Hans-Peter Müller | Literaturessay |

Theoriegeschichten: Jürgen Habermas als Intellektueller

Literaturessay zu „Der Philosoph. Habermas und Wir“ von Philipp Felsch

Philipp Felsch:
Der Philosoph. Habermas und wir
Deutschland
Berlin 2024: Propyläen
256 S., 24,00 EUR
ISBN 9783549100707

Philipp Felsch gilt als Meister im Theoriegeschichtenerzählen. In diesem Metier hat er es zum Bestsellerautor gebracht – eine grandiose Leistung in theorieferner Zeit. „Der lange Sommer der Theorie“[1] hatte uns in die 1968er-Jahre zurückgeführt und aus dem heroischen Bauch des Merve-Verlags den ambitionierten Anspruch vorgestellt, mit Theoriedebatten Revolution zu machen. „Wie Nietzsche aus der Kälte kam“[2] schilderte die spannende Editionsgeschichte der Gesamtausgabe der Nietzsche-Werke von Giorgio Colli und Mazzino Montinari und den Kampf zweier bis dato unbekannter Italiener gegen die deutschen und französischen Hegemonialinterpreten dieses umstrittenen Denkers. Jetzt also „Habermas und Wir“. In den jüngeren Generationen kennt man den Philosophen bestenfalls noch dem Namen nach, was es aber mit einer solchen kurios-komplexen Theoriefigur wie der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ auf sich hat, das dürfte den Wenigsten bekannt sein. Nun also der Versuch eines weiteren Theorieheldenepos. Wird es Felsch gelingen, Habermas vor dem Hintergrund von akademischer Theorieferne und politischer Zeitenwende wieder ins Zentrum des intellektuellen Geschehens zurück zu holen?

Der Einstieg in das Mammutprojekt erfolgt anekdotisch. Felsch schildert seinen Besuch bei Jürgen Habermas in Starnberg. Er versucht den hochbetagten, aber putzmunteren Altmeister mit biografischen Gemeinsamkeiten aus der Reserve zu locken und erinnert an Gummersbacher Zeiten, in die auch Felschs Familie verwoben ist. Fehlanzeige, denn obgleich Habermas zeit seines Lebens etwa mit Heiner Brand befreundet war, dem legendären Trainer des berühmten Handballclubs VFL Gummersbach und späteren Bundestrainer der Nationalmannschaft, lehnt er den Bezug auf seinen Herkunftsort brüsk ab.

Nun ist es stets schwierig, eine kritische Bilanz über Werk und Person zu ziehen, solange der spiritus rector eines so gewaltigen Werkes selbst noch lebt. Meist möchten Autoren bei Büchern über die eigene Arbeit mit Auskunftsfreude gern unterstützen, was nur allzu verständlich ist.[3] Sonst hätte der Autor wohl einen Foucault-Adepten nicht zwei Mal bei sich zu Hause empfangen und liebenswürdig bewirtet. Insofern ist es spannend zu beobachten, wie „der Philosoph“, so der nicht gerade unbescheidene, aber verkaufsträchtige Titel, und der junge Kulturwissenschaftler sich an ihr Rezeptionsprojekt herantasten. Wie also gelingt es Felsch, Habermas so zu porträtieren, dass das Resultat wieder eine bestsellerfähige Theoriegeschichte ergibt?

Das philosophische Projekt

Auch wenn Felsch keine intellektuelle Biografie[4] schreiben will, setzt sein Narrativ bei Habermas‘ Karrierebeginn an. Als Mitglied der Generation von Flakhelfern (Heinz Bude), Skeptikern (Helmut Schelsky), 1929ern oder 1945ern gehört er ins Zentrum des geistigen Wiederaufbaus der Bundesrepublik. Die „Gnade der späten Geburt“ (Günter Gaus) eröffnet ihm nach seinem Studium in Göttingen und seiner Dissertation über die „Welt“- Fragmente von Schelling[5] als Assistent von Theodor W. Adorno 1956 den Anschluss an die Tradition der kritischen Theorie. Bei aller Bewunderung für Adorno sieht er als Vertreter der 1945er, wie Felsch Habermas‘ Generation schließlich nennt, die „Abschaffung von Tiefsinn“ (S. 34) als vordringliche Aufgabe an. Deutschtümelndes, raunendes Denken à la Heidegger ist kein Modell des Philosophierens mehr. Mit dem Freiburger Philosophen bricht er bereits 1953, als Heidegger sich nicht vom NS distanziert, in den er tief verstrickt war. Stattdessen muss eine zeitgemäße Philosophie den Anschluss an die Einzelwissenschaften finden, was in Habermas‘ Fall den Schulterschluss mit der Soziologie begründen sollte. Das bedeutet eine ungeheuer fleißige „Materialverarbeitungsfreude“ (S. 37), die der Forscher und angehende Intellektuelle unter dem Dach der Theorie zu vereinigen hofft. Kein Wunder also, dass Felsch, dem Habermas Einblick in seinen Vorlass gewährt hat, bereits eingangs über den entmutigend unzugänglichen Charakter der Hauptwerke (S. 17) stöhnt. Überhaupt scheint er den Zugang zum Oeuvre eher sekundär gesucht und dann zum einen über Stefan Müller-Doohms Standardwerk zur Biografie und zum anderen über das Habermas-Handbuch[6] gefunden zu haben. Das kann man so machen, riskiert aber, die entscheidenden Weichenstellungen in der Werkentwicklung[7] zu übersehen. Tatsächlich wird man in der Folge über dieses Werk selbst auch recht wenig erfahren. Vielmehr geht es Felsch um den Intellektuellen Habermas, seine Einbettung in die Suhrkamp-Kultur und seine politischen Interventionen. Das grandiose philosophische Projekt, die kritische Theorie mit einer Gesellschaftstheorie à jour zu versorgen, verbleibt indes im Winterschlaf, wird bestenfalls mit dem Anzitieren von zentralen Termini („herrschaftsfreier Diskurs“, „ideale Sprechsituation“) aufgerufen. Aber das passt in die heutige Zeit, die sich große Theorie scheinbar nur noch über biografische Narrative oberflächlich, weil leicht verständlich, anzuverwandeln vermag. Auf jeden Fall sichert sich Felsch mit dieser locker-flockigen Erzählung prima facie Platz 1 im medial-kommerziellen Unternehmen populärer Klassikerverwertung.

Raus aus der Provinz

Schon in der Antrittsvorlesung als Privatdozent in Marburg 1961, besonders aber dann in seiner Frankfurter Antrittsvorlesung von 1965 als Nachfolger von Max Horkheimer wirbt Habermas unter dem Rubrum von „Erkenntnis und Interesse“ für ein neues Verständnis von „theoria“. Weder die antike Vorstellung, dass sich Erkenntnis über die kontemplative Anschauung des Kosmos noch die moderne Vorstellung der „Epoché“ eines Husserl oder dem heroischen Denkstil eines Heidegger, aber auch nicht allein aus dem Pathos der Betroffenheit eines Adorno heraus lässt sich Theoriebildung heute betreiben. Dieses Verständnis kann er bereits in die neue Theoriereihe bei Suhrkamp von Siegfried Unseld in Zusammenarbeit mit Dieter Henrich und Jacob Taubes einbringen. Freilich gestaltet sich die Kooperation des illustren Trios alles andere als einfach, so dass sich Habermas bereits nach kurzer Zeit zurückziehen möchte. Unseld und sein Lektor Karl-Markus Michel machen ihm jedoch klar, dass diese Reihe primär im Blick auf ihn, die junge Theoriehoffnung der kritischen Theorie, eingerichtet wurde und er deshalb den Theoriegroßtanker nicht verlassen darf, bevor er aus dem Hafen ausgelaufen und auf hoher See glücklich angekommen ist. Jedenfalls prägt Habermas dieser Reihe seine Vorstellung von moderner Philosophie erfolgreich auf, was die Zeitgenossen verblüfft in deren neuer, dunkler Theoriesprache (S. 42) registrieren. Selbst ein Max Frisch drückt Habermas seinen Respekt aus, auch wenn er die Soziologie und ihre Unverständlichkeit wohl nicht mehr lernen wird. So erwirbt sich Habermas schon früh erfolgreich den Nimbus, die deutschen Geisteswissenschaften aus ihrer Provinzialität befreit zu haben.

Ein beliebter Weg, den ja auch schon René König seinen Schülern vorgeschrieben hatte, der Provinzialität der Bundesrepublik zu entgehen, war der Gang nach Amerika. Habermas reist erstmals 1965 in die USA auf Einladung von Rolf Meyersohn und ist begeistert von seinen Treffen mit Bruno Bettelheim und Leo Löwenthal. Bereits 1967 erfolgt die zweite Reise und dieses Mal mit der ganzen Familie. An der New School lernt er Daniel Bell und Hannah Arendt kennen, die ihn 1975 vergeblich als ihren Nachfolger in New York umwirbt. Nach dem Tod von Foucault 1984 wird die UC Berkeley einen weiteren vergeblichen Versuch unternehmen, ihn für die dortigen Theorievorlesungen zu gewinnen. An seiner Stelle wird das Wolfgang Schluchter übernehmen.

Grenzenlose Auseinandersetzungsbereitschaft

Habermas bleibt in Deutschland, obgleich er das „Spießrutenlaufen in Frankfurt“ (S. 50–57) im Gefolge von 1968 enervierend findet. Tatsächlich hatte die revolutionäre Studentenschaft gehofft, nach dem Ausfall von Horkheimer und Adorno, die als linksbürgerliches Honoratiorentum für die Revolution nicht in Frage kamen, den aufgeschlosseneren Habermas für ihre Sache zu gewinnen. Dieter Henrich meinte, dass Habermas, wenn er nur gewollt hätte, „der charismatische Anführer der Studentenbewegung“ (S. 50) hätte werden können. Er wollte aber nicht, denn er war für Reform, nicht für Revolution. Nach der Beerdigung von Benno Ohnesorg 1967 kommt es in einer Diskussion mit Rudi Dutschke zum Eklat und Habermas wirft der Studentenbewegung „linken Faschismus“ vor. Von da an galt er für die radikale Linke als „Scheißliberaler“ (S. 51). Vergeblich versucht Habermas in seinen Thesen zur „Scheinrevolution und ihre Kinder“[8] klarzumachen, dass es in Deutschland keine revolutionäre Lage gebe, auch wenn die Demokratisierungsbestrebungen der Studentenschaft mit neuen Protestformen wie „Sit-ins“ gegen die alte Ordinarienuniversität zu begrüßen seien. Freilich galt das nicht ungeteilt für Habermas‘ eigene Seminare, die er lieber im alten klassischen Stil hielt. Felsch attestiert ihm an dieser Stelle einen „Mangel an Largesse“ und eine „grenzenlose Auseinandersetzungsbereitschaft“ (S. 54), die Odo Marquard auf die hübsche Formel vom „Verfeindungszwang“ gebracht hat. Als die Revolution auch auf den Suhrkamp-Verlag überzuschwappen droht und die Lektoren Unseld enteignen wollen, springt Habermas seinem Verleger als argumentationssicherer Anwalt bei. Er überzeugt die Revolutionäre von dem Unsinn ihres Vorhabens, den einzigen Verlag zerstören zu wollen, der erfolgreich gegen die miefige Bundesrepublik aufbegehrt. Die Revolution wird daraufhin abgeblasen und das Band zwischen dem Verleger und seinem berühmtesten Autor noch enger geknüpft.

Die Starnberger Zeit

Im Jahre 1971 schließlich kann Habermas dem Frankfurter Milieu den Rücken kehren und zieht sich in die bayerische Provinz nach Starnberg zurück. Zusammen mit Carl Friedrich von Weizsäcker leitet er das dortige Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt. Bis an die Schwelle der 1970er-Jahre sucht Habermas, so Felsch, einen Ausweg aus der Subjektphilosophie und arbeitet sich von der Idee des „Vernehmens“ bei Schelling und Heidegger zur Idee der „Verständigung“ vor. Die philosophischen Grundlagen eröffnen eine Kritik an Marx und die Rückkehr zum frühen Hegel und die Perspektive der Interaktion wie der Anerkennung von Rechtssubjekten. Freilich wurden diese Grundintentionen ergänzt durch Psychoanalyse, Pragmatismus und philosophische Anthropologie, so dass das genaue Forschungsprogramm bestenfalls in Umrissen klarzuwerden schien. Allerdings bleibt die Starnberger Ära, die wohl als soziologisch wichtigste Zeit des Wirkens von Habermas gelten darf, bei Felsch komplett ausgeblendet. Sicher, die Aufarbeitung dieser Zeit hätte eine Menge von Theorierezeption und Lektürediskussion für Felsch bedeutet. Angefangen mit der Studie „Technik und Wissenschaft als Ideologie“ (1968), mit der Habermas die Technokratiedebatte kritisiert und das Verhältnis von Arbeit und Interaktion schlüssig interpretiert; ferner mit der theoretischen Skizze „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ (1973), die sein komplexes Krisenverschiebungstheorem enthält, das heute in der soziologischen Krisentheorie[9] eine Renaissance erfährt; schließlich seine „Rekonstruktion des Historischen Materialismus“ (1976). In dieser Studie legt er nicht nur eine fundamentale Kritik des Histomat vor, sondern deutet mit dem Rekurs auf Jean Piaget und Lawrence Kohlberg an, wie durch eine Parallele zwischen kollektiver und individueller Evolution kollektive und individuelle Lernprozesse als Fortschrittsgeneratoren modelliert werden könnten. Die Starnberger Zeit ist werkhistorisch aus meiner Sicht Habermas‘ wichtigste Epoche, ohne die sein opus magnum, „Die Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981), überhaupt nicht verstanden werden kann.

Statt inhaltlicher Diskussion schiebt Felsch unvermutet ein merkwürdig anmutendes küchenpsychologisches Kapitel ein, „Der Makel des Mündlichen“ (S. 77–83), in dem er darüber räsoniert, ob Habermas‘ Theorie vielleicht „als Rationalisierung seiner Sprachbehinderung“ (S. 80) zu verstehen sei. Nur um dann im nächsten Schritt, „Unheimliches Deutschland“ (S. 84–89), auf Deutschland im Herbst 1977 einzugehen. Das sind recht freihändige Anschlüsse, die der irritierten Leserschaft die Suche nach einem roten Faden überlassen. Immerhin schaltet Felsch um auf die bleierne Zeit des RAF-Terrorismus, in der ein Heinrich Böll „Briefe zur Verteidigung der Republik“[10] veröffentlichen musste und Habermas sich gezwungen sah, eine kategorische Grenzlinie zwischen Stammheim und Starnberg zu ziehen.

Theoriebildung in systematischer Absicht

Lang erwartet erscheint Habermas‘ opus magnum, „Die Theorie des kommunikativen Handelns“, im Jahre 1981. Felsch nähert sich diesem Monstrum von 1167 Seiten über das Leseexemplar der Berliner Staatsbibliothek und verfolgt interessiert die Anstreichungen seiner Lesevorgänger. Eine wirklich aparte Form der Spurensuche, um der „Verteidigung der kommunikativen Vernunft“ (S. 92) möglichst rasch auf die Schliche zu kommen. Die öffentlichen Reaktionen auf das Werk dokumentierten das ganze Unverständnis für Habermas Projekt. Er hatte, vorbereitet durch die Publikationen der Starnberger Zeit, einen folgenreichen Umbau seiner Architektonik der kritischen Theorie vorgenommen. An die Stelle von Marx trat Max Weber mit seiner Theorie der Ausdifferenzierung von Wertsphären und Lebensordnungen und seiner Zeitdiagnose vom Freiheitsverlust durch die Bürokratisierung der Welt sowie vom Sinnverlust durch deren „Mammonisierung“ (Simmel). An die Stelle von Freud traten nun Piaget und Kohlberg und die Psychoanalyse wurde durch eine kognitive Moral- und Evolutionstheorie ersetzt. Dieser revolutionäre Umbau, von Marx und Freud zu Weber und Piaget, wurde gestaltungstechnisch eingekleidet in ein Parsonianisches Theorieentfaltungsprogramm. Talcott Parsons hatte in seinem Meisterwerk „The Theory of Social Action“[11] mit einem Durchgang durch die Klassiker der Disziplin zu seiner eigenen „Theorie des voluntaristischen Handelns“ gefunden. Habermas trat in die Fußstapfen von Parsons und das sollte in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ münden. Mit dieser neuen mikrosoziologischen Basis und dem neuartigen makrosoziologischen Modell konnte er die Entkopplung der Lebenswelt von den autonomen Systemen nachzeichnen, wie sie dann am Ende in Niklas Luhmanns Theorie autopoietischer Systeme aufscheinen sollten. Die Interaktionsmedien von Geld und Macht und mithin das ökonomische und politische System werden derart dominant, so die Zeitdiagnose, dass sie tatsächlich eine „Kolonialisierung der Lebenswelt“ bewirken, die, wie Weber schon sah, schlussendlich zum Freiheits- und Sinnverlust in der modernen Gesellschaft führen muss. Diese theoriebautechnische Zäsur, mit der Habermas der kritischen Theorie ein komplett neues Gewand gegeben hat, hätte man gern auch in Felschs Buch gelesen. Aus den verwirrten, weil verärgerten Reaktionen der Medien lässt sich ein Verständnis von Habermas grandiosem Streich einer kritischen Gesellschaftstheorie jedoch nicht gewinnen.

„Musste das sein?“ (S. 96–106) zitiert Felsch Karl Markus Michels Schlusssatz seiner vernichtenden Spiegel-Kritik[12] und demonstriert das ganze Unverständnis für Habermas großartigen Wurf. Die beiden schwergewichtigen Bände erregen öffentliche Aufmerksamkeit, aber zum ersten Mal scheint es fast, so Felsch, als sei Habermas nicht mehr im „Einklang mit den Zeitläuften“ (S. 102) „Die Schwelle der 1980er Jahre stellt auch in seiner Biografie eine Wasserscheide dar.“ (S. 108) Das Zeitalter der großen Theorie und einer „Theoriebildung in systematischer Absicht“, wie das Wolfgang Schluchter[13] nennen sollte, kam definitiv an sein Ende.[14]

Freunde und Feinde

1981 bedeutet auch das Ende der Starnberger Zeit, denn Habermas kehrte klammheimlich an die Universität Frankfurt zurück. Sein Mitarbeiterteam hatte bis zuletzt nichts vom abrupten Weggang ihres Direktors geahnt. In der Folgezeit mussten sie sich nach anderweitigen Möglichkeiten der Habilitation umsehen, die dann in Düsseldorf und Heidelberg, den verbliebenen Plätzen der Großtheorie unter Leitung von Richard Münch und Wolfgang Schluchter,[15] erfolgten. Mit Hilfe des Leibniz-Preises und seinem neuen Assistenten Axel Honneth konnte Habermas in der Folgezeit in Frankfurt sich zum einen mit der Rekonstruktion des normativen Kerns des demokratischen Rechtsstaates[16] auseinandersetzen. Zum anderen kehrte er an den Ausgangspunkt seines universalistischen Unternehmens zurück, den „philosophischen Diskurs der Moderne“.[17] In theoriepolitischer Hinsicht setzte in den 1980ern auch sein Kampf gegen die Postmoderne ein. Zu den alten Feinden wie Carl Schmitt und Gottfried Benn, der neukonservativen Ritter-Schule und dem altkonservativen Robert Spaemann gesellten sich nun auch noch ausländische Gegenaufklärer wie die „Jungkonservativen“ Bataille, Foucault und Derrida hinzu. Als Paul Veyne Habermas 1981 an das „Collège de France“ einlädt, bleibt Foucault dem Vortrag von Habermas zwar ostentativ fern, sieht sich dann aus Höflichkeit aber zu einer Abendessenseinladung bei sich zu Hause gezwungen, die, so Didier Eribon, in „eisiger Höflichkeit“ (S. 116) verlief. Zwischen dem universellen Intellektuellen Habermas und dem spezifischen Intellektuellen Foucault sollte es keine Verständigung geben. „Distanz und Thymos“ (S. 119–122) nennt Felsch die Rollendifferenzierung zwischen dem seriösen Philosophen und dem zornigen öffentlichen Intellektuellen. Der latente Widerspruch, dass der Verfechter der rationalen Argumentation mit Polemik und harschen Urteilen nicht sparte, aber auch, dass der Theoretiker des herrschaftsfreien Konsensus die Welt in Freunde und Feinde sorgfältig aufteilte, schien Habermas nicht weiter gestört zu haben. „Kritik im Handgemenge“ (Marx) war wohl trotz aller Vernunftaspiration vonnöten, wenn es gegen etwaige Gegner der Demokratie ging.

Das berühmteste „J’accuse“ (S. 123–134), so Felsch, sollte dem Intellektuellen Habermas im „Historikerstreit“ 1986 gelingen. In Auseinandersetzung mit Ernst Nolte wird Habermas gegen die Schlussstrichmentalität und die ursächliche Verknüpfung von „Auschwitz und Gulag“ (S. 124) angehen und Politik wie Öffentlichkeit auf seine Seite ziehen. Die Vorgeschichte hatte auf einer Konferenz von Saul Friedländer im Wissenschaftskolleg zum Themenkomplex „Geschichte und Gedächtnis“ stattgefunden, in der Betroffenheit und Kontroverse zu einer lebhaften Auseinandersetzung geführt hatten. Habermas plädierte für eine symbolfreie Erinnerung, da wir ja mit Auschwitz einen ewig mahnenden Erinnerungsort haben. Freilich sollte ihn das Holocaust-Denkmal eines Besseren belehren, das jedes Jahr Tausende von Besuchern nach Berlin zieht.

1989 und die Folgen

1989 erwischt Habermas auf falschem Fuß: Seine tiefe Skepsis gegenüber der Wiedervereinigung positioniert ihn im politischen Diskurs urplötzlich am Rande. „Nachholende Revolution“ und vor allem das böse Diktum des „DM-Nationalismus“, das Felsch nicht erwähnt, wurde von ostdeutscher Seite nur mit Kopfschütteln quittiert. Der postnationale Denker, so Felsch, tat gerademal so, als ob die „Bewohner einer fernen asiatischen Despotie in seine politische Kultur“ (S. 165) integriert werden müssten. Die erste gelungene, friedliche Revolution der Deutschen wurde so aus Angst vor der Rückkehr des fatalen Nationalismus diskursiv vergällt. Der Altbundesrepublikaner Habermas, dem „re-education“ und die Demokratisierung Deutschlands stets am Herzen lagen, konnte daher, folgt man Felsch, in den 1990er-Jahren den Ausweg nur in einer sich stets weiter vertiefenden EU als „die Fortsetzung der Westorientierung mit anderen Mitteln“ (S. 169) sehen. Den Höhepunkt seiner Karriere erlebte Habermas schließlich 1999, als er den Theodor-Heuß-Preis und kurz darauf den Friedenspreis erhielt. Er, der seinem Selbstverständnis nach nie ein Staatsphilosoph wie Hegel sein wollte, wurde von der ZEIT plötzlich als „Hegel der Bundesrepublik“ (S. 174) gefeiert.

Am Ende seines Parcours durch die Lebenswelt von Habermas diskutiert Felsch dessen Verhältnis zum Krieg durch einen Sprung in die Jetztzeit. Aus seiner Grundhaltung des Pazifismus tritt Habermas für Verhandlungen im Ukraine-Krieg und für einen Waffenstillstand in Palästina ein. Anknüpfend an Kants „weltbürgerlichen Zustand“ und eine Art von „Weltinnenpolitik“ (Carl Friedrich von Weizsäcker) plädiert er für einen Rechtspazifismus, in dem der Sicherheitsrat, der internationale Strafgerichtshof in Den Haag und eine internationale Polizeitruppe für Ordnung in der Welt sorgen sollen. Schön wär‘s, wenn das nur so einfach wäre. Weder das aggressive Russland, das den Krieg als „die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ (Clausewitz) zelebriert, noch das imperiale China lassen sich in ihren Expansionsgelüsten vom Ruf nach Frieden beeindrucken. Die wertegeleitete Außenpolitik als Endmoräne Habermas‘scher Erziehungsarbeit scheint sich nach der „Zeitenwende“ als stumpfes Schwert zu erweisen. Und das, obwohl Frieden, Freiheit und Demokratie natürlich für die ganze Welt wünschenswert wären. Aber wie Erik Olin Wright[18] gezeigt hat, gehört zum Realismus einer Utopie nicht nur ihre Wünschbarkeit, sondern stets auch ihre Machbar- und Erreichbarkeit.

Am Ende seiner Bemühungen um den „Philosophen“ kehrt Felsch ein zweites Mal nach Starnberg zurück und sieht sich dort über „das düstere Szenario vom Abstieg des Westens“ (S. 186) belehrt. „Schritt für Schritt“, so das Fazit des 94-jährigen, ginge alles das, für das er zeitlebens gestanden hätte, verloren. „Es ist bestürzend, Habermas – den letzten Idealisten – so fatalistisch zu erleben.“ (S. 187)

Felsch und wir

Philipp Felsch hat sich viel Mühe gegeben, Leben und Werk des „Philosophen“ in kürzester Zeit zu durchdringen und dessen Schaffen im Kontext seiner Zeit zu beleuchten. Seine launige Erzählkunst und sein flüssiger Stil bringen uns den Doyen der kritischen Theorie in seinem Porträt nochmals näher. Gerade weil Habermas ein herausragender Protagonist und wichtiger Repräsentant der alten Bundesrepublik war, lernt man eine Menge über die mühsamen Versuche, den Deutschen die liberale Demokratie beizubringen. Die tragende Rolle als „public intellectual“, der sich in zahlreichen Auseinandersetzungen durchgekämpft und am Ende erfolgreich durchgesetzt hat, wird von Felsch herausgearbeitet. Auch Brüche, Widersprüche und Neujustierungen, die sich im Denken und Schreiben von Habermas finden, werden beleuchtet, wenn auch nicht immer erklärt. Das liegt, wie erwähnt, daran, dass das Werk selbst im Buch weitgehend unbehandelt bleibt, seine Vielschichtigkeit nicht zufriedenstellend aufgeschlüsselt wird. Allerdings existiert eine Fülle von Fach- und Sekundärliteratur, die dahingehend konsultiert werden könnte. Und doch gilt es abschließend ein doppeltes Paradox mit Blick auf den schnittigen Buchtitel zu konstatieren. Erstens wird der „Philosoph“ ohne Philosophie präsentiert, weil seine kritische Gesellschaftstheorie nicht entfaltet wird. Stattdessen wird Habermas, der Intellektuelle, vorgestellt. Dann sollte das Buch aber auch so heißen: Der Intellektuelle. Und, zweitens, wer ist „Wir“? Nach dem Homestory-Intro scheinen es Habermas und Felsch zu sein. Oder ist es die poststrukturalistische Generation, die nochmals auf Habermas und die alte Bundesrepublik zurückschaut? Insofern verspricht der Titel mehr, als das Buch schlussendlich hält.

Und dennoch: Wenn es Felschs Studie gelingen sollte, gerade bei der jüngeren Generation Neugier auf den Philosophen und Soziologen Habermas zu wecken, dann würde das einen Bestseller allemal rechtfertigen. Insofern darf man dem Buch, gerade in diesen theoriefernen Zeiten und seiner eigenen Theorieaskese zum Trotz, viele Leserinnen und Leser wünschen.

  1. Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, Frankfurt am Main 2016.
  2. Philipp Felsch, Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung, München 2022.
  3. Es sei denn, man versucht mit aller Macht die eigene Rezeption zu steuern, wie das Pierre Bourdieu getan und der Rezensent es am eigenen Leib erfahren hat. 1987, als Kennedy-Fellow an der Harvard-University, bekam ich die Anfrage von Anthony Giddens und John Thompson (Polity Press, Cambridge), eine kleine Einführung zu Bourdieus Werk zu schreiben. Die hatte ich bereits fertig als ein langes Kapitel meines späteren Buches „Sozialstruktur und Lebensstile. Der neuere Diskurs über soziale Ungleichheit“ (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992). Leider schickte Thompson mein Exposé an Bourdieu, der mich daraufhin nach Paris einlud, um mir bei meinem Buch „behilflich“ sein zu können. Die Generosität des Angebots war überwältigend: Position bei ihm, Wohnung in Paris und das Versprechen intensiver Zusammenarbeit. Dieser attraktiven wie disziplinierenden Einladung konnte und wollte ich nicht Folge leisten, weil ich nach der Rückkehr aus den USA bei M. Rainer Lepsius und Wolfgang Schluchter in Heidelberg habilitieren musste. So wurde das Buchprojekt eine einzige Hängepartie, bis ich meinen Vertrag entmutigt an Polity Press zurückgesandt habe. Das Ende vom Lied: Es gab zunächst keine von Bourdieu autorisierte Einführung, bis sein Schüler Loic Wacquant die Initiative ergriff, um mit Bourdieu „An Invitation to Reflexive Sociology“, Chicago 1992 (dt., Reflexive Anthropologie, Frankfurt am Main 1996) zu publizieren. Erst nach Bourdieus Tod und unbeeinflusst von seiner wohlwollenden Intervention habe ich den Versuch einer Gesamtwürdigung unternommen, nicht für Polity Press, sondern für Suhrkamp: Hans-Peter Müller, Pierre Bourdieu. Eine systematische Einführung, Berlin 2014.
  4. So Felsch, Anmerkung 10, S. 197. Vielmehr verweist er hier auf das Standardwerk von Stefan Müller-Doohm, Jürgen Habermas. Eine Biografie, Berlin 2014.
  5. Jürgen Habermas, Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken. Unveröffentlichte Inauguraldissertation, Bonn 1954.
  6. Hauke Brunkhorst, Regina Kreide, Cristina Lafont (Hg.), Habermas-Handbuch, Stuttgart 2009.
  7. Das ist vielleicht auch ein interessantes Generationsphänomen. Im Gegensatz zum Autor, der sich Habermas nur indirekt über die Foucault-Linie bewusst gemacht hat, ist meine Generation mit ihm als wissenschaftlichem Sozialisationsagenten groß geworden. Habermas hat ein gerüttelt Maß Anteil, dass ich nicht gewöhnlicher Ökonom (das bin ich auch, aber wenigstens Sozioökonom), sondern Soziologe geworden bin. Allerdings haben die jugendlichen Emanzipationsbestrebungen, die meine Generation mit Habermas nochmals intellektuell wunderbar durchleben konnte, immer ein kritisches Korrektiv durch Hans Albert und Karl Popper gefunden, wie sie die Heidelberger Schule (Horst Reimann) in Augsburg durch Soziologen wie Bernard Giesen, Richard Münch und Michael Schmid uns nahegebracht haben. Immerhin gab es einen historischen Moment, wo Heidelberg und Starnberg in einem neuen Münchner Max-Planck-Institut für Sozialwissenschaften unter Leitung von Habermas und Schluchter hätten Wirklichkeit werden können, bis ein Abend in einer Düsseldorfer Altstadtkneipe nach Schluchters Rückzug dieser Vision ein abruptes Ende bereiten sollte. Das hätte dem großen Theorieprojekt nochmals einen grandiosen Schub verliehen.
  8. Jürgen Habermas, Die Scheinrevolution und ihre Kinder, in: ders., Kleine politische Schriften I–IV, Frankfurt 1981, S. 249–260.
  9. Siehe Nicole Holzhauser, Stephan Moebius, Andrea Plode (Hg.), Soziologie und Krise. Gesellschaftliche Spannungen als Motor der Geschichte der Soziologie, Wiesbaden 2023 und Johannes Kiess, Jenny Preunkert, Martin Seeliger, Joris Steg (Hg.), Krisen und Soziologie, Weinheim-Basel 2023.
  10. Freimut Duve, Heinrich Böll, Heinz Staeck (Hg.), Briefe zur Verteidigung der Republik, Hamburg 1977.
  11. Talcott Parsons, The Theory of Social Action. 2 Bde., New York 1967.
  12. Karl Markus Michel, über Jürgen Habermas, Die Theorie des kommunikativen Handelns, in: Der Spiegel vom 21.03.1982. Selten lag einer der besten Lektoren der alten Bundesrepublik neben Kurt Scheel so falsch wie mit dieser vernichtenden Rezension.
  13. Wolfgang Schluchter, Grundlegungen der Soziologie. 2 Bde., Tübingen 2009. Siehe zu dieser Problematik eines solchen kumulativen Theorieprogramms Hans-Peter Müller / Steffen Sigmund (Hg.), Theoriegeschichte in systematischer Absicht. Wolfgang Schluchters „Grundlegungen der Soziologie“ in der Diskussion, Tübingen 2017.
  14. Wer einen Höhepunkt dieses Unternehmens nochmals besichtigen möchte, konsultiere das 50-jährige Jubiläum der Dissertation von Talcott Parsons (1929–1979) in Heidelberg. Siehe Wolfgang Schluchter (Hg.), Verhalten, Handeln und System. Talcott Parsons‘ Beitrag zur Entwicklung der Sozialwissenschaften, Frankfurt am Main 1980. Hier saßen die Verfechter eines solchen Theorieprogramms an einem Tisch und haben mit dem amerikanischen Altmeister intensiv diskutiert. Für mich als jungem Doktoranden war das der Höhepunkt meiner Heidelberger Zeit, denn selten ist danach auf einem so gewichtigen Theorieniveau diskutiert worden. Die seinerzeit verlorengegangene Dissertation von Parsons, deren 50-jähriges Jubiläum begangen wurde, ist mittlerweile wiederaufgetaucht und von Uta Gerhardt herausgegeben und kommentiert worden. Talcott Parsons, Kapitalismus bei Max Weber – zur Rekonstruktion eines fast vergessenen Themas, Wiesbaden 2019.
  15. Ironischerweise waren es die Berkeley-Sommersemester von Wolfgang Schluchter, der ja an Stelle von Habermas dort Theorie unterrichtete, die es erlaubten, die „Habermäuse“, wie wir die in Starnberg zurückgelassene Assistentenschaft des Großmeisters nannten, mit Lehrstuhlvertretungen in Heidelberg im wissenschaftlichen Spiel zu halten und Klaus Eder und Max Miller den Zugang zu einer Professur zu eröffnen.
  16. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main 1992.
  17. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985. Auch hier setzt Habermas wieder mit Webers Diagnose ein und nutzt auch dessen Begriff des okzidentalen Rationalismus als Erklärungsmodell.
  18. Erik Olin Wright, Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus, Berlin 2017.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Hannah Schmidt-Ott.

Kategorien: Geschichte Gesellschaft Gesellschaftstheorie Kritische Theorie Philosophie Politik

Hans-Peter Müller

Prof. Dr. Hans-Peter Müller ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Arbeitsgebiete umfassen u. a. klassische und moderne Sozialtheorie, Sozialstruktur und Soziale Ungleichheit, Kultur und Lebensführung.

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