig von einer Form des (neo-römischen) Empires zu denken.

Wie aber nun umgehen mit diesen Geistern des Kalten Krieges und der Sackgasse, in die sie den Liberalismus geführt haben? Moyns abschließendes Urteil ist niederschmetternd, wenn auch nicht ohne (liberalen) Optimismus. Zunächst konnte auch die in den späten 1960er-Jahren entstandene Neuen Linke die liberale Tradition nicht retten. Statt politische Alternativen anzubieten, lieferten die Aktivisten jener Jahre den konservativen Moralisten wie auch den Marktradikalen bequeme Ausgangsbedingungen für ihren Siegeszug. In ihrer häufig libertär anmutenden Rebellion gegen den bürokratisch-konformistischen (Sozial-)Staat schütteten sie das Kind mit dem Bade aus. Der großen Regression stand nun nichts mehr im Wege: Cold War liberalism „collapsed into neoliberalism and neoconservatism“ (S. 171). Trotz dieser düsteren Entwicklungen schwelgt Moyn in keinem Moment in politischer Nostalgie und plädiert nicht für eine Rückkehr zu einem früheren reinen, quasi nicht-kontaminierten Liberalismus. Vielmehr weisen seine abschließenden Überlegungen in Richtung einer Neubegründung linksliberalen Denkens, die wiederrum nur gelingen kann, wenn die eigenen, hausgemachten Pathologien überwunden werden. Dass die theoretische Inspiration wie auch die inhaltlichen Impulse dafür allerdings kaum im 20. Jahrhundert zu finden sind, sollte deutlich geworden sein. Davon abgesehen, dass er sich offen für Hegels Staatsphilosophie und Marx‘ Kapitalimsuskritik zeigt, macht Moyn jedoch nur vage Andeutungen, welches die theoretischen Grundpfeiler dieses neuen Liberalismus sein könnten – etwa mittels einiger positiver Bezüge auf Alexis de Tocquevilles und seine (liberalen) Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts (etwa S. 142, 174). Das insbesondere Tocqueville bei französischen Neokonservativen des Kalten Krieges wie Raymond Aron[12] oder François Furet zur anti-marxistischen Gallionsfigur erklärt wurde und sogar Claude Lefort sich affirmativ auf dessen Denken bezog, gibt jedoch Anlass zu Skepsis. Die liberal-konservative und die linke Totalitarismuskritik der 1970er-Jahre weisen in ihrer Aneignung Tocquevilles erstaunliche Gemeinsamkeiten auf.[13] Zudem erscheint fraglich, ob sich die Verdammten des Liberalismus, zuvorderst Rousseau und Marx, in ein konsistentes liberales Traditionsnarrativ eingliedern lassen. Mit der bürgerlichen Gesellschaft, der historisch dominanten sozialen Organisationsform des Liberalismus, standen sie in unterschiedlicher Weise auf Kriegsfuß.

Moyns Vorschlag, der politisch scheinbar darauf hinausläuft, ein optimistisches liberales Freiheitsverständnis durch starke soziale Grundrechte zu untermauern, erscheint zunächst attraktiv. Zugleich wirft die Wiederbelebung einer vitalen linksliberalen Tradition jedoch unweigerlich die Frage nach ihren sozialen wie intellektuellen Grundlagen auf. Lässt sich ein sozialer, nicht repressiver Liberalismus ausgerechnet im Moment der offenkundigen Krise reaktivieren? Oder war bereits die vermeintliche Blütezeit dieses Denkens nur ein kurzweiliges geistesgeschichtliches Intermezzo, welches zudem an konkrete historische Bedingungen, wie etwa die politische Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft, gebunden war? Welche sozialen Millieus sollten diesen Neubeginn politisch tragen, ohne erneut im Elitismus kleiner liberaler Zirkel zu münden? Vieles deutet darauf hin, dass es zunehmend unglaubwürdig wird, an den Prämissen der liberalen Demokratie festzuhalten, da sie als politische Ordnung kaum mehr über integrative Überzeugungskraft zu verfügen scheint.[14] Zudem bleibt offen, ob sich die emanzipatorische Programmatik der liberalen Tradition unter Absehung ihrer destruktiven Nebeneffekte bewahren lässt. Daran, dass die politisch-kulturellen Errungenschaften des historischen Liberalismus untrennbar mit dem Wirtschaftsliberalismus der market society verbunden sind, hat etwa Jean-Claude Michéa erinnert.[15]

Wie der Untertitel des Buches, The Making of our Times, verrät, spuken die Geister des Kalten Krieges derweil hartnäckig weiter. Und auch Patrick Deneen, Moyns konservativer Gegenspieler, ging einer Erscheinung auf den Leim: In Why Liberalism failed kritisierte er nicht „den“ Liberalismus, sondern schlicht das intellektuelle Geisterhaus der Cold War liberals (S. 173). Die liberalen Freunde der offenen Gesellschaft tappen jedoch aus anderer Richtung in eine ganz ähnliche Falle: Sie verharren im Freund-Feind-Denken, meinen überall eine Bedrohung der Demokratie zu erblicken und tradieren damit dessen selbstzersetzenden Tendenzen. Derzeit scheinen also weder Bewahrer, noch Kritiker überzeugende Antworten liefern zu können. Die vielfach beschworene Krise der Demokratie stellt sich in der Post-Brexit-Gesellschaft und einer Welt nach (und womöglich auch vor) Donald Trump somit als schlichter Reflex eines „hilflosen Antipopulismus“[16] heraus, der die Freiheit scheinbar nur im Rückgriff auf einen destruktiven Cold War liberalism zu verteidigen vermag (ebd.). Liberalism against Itself verweist schlussendlich auch auf die gegenwärtige Unfähigkeit liberaler Demokratien, diesen Herausforderungen zu begegnen.

  1. Den Versuch einer Verdeitigung des Cold War Liberalism und seiner Politik der zurückhaltenden Härte unternimmt bspw. Joshua L. Cherniss, Liberalism in Dark Times: The Liberal Ethos in the Twentieth Century, Princeton NJ, 2021.
  2. Patrick J. Deneen, Why liberalism failed, New Haven, 2018.
  3. Michael Schaub, Obama shares his June reading list, but don’t expect any beach reads, in: Los Angeles Times, 18.6.2018, online unter: https://www.latimes.com/books/la-et-jc-obama-reading-20180618-story.html (23.10.2023).
  4. „Anticanons – past books, figures, or movements that are anathematized to define and stabilize traditions – are of supreme relevance to canonical work. The elements of anticanons are preserved as counterexamples to avoid: […]” (S. 19).
  5. Auf Grund der untergeordneten Relevanz von Himmelfarb (Kapitel 4) und Trilling (Kapitel 6) für den deutschen (Theorie-)Kontext verzichte ich an dieser Stelle auf eine ausführlichere Darstellung.
  6. Vgl. Daniel Steinmetz-Jenkins, The Neoconservative Moment in France: Raymond Aron, The United States, and the 1970s, online unter: https://muse.jhu.edu/article/755016 (19.11.2023).
  7. Siehe etwa exemplarisch die dreibändige Ausgabe von Jacob Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Göttingen 2013, oder auch Jabcob Talmon, Politischer Messianismus: Die romantische Phase, Düsseldorf 1963.
  8. Judith N. Shklar, After Utopia: The Decline of Political Faith, Princeton NJ, 2020.
  9. Moyn schließt sich einer kritischen Rezeptionslinie an, die einen koloniale Perspektive Arendts anmahnt. Dazu u. a. King, Richard H., und Dan Stone, eds. Hannah Arendt and the Uses of History: Imperialism, Nation, Race, and Genocide, Oxford NY, 2008 oder auch Rasberry, Vaughn. Race and the Totalitarian Century: Geopolitics in the Black Literary Imagination, Cambridge, MA 2016. Kürzlich löste ein ähnlicher Vorwurf, der bereits 2016 in der Jerusalem Post publiziert wurde, erneut kontroverse Debatten aus https://www.jpost.com/opinion/hannah-arendt-white-supremacist-456007 (25.10.2023).
  10. Eine aufschlussreiche Alternative zu dieser Einordnung Arendts bietet jüngst Thomas Meyer, Hannah Arendt. Die Biografie, München 2023.
  11. Arendts Zionismus beschreibt Moyn als eine Phase zwischen 1933 und 1942/43: „Arendt’s political awakening had let her to embrace Zionism for a decade after 1933. […] The political content of Arendt’s Zionism always remained vague . […] After the Biltmore Conference of 1942, which she attended, she came out against Zionism in the most explosive and provocative terms.” (S. 133 f.)
  12. Raymond Aron, Über die Freiheiten: Essay, Stuttgart, 1984. Siehe ebenso Raymond Aron, Demokratie und Totalitarismus, Hamburg 1970.
  13. Auf diesen Aspekt habe ich gemeinsam mit Dirk Jörke an anderer Stelle bereits hingewiesen, vgl. Julian Nicolai Hofmann / Dirk Jörke, Liberalismus oder Barbarei. Claude Lefort und die französische Totalitarismusdiskussion, Leviathan 40 (2022), 4, S. 529–555.
  14. Überlegungen dieser Art finden sich etwa bei Veith Selk, Demokratiedämmerung. Eine Kritik der Demokratietheorie, Berlin 2023.
  15. Jean-Claude Michéa, Das Reich des kleineren Übels: Über die liberale Gesellschaft, Berlin 2014.
  16. Dirk Jörke / Veith Selk, Der Hilflose Antipopulismus, in: Leviathan 43 (2015), 4, S. 484–500.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Demokratie Geschichte Philosophie Politik Wissenschaft

Julian Nicolai Hofmann

Julian Nicolai Hofmann ist Doktorand am Arbeitsbereich Politische Theorie und Ideengeschichte der Technischen Universität Darmstadt. Er promoviert zum Thema (Sozial-)Staatskritik, Demokratietheorie und Wohlfahrtsstaatlichkeit im Kontext französischer und deutscher Debatten der 1960er- bis 1990er-Jahre. Als DAAD-Stipendiat arbeitet und forscht er an der University of Chicago sowie der Yale University.

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