Julian Müller | Rezension | 18.08.2021
Theorie der Gesellschaft oder Regierungstechnologie?
Rezension zu „Technologisches Regieren. Der Aufstieg des Netzwerk-Denkens in der Moderne. Foucault, Luhmann und die Kybernetik“ von Vincent August

Gegen Ende des unter dem Titel „Nur noch ein Gott kann uns retten“ bekannt gewordenen SPIEGEL-Gesprächs mit Rudolf Augstein und Georg Wolff bemerkte Martin Heidegger lapidar, dass sich die Philosophie auflösen und an ihre Stelle in Zukunft eine andere Wissenschaft treten werde: nämlich die Kybernetik. Das war im Jahr 1966, und nur wenige Monate später legte Heidegger in seinem Athener Vortrag sogar noch nach. Die Unterscheidung von Subjekt und Objekt, die der Philosophie so lange als Fundament diente, werde durch die Begriffe ‚Information‘, ‚Steuerung‘ und ‚Rückkopplung‘ ersetzt, und auch das Verhältnis von Mensch und Welt könne fortan nur noch als kybernetischer Regelkreis gefasst werden.[1]
Nun müsste man Heidegger, dessen Vermutungen vor allem auf die Lektüre von Gotthard Günthers Das Bewußtsein der Maschinen (1957) zurückzuführen sind,[2] wohl rückblickend den Vorwurf einer massiven Überschätzung der Kybernetik machen. Schließlich hat sich zum Zeitpunkt des SPIEGEL-Gesprächs die erste Euphorie um jene in den 1940er-Jahren entstandene neue transdisziplinäre Wissenschaft der Steuerung und Regelung bereits wieder gelegt. Auch die Hoffnung respektive die Sorge, die Kybernetik könne sich tatsächlich als Universalwissenschaft etablieren und womöglich die Philosophie als Leitwissenschaft beerben, schien letztlich unbegründet. Dass man es sich angesichts dieses Befundes dennoch nicht zu einfach machen sollte und es sich lohnt, einen genaueren Blick auf die Geschichte der Kybernetik zu werfen, weil man durch sie etwas über die politische Gegenwart erfährt, stellt die Studie von Vincent August auf beeindruckende Art und Weise unter Beweis.
Ihre Ausgangsfrage lautet ganz einfach: Warum inszeniert und begreift sich die (westliche) Gesellschaft derzeit immer häufiger und fast ausschließlich als Netzwerk? August geht es hierbei nicht um die Metapher des Netzwerks, er wählt also ausdrücklich keinen poetologischen oder metapherntheoretischen Zugang. Im Mittelpunkt steht stattdessen die Selbstinterpretation der Gesellschaft als Netzwerk-Gesellschaft, die insofern eine politische Implikation hat, als damit nicht nur eine bestimmte Ordnungsvorstellung verbunden ist, sondern sich aus ihr zudem auch ein spezifisches Regierungsdenken ableiten lässt. Um das untersuchen zu können, verknüpft August Ideengeschichte und Wissenssoziologie. Wissenssoziologisch ist sein Projekt deshalb zu nennen, weil es in loser Anknüpfung an Pierre Bourdieu nach den quasi habitualisierten, also nicht reflektierbaren und vor allem der politisch-sozialen Gegenwart unverfügbaren Deutungs- und Wahrnehmungsschemata der Gesellschaft (nicht der Akteure) fragt; da diese gesellschaftlichen Deutungsschemata jedoch maßgeblich von politischen wie soziologischen Theorien, Konzepten und Ideologemen zehren, bedarf dieser wissenssoziologische Zugang einer ideengeschichtlichen Ergänzung. Konkret ist es August also darum zu tun, die Genese des Netzwerk-Denkens zu rekonstruieren, um sie sowohl soziopolitisch wie ideengeschichtlich zu kontextualisieren. Die Ursprünge dieses Denkens macht er in der Kybernetik und den kybernetischen Diskussionen der 1940er- und 50er-Jahre aus. Vor allem ist es der „immensen Wirkmacht“ (S. 31) zweier Theoretiker geschuldet, dass dieses Denken bis heute nachwirken konnte und unsere Vorstellung von Gesellschaft, Politik und Regierung in einer Deutlichkeit bestimmt, die kaum zu überschätzen ist. Niklas Luhmann und Michel Foucault sind für August die entscheidenden Wegbereiter eines Regierungsdenkens der Technologie, das unsere Gegenwart prägt und ohne den Bezug zur Kybernetik schlechterdings unverständlich bliebe.
Um zu erklären, wie ein derartiges technologisches Regierungsdenken überhaupt an Fahrt aufnehmen konnte, muss zunächst gezeigt werden, gegen welches Modell von Regierung es in Anschlag gebracht werden sollte. Dieses Gegenmodell ist August zufolge das Regierungsdenken der Souveränität. Es waren vor allem die Diskussionen um eine mögliche Weltregierung nach dem Zweiten Weltkrieg, die zu einer Revitalisierung von Souveränitätsbegründungen beigetragen haben. ‚Souveränität‘ wurde nach 1945 zur Leitvokabel, auf die mit ganz unterschiedlichen politischen Absichten zurückgegriffen wurde. August vergleicht an dieser Stelle ein subversives, ein christlich-liberales und ein bürgerlich-republikanisches Narrativ. So lässt sich etwa in den Schriften Frantz Fanons und bei dessen Betonung der menschlichen Fähigkeit zum Widerstand beobachten, dass im Begriff der Souveränität die Freiheit des Einzelnen und die Freiheit des Volkes konvergieren. In christlicher Tradition dagegen dürfe nur Gott als souverän vorgestellt werden. Ein katholischer Autor wie Bertrand de Jouvenel stellt daher heraus, dass sich weltlich-politische Souveränität nur dann realisieren könne, wenn sie ihrer Bindung an göttliche Souveränität gewahr bleibe. Die bürgerlich-republikanische Tradition dagegen leitet Souveränität nicht von Gott ab, sondern stellt stattdessen die Verwiesenheit des Menschen auf Gemeinschaft in den Vordergrund. An die Stelle göttlicher Vernunft tritt, so etwa bei Wilhelm Hennis, Verständigung. Es ist der Staat, der auf diese Verständigung angewiesen ist und sie sogleich organisieren muss, weswegen Souveränität nur im Zusammenleben mit anderen gesichert werden könne.
So unterschiedlich diese Begründungen im Einzelnen auch ausfallen, so sehr eint sie doch ihr inhärenter Hegelianismus. ‚Souveränität‘ wird zum Schlagwort, mithilfe dessen die Einheit von individueller Selbstverwirklichung und Orientierung am Überindividuellen, sei es das Volk, das Gemeinwohl oder die göttliche Vernunft, zusammengehalten und mit der Hoffnung auf Fortschritt versöhnt werden sollte. Als Bindeglied zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Bürger und Staat, sollte neben der Bildung und Erziehung vor allem die Steuerung und Planung dienen. „Steuerung und Planung sollten Individuum und Gesellschaft mit einer weitblickenden Vision der gemeinschaftlichen Entwicklung zusammenführen.“ (S. 99) Niederschlag gefunden hat all das in einer bestimmten Form des Regierens, die durch ein teleologisches Denken und einen unübersehbaren Planungs- und Steuerungsoptimismus gekennzeichnet war. Man denke in Großbritannien an die Veröffentlichung des Beveridge Reports (1942), in Frankreich an die Fünfjahrespläne des Commissariat Général du Plan ab 1946 oder in Deutschland an die Rückkehr der Raumordnungspolitik in den 1950er-Jahren.
In diese Zeit der Steuerungs- und Planungseuphorie fällt auch die Entstehung der Kybernetik, die schließlich eine Wissenschaft der Steuerung zu sein beanspruchte. An den so genannten Macy-Konferenzen, die zwischen 1946 und 1953 stattfanden und als Gründungsereignisse der Kybernetik gelten, nahmen disziplinär so unterschiedliche verortete Wissenschaftler:innen wie Norbert Wiener, Claude E. Shannon, John von Neumann, Ross Ashby, Kurt Lewin, Margaret Mead, Gregory Bateson oder Roman Jakobson teil. Sie alle dachten über die Möglichkeit einer neuen Universalwissenschaft mit einer eigenen Terminologie nach, in der die Mathematik ebenso wie die Psychologie, die Ingenieurs- oder die Sprachwissenschaften aufgehen sollten. Im Vordergrund stand vor allem das Interesse für Formen der Informationsverarbeitung, der Selbstorganisation und der Rückkopplung. Es ist die große Stärke der Arbeit von August, nachweisen zu können, dass sich die Entstehung der Kybernetik also einerseits dem Regierungsmodell der Souveränität verdankt, dass sie jedoch andererseits bereits in ihren Anfängen Zweifel an dessen Planungs- und Steuerungseuphorie formuliert hat. So gesehen markiert die Entstehung der Kybernetik den Kipppunkt zwischen dem Regierungsdenken der Souveränität und einem neuen, eben technologischen Regierungsdenken.
Um diese Beobachtung nachvollziehen zu können, müssen einige Merkmale der Kybernetik in Erinnerung gerufen werden. Zunächst fällt auf, dass sie von Beginn an die disziplinären Grenzen etwa von Natur-, Technik- und Geisteswissenschaften, die für die Moderne kennzeichnend waren, aufzuheben versucht hat. Darüber hinaus verabschiedete sie ontologische zugunsten ontogenetischer Fragestellungen; statt also zu fragen, was etwas ist, ging man dazu über zu fragen, wie etwas funktioniert. Damit geht nicht nur die Umstellung von Autorität auf Funktionalität einher, sondern auch eine dezidierte Deprivilegierung des Menschen. An die Stelle der stabilen Unterscheidung von Subjekt und Objekt tritt in der Kybernetik der Begriff der Rückkopplung, der einerseits auf Prozesshaftigkeit, andererseits auf Konnektivität verweist.
Dass sich daraus massive Konsequenzen für das Denken ergeben, hat Heidegger womöglich doch sehr genau erahnt. Denn von der Umstellung der Was-etwas-ist?- auf die Wie-etwas-funktioniert?-Frage gibt es keinen Weg zurück zur klassischen Philosophie, nicht zur Aristotelischen Logik, nicht zu den Kategorien Kants. Freilich hat die Kybernetik keineswegs nur in Philosophie und Wissenschaft Spuren hinterlassen, sondern vor allem auch in Konzeptionen politischen Regierens und einer aus ihnen hervorgegangenen Regierungspraxis. Denn dass die Politik in der Lage sei, die gesamte Gesellschaft rational und effizient zu steuern, gerade ein solcher Anspruch wurde aus den Reihen der Kybernetik doch bestritten: „Auf diese Weise kritisierte die Kybernetik die klassische Moderne für ihre zu simplizistische, zu reduktionistische Sicht auf die Welt, und sie unterlief damit das kausale Steuerungsdenken, die Identitätsvorstellungen und die kalkulatorischen Machbarkeitsideen, die das Selbstverständnis der Nachkriegszeit prägten. Die überbordende ‚Komplexität‘, die insbesondere für die liberal-ökonomische Tradition stets Anlass zur Sorge war, wendete die Kybernetik ins Positive: Die Produktion von Differenzen erweitere den Raum möglicher Möglichkeiten ebenso wie den Raum erreichbarer Möglichkeiten.“ (S. 164)
So gesehen muss die Kybernetik rückblickend sowohl als Effekt von Steuerungsphantasien im Regierungsdenken der Souveränität begriffen werden wie auch als deren unmittelbare Negation. Dies wird vor allem deutlich, sieht man sich den weiteren Verlauf der Geschichte der Kybernetik an, zumal den Aufstieg der so genannten second-order cybernetics, die sich zunehmend von der Idee der Steuerbarkeit distanzierte, um dezidiert auf den Aspekt der Unberechenbarkeit und Unbestimmtheit abzustellen und dadurch gegenkulturelle Bewegungen – man denke etwa an den Whole Earth Catalog – ebenso zu faszinieren wusste wie einzelne Köpfe in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Hier waren es vor allem Niklas Luhmann und Michel Foucault, die Grundannahmen der Kybernetik übernommen und in ihren Werken weiterverarbeitet haben. Luhmann hat diese Bezüge zumeist explizit gemacht, während sie in den Arbeiten Foucaults eher implizit bleiben. Dabei empfiehlt er bereits in einem frühen Text noch aus dem Jahr 1957 der Psychologie den Import kybernetischen Vokabulars.[3] Und auch in späteren Schriften tauchen immer wieder Schlüsselbegriffe aus der Kybernetik und Nachrichtentheorie auf, wie etwa ‚Code‘, ‚Rauschen‘, ‚Signal‘ oder ‚Relais‘. Nicht zuletzt aber fragt der Diskursanalytiker Foucault nicht nach dem Wesen, sondern nach der Funktionsweise des Diskurses sowie der Machtanalytiker Foucault nicht nach dem Wesen der Macht fragt, sondern nach ihrer Funktionsweise. Statt also nach stabilen Bedeutungen zu suchen, interessiert er sich für die historisch kontingente Hervorbringung und Anordnung von Bedeutung im Diskurs; statt zu begründen, was Macht ist, fragt er eher nach den Relationierungen, innerhalb derer sich Macht formiert. Macht muss vorgestellt werden als etwas, das zirkuliert, und zwar in einem Netz, das insofern produktiv zu nennen ist, als es etwas hervorbringt. Der Mensch ist so gesehen nichts anderes als ein Effekt von Macht, also eine „Schaltstelle“ (frz. relais) in einem Netz. Foucault bricht mit der Vorstellung stabiler Identitäten und Bedeutungen, insofern er solche Entitäten stets als variable Elemente innerhalb eines Netzwerks begreift.
Für Luhmann lässt sich tatsächlich ganz Ähnliches behaupten, weswegen an dieser Stelle von einer detaillierteren Darstellung abgesehen wird. August gelingt es in jedem Fall eindrucksvoll, in den Arbeiten Luhmanns und Foucaults das Nachleben bestimmter Annahmen sowie Provokationen der Kybernetik herauszuarbeiten. Nun wären solche philologischen Recherchen nicht weiter diskussionswürdig, handelte es sich bloß um Anmerkungen zur Theorie- und Werkgeschichte. August liest diese beiden Werke jedoch als „ideenpolitische Interventionen“ (S. 378), deren Wirkmacht weit über den Seminarraum hinaus reicht. Luhmann und Foucault waren nicht nur daran beteiligt, der Gesellschaft ein Bild ihrer selbst als Netzwerk-Gesellschaft zu präsentieren, sie waren darüber hinaus, wenn auch unintendiert, Agenten eines neuen Regierungsdenkens. Schließlich wenden sich beide gegen eine alteuropäisch-mechanistische Tradition des Denkens und gegen jedwede Form von Teleologie und Fortschrittsoptimismus. Gegen die Vorstellung, die Gesellschaft lasse sich zentral steuern, weisen beide auf das Nebeneinander verschiedener Perspektiven und Diskurse hin, die miteinander im Widerstreit stehen und nicht aufeinander abgebildet werden können. Die Politik nimmt bei ihnen daher auch keine Sonderstellung mehr ein, sondern wird nur als eine mögliche Perspektive in der Gesellschaft verstanden. Damit ist das Modell der Souveränität endgültig verabschiedet und durch ein Regierungsdenken ersetzt worden, das August einerseits durch die Ablehnung von Repräsentation und Kontinuität andererseits durch die normative Präferenz für Diversität, Differenz und Situativität gekennzeichnet sieht: „Innovationsfähigkeit, Offenheit und Kreativität werden so zu neuen Leitideen im technologischen Regierungsdenken, die durch permanente Selbstkritik und ständige Neuerfindung umgesetzt werden können.“ (S. 23)
August ist eine äußerst kluge wie ernsthafte Rekonstruktion der Kybernetik und eine Neulektüre der Arbeiten Michel Foucaults und Niklas Luhmanns gelungen. Dass die Darstellung einiges überdramatisiert und manches ausblendet, soll an dieser Stelle gar nicht kritisiert werden. Denn die Arbeit vermag gerade ob ihrer Selektivität und Pointierheit viel zu zeigen. Ob aber Foucault und Luhmann so tatsächlich noch nicht gelesen wurden, wie Hartmut Rosa es in seinem Vorwort, allerdings auch der Autor selbst behaupten, daran sei indes Zweifel angemeldet. Schon vor einigen Jahren hat etwa Bernhard Dotzler Spuren der Kybernetik im Werk Foucaults herausgearbeitet,[4] und auch ich selbst habe an anderer Stelle den Einfluss der Kybernetik auf Luhmann und Foucault beschrieben und insbesondere die Foucault’sche Ordnung des Diskurses als kybernetische Ordnung des Diskurses rekonstruiert.[5] Auch an die Arbeiten Friedrich Kittlers wäre zu erinnern, der schließlich schon sehr früh den Kurzschluss von Nachrichtentheorie, Kybernetik und Diskursanalyse gewagt und zur Grundlage seiner eigenen Medientheorie gemacht hat. Dass sein Name in der Arbeit gar nicht auftaucht, verwundert ein wenig, wobei keineswegs ein fehlendes Zitat oder eine fehlende Referenz zu beanstanden ist, was angesichts einer derart umsichtigen Arbeit nachgerade lächerlich wäre. Vielmehr zeigt dieses Fehlen eines Autornamens eine systematische Leerstelle an. August ist ausdrücklich daran gelegen, den „ideenpolitischen Charakter des Netzwerk-Denkens“ (S. 378) herauszupräparieren. Er will der Gefahr einer allzu plausiblen Herleitung des Netzwerk-Denkens aus den technischen Bedingungen des Computers und des Internet widerstehen. Dieser Impuls ist nicht nur nachvollziehbar, sondern auch begrüßenswert. Nur fragt sich, ob sich die Ideen und ihre politischen Resonanzen wirklich ohne jeglichen Bezug zu den Medien und Techniken fassen lassen. Müsste die Implosion des Souveränitätsmodells nicht doch in Beziehung gesetzt werden zu historischen Medienumbrüchen wie dem Ende des Schrift- und Buchmonopols, das – wie gerade doch Kittler gezeigt hat[6] – auch unser Vertrauen in Linearität, Teleologie und Autorität erschüttert hat? Müsste also, so eine kritische Anfrage an die Arbeit, nicht viel entschlossener die Techno-logie des technologischen Regierungsdenkens in den Blick genommen werden – und zwar nicht nur als Kontext und Randbedingung?
Eine zweite kritische Rückfrage wäre dagegen ideengeschichtlicher Art. August behandelt Foucault in erster Linie als zu untersuchendes Material und als Symptom einer bestimmten Art des Denkens. Womöglich nimmt er dabei allerdings die historischen Analysen Foucaults selbst zu wenig ernst. Schließlich war es doch Foucault, der in den Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität darauf hingewiesen hat, dass die Idee einer vom Staat losgelösten Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, die nach eigenen Regeln operiert, sich also selbst organisiert, ihrerseits eine Geschichte hat, die in Zusammenhang mit der politischen Ökonomie des Liberalismus gebracht werden muss. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: Zum einen hat Foucault vieles von dem, was August in dieser Arbeit an Foucault rekonstruiert, bereits selbst auf seine historischen Bedingungen befragt; zum anderen folgt daraus, dass jener Gesellschaftsbegriff, mit dem die Soziologie arbeitet, bereits seit der Begründung des Faches dem in der Arbeit skizzierten Netzwerk-Modell systematisch nähersteht als dem Souveränitäts-Modell, insofern Gesellschaft als eine Realität eigener Art, nach eigenen Gesetzen operierend, quasi autopoietisch und spontan sich bildend vorgestellt wird. Lange vor der Entstehung der Kybernetik hat die Soziologie gewissermaßen bereits protokybernetisch argumentiert. Um dieses verdeckte epistemische Apriori des Faches beschreiben zu können, wäre allerdings eine stärkere Trennung zwischen Politikwissenschaft und Soziologie beziehungsweise eine Thematisierung der Grenze der beiden Fächer vonnöten gewesen.[7]
All das sind in erster Linie aber interessierte Rückfragen an eine Arbeit, deren Verdienst es ist, eben solche Rückfragen anzuregen. Wie jedes gute Buch verändert auch dieses den Blick auf die Gegenwart. Wenn etwa Armin Nassehi kürzlich Robert Habeck in einem von der Heinrich Böll-Stiftung organisierten Gespräch rät, die vorrangige Aufgabe von Politik heute darin zu sehen, „die schlauesten Spieler aus unterschiedlichen Bereichen zusammenzubringen“,[8] dann ist das ein durchaus nachvollziehbarer Ratschlag eines Soziologen an einen Politiker. Eine wie spezifische und historisch gewachsene Vorstellung von Politik und Regierung diese Empfehlung zur Voraussetzung hat, führt uns die Lektüre dieses Buches von Vincent August überzeugend vor Augen.
Fußnoten
- Vgl. Martin Heidegger, Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens, in: Petra Jaeger / Rudolf Lüthe (Hg.), Distanz und Nähe. Reflexionen und Analysen zur Kunst der Gegenwart. Würzburg 1983, S. 11–23.
- Vgl. Erich Hörl, Die offene Maschine. Heidegger, Günther und Simondon über die technologische Bedingung, in: MLN German Issue 123 (2008), 3, S. 632–655, hier S. 643.
- Michel Foucault, Die Psychologie von 1850 bis 1950, in: ders, Dits et Ecrits. Schriften. Erster Band, Frankfurt am Main 2001, S. 175–195.
- Bernhard Dotzler, Foucault, der Diskurs, die Medien, in: Alexander Roesler / Bernd Stiegler (Hg.), Philosophie in der Medientheorie. Von Adorno bis Žižek, München 2008, S. 101–116.
- Julian Müller, Kybernetische Ordnungen des Sinns, in: ders., Bestimmbare Unbestimmtheiten. Skizze einer indeterministischen Soziologie, München 2015, S. 17–37.
- Friedrich Kittler, Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986.
- Diesen Hinweis verdanke ich Sven Opitz.
- Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=I2-Pv0V4Elw, bei 36:10 Min (13.08.2021)
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Martin Bauer.
Kategorien: Gesellschaft Gruppen / Organisationen / Netzwerke Systemtheorie / Soziale Systeme
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