Ingolfur Blühdorn | Essay | 04.04.2024
Transformationspolitik in der Falle
Vorabdruck aus „Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne“ von Ingolfur Blühdorn
„Ja, mach nur einen Plan / Sei nur ein großes Licht / Und mach dann noch ’nen zweiten Plan / Gehn tun sie beide nicht.“ Diese bekannte Strophe aus Bertolt Brechts „Lied von der Unzulänglichkeit des menschlichen Strebens“ beschreibt gewissermaßen in a nutshell die dilemmatische Zeitdiagnose, von der Ingolfur Blühdorns Buch „Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne“ seinen Ausgang nimmt. Dieser Diagnose zufolge befinden sich nicht nur die westlichen Gesellschaften gegenwärtig in einer tiefen, ihre politische Freiheit und ihren wirtschaftlichen Wohlstand bedrohenden Krise, sondern auch die ökoemanzipatorischen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Gruppen, die Ende der Siebzigerjahre angetreten waren, um diese Gesellschaften zu transformieren.
Ausgehend von diesem Befund fragt der Politikwissenschaftler Blühdorn nach den Zukunftsoptionen der westlichen Demokratien angesichts von Krieg und Klimawandel, Pandemie und Populismus. Wie wird es sich leben in Gesellschaften, die wider besseres Wissen weiter über ihre Verhältnisse und auf Kosten anderer leben; die sich stillschweigend von den selbstgesteckten Klimazielen verabschiedet haben und deren Wirtschaftsweise die planetaren Grenzen ignoriert; in denen Menschenrechte relativiert werden und Freiheitsrechte einen zunehmend exklusiven Charakter annehmen; die an Lebensstilen festhalten, deren Unhaltbarkeit längst erwiesen ist?
Mit seinem Versuch, die Umrisse dieser „anderen Moderne“ zu konturieren, schließt Blühdorn nicht zufällig an Ulrich Becks Projekt einer „reflexiven Modernisierung“ an, wenn auch mit deutlich weniger Optimismus. Dem Soziologen Beck ging es bekanntlich darum, über die negativen Nebenfolgen der von ihm als „Risikogesellschaft“ diagnostizierten Moderne aufzuklären und Transformationsprozesse anzustoßen, die den Übergang in eine freiere, gerechtere und inklusivere zweite Moderne ermöglichen sollten. Demgegenüber will Blühdorn zeigen, wie und warum diese Bemühungen scheiterten und in eine dritte Moderne münden, die hinter den in sie gesetzten Erwartungen zurückbleibt.
„Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne“ erscheint am 15. April 2024 im Suhrkamp Verlag. Wir danken Herrn Blühdorn und dem Verlag für die freundliche Genehmigung eines Vorabdrucks von Teilen des 2. Kapitels. Eine frühere Version des Abschnitts „Transformationspolitik in der Falle“ ist im Rahmen des Aufsatzes „Unsere Freiheit, unser Wohlstand“ im „Jahrbuch Kulturpolitik 2021/22“ erschienen.
– Die Redaktion
Die spätmoderne Konstellation unterscheidet sich insofern grundsätzlich von früheren Krisenphasen. Ihre Besonderheit lässt sich nicht mit dem Hinweis vom Tisch wischen, dass es immer schon Untergangsstimmungen gegeben habe und sich noch immer eine Lösung gefunden habe. Eine »undogmatische und differenzierte« Betrachtung zeigt vielmehr: Moderne Gesellschaften sitzen mit ihrem Transformationsprojekt in mehrfacher Hinsicht fundamental in einer Falle. Der Abgrund, von dem António Guterres 2021 sprach, die Dringlichkeit einer sozialökologischen Transformation, die die Grundstrukturen moderner Gesellschaften und ihrer Naturverhältnisse neu aushandelt, mögen bedrohlicher bzw. größer sein denn je, doch die Transformationsfähigkeit und -willigkeit spätmoderner Gesellschaften wird durch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren erheblich beeinträchtigt:
1. Diese Gesellschaften befinden sich längst in einem Strudel, in dem sie kaum mehr für die Zukunft planen und steuern können, sondern stark gegenwartsfixiert vor allem darum bemüht sind, die unmittelbaren Folgen der immer schneller aufeinanderfolgenden Krisen wenigstens halbwegs in den Griff zu bekommen. Dabei müssen sie immer gründlicher abwägen, ob es sich lohnt, die verfügbaren Mittel für langfristige Projekte der sozialökologischen Transformation zu investieren oder für die kurzfristige Bekämpfung der jeweils akuten Katastrophenfolgen. Gerade in der Demokratie werden längerfristige Transformationsprojekte politisch immer schwerer umsetzbar, denn angesichts jeweils unmittelbar akuter Notstände sind demokratische Mehrheiten für derartige Projekte nicht leicht zu mobilisieren und noch schwerer zu stabilisieren.
2. Eine sozialökologische Transformation, die ein gutes Leben für alle sichert, würde eine massive Verminderung des Konsums, eine Beschränkung der Ansprüche und Erwartungen in praktisch allen Lebensbereichen, eine Abkehr von vielen Gewohnheiten erfordern, weit über das hinaus, was heutige Bürgerinnen und Bürger als notfalls entbehrlichen Luxus empfinden – und keineswegs nur für eine relativ kleine Oberschicht. Denn »selbst bei einem nur minimal-komfortablen Lebensstil überschreiten die Konsumenten im Globalen Norden bei Weitem alle Zielwerte der Pro-Kopf-Emissionen«.[1] Doch spätmoderne Gesellschaften sind festgelegt auf Infrastrukturen und Praktiken, auf Verständnisse von Freiheit und Selbstbestimmung und auf konsum- und erlebnisbasierte Muster der Selbstkonstitution und Selbsterfahrung, die jede Form von Reduktion zur extremen Belastung machen. Gerade durch den Siegeszug des Neoliberalismus haben sich Verständnisse von Freiheit und Selbstverwirklichung verfestigt, die jede politische Regulierung als inakzeptable Einmischung in die Sphäre des Privaten betrachten. Dieses Entgrenzungsprojekt hat die planetaren Grenzen enorm (über)beansprucht und dabei gleichzeitig die Potenziale für eine kollektive Selbstbegrenzung erheblich vermindert.
3. Tatsächlich sind nach Jahrzehnten des Marktliberalismus auch in insgesamt wohlhabenden Gesellschaften die sozialen Ungleichheiten so groß, dass eine Nachhaltigkeitswende nicht nur durch staatliche Interventionen, sondern auch vermittels »ehrlicher Preise«, also über die Internalisierung bisher externalisierter sozialer und ökologischer Kosten und über den Markt kaum mehr möglich ist. Wenn der Staat mit begrenzenden Vorschriften interveniert, mobilisiert er unvermeidlich die Teile der Gesellschaft, die solche Interventionen und das Projekt einer SÖT insgesamt ablehnen. Die Möglichkeiten des entpolitisierten Marktes sind aber nicht weniger begrenzt, denn für wesentliche Teile der Gesellschaft wären ökologisch und sozial nachhaltige Preise nicht mehr bezahlbar und unmittelbar mit einem deutlichen Abbau des Lebensstandards und mit sozialer Exklusion verbunden. Das bringt Sozialverbände, Rechtspopulisten und viele andere Akteure auf den Plan. Die jüngsten Konflikte um die gestiegenen Energiepreise und die Inflation im Allgemeinen zeigen das deutlich an. Selbst für Besserverdienende würden sozialökologische Preise einen erheblichen Einbruch ihres gewohnten Lebensstandards bedeuten. Begrenzung, Schrumpfung und Verzicht sind jedoch ein Tabu; eine absolute Reduktion etwa des Mobilitäts-, Elektronik-, Wohnraum- oder Energiebedarfs steht jenseits sehr marginaler Gruppen nicht zur Debatte.
4. Jahrzehntelang haben soziale Bewegungen und wissenschaftliche Experten auf dezentrale, partizipative, konsensorientierte und flexible Politikansätze als den aussichtsreichsten Weg zu einer Nachhaltigkeitstransformation gesetzt. Governance wurde zur Norm, und Government, also staatliche Reglementierung durch gesetzliche Ge- und Verbote, wurde zum Schmähwort. Vertreter des Marktliberalismus haben sich diesen Trend zunutze gemacht und vehement mehr individuelle Selbstverantwortlichkeit gefordert. Inzwischen wird jedoch klar, dass die Möglichkeiten der neuen, dezentralen, partizipativen Politik erheblich überschätzt worden sind. Viele Klimaaktivisten und Nachhaltigkeitsforscher fordern nun wieder den starken, handlungsfähigen Staat, doch der ist durch die neoliberale Ideologie nachhaltig geschwächt worden. Transnationale Organisationen wie die EU wiederum sind gerade seit der Rückbesinnung auf den Nationalstaat und die Priorisierung nationaler Interessen umweltpolitisch sehr viel weniger handlungsfähig.
5. Zudem besteht in modernen Gesellschaften ein strukturelles Missverhältnis zwischen der Idee einer sozialökologischen Transformation und den Möglichkeiten ihrer praktischen Umsetzung. Entsprechende Forderungen werden aus der Perspektive von Bürgerinnen und Bürgern und deren Erfahrung der Verletzung ihrer sozialökologischen Wertmaßstäbe formuliert. Bearbeitet werden solche Problemwahrnehmungen und Forderungen aber primär auf der Ebene der gesellschaftlichen Funktionssysteme – Recht, Wissenschaft, Wirtschaft, Medien etc. –, die jeweils ihrer eigenen Logik unterliegen, aus der sie nicht ausbrechen können und die untereinander nicht synchronisiert sind. Diese Koordination wird gemeinhin von der Politik erwartet. Die jedoch bleibt ihrerseits in der ihr eigenen Logik des Machtgewinns oder -erhalts gefangen. Edward Goldsmith hatte auf diese Schwierigkeit bereits Anfang der siebziger Jahre hingewiesen.[2] Niklas Luhmann hat sie in den achtziger Jahren gründlich ausgeführt.[3] In jüngster Zeit hat gerade die Pandemie gezeigt, in welchem Maße moderne Gesellschaften mit der Bewältigung ihrer Krisen strukturell überfordert sind: Die Vielfalt und Komplexität der Wertepräferenzen erschwert die konsensuelle Problembestimmung und stabile Prioritätensetzung. Die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Logiken der gesellschaftlichen Funktionssysteme, die die Probleme praktisch bearbeiten müssen, bedeutet eine große Hürde für die koordinierte und konsequente Problemlösung.[4] Das Bemühen, den Imperativen der sozialökologischen Transformation dadurch mehr Legitimität und Durchsetzungskraft zu verschaffen, dass man wie Fridays for Future »Listen to the science!« fordert, ist der Versuch, aus diesem Dilemma auszubrechen. Doch auch die Wissenschaft hat keine herausgehobene Stellung. Auch sie spricht mit vielen Stimmen, und in modernen Gesellschaften haben Wissenschaftsskepsis, »alternative Fakten« und postrationale Sinnerzählungen Konjunktur.
6. Und schließlich steht die Bewältigung der vielfältigen begrenzteren Krisen auch noch zunehmend im Schatten des neuen geopolitischen Großkonflikts zwischen China und dem Westen bzw. dem Wettbewerb zwischen liberal-demokratischen und autokratisch-autoritären Systemen um die globale Vorherrschaft.[5] Dieser Systemwettbewerb verstärkt den Konkurrenz- und Wachstumsdruck erneut. Nachhaltigkeits- und Transformationsprojekte müssen sich in diese Logik einfügen.
All dies bedeutet freilich nicht, dass es in heutigen Gesellschaften für ökologische Reformen keinerlei Spielraum gäbe. Die florierende internationale Dekarbonisierungsindustrie ist der beste Gegenbeweis. Doch für ein Aussetzen der Logik von Wachstum, Wettbewerb, Ausbeutung und Effizienz, für eine absolute Begrenzung und Reduktion der Ansprüche, Erwartungen, Bedürfnisse und für eine entschiedene soziale Umverteilung, die ein gutes Leben für alle ermöglichen würde, wird es tatsächlich eng. Für eine sozialökologische Transformation zur Nachhaltigkeit, die über heutige Dekarbonisierungsbemühungen weit hinausgehen müsste, wären genau diese Parameter aber unverzichtbar. Entsprechend ist eine solche Transformation aus strukturellen Gründen nicht zu erwarten. António Guterres' Warnungen, dass »unsere Welt noch nie so bedroht war wie heute« und wir »vor der größten Kaskade von Krisen stehen, die wir je erlebt haben«, sind ohne Zweifel berechtigt. Doch von der hier artikulierten Dringlichkeit und Notwendigkeit einer sozialökologischen Transformation auf die gesellschaftliche Möglichkeit und Fähigkeit zu einer solchen Transformation zu schließen, ist, wie Luhmann schon vor Jahrzehnten zeigte, verfehlt.[6] Die gängigen Appelle, dass »wir« angesichts der jeweils aktuellen Krise nun »unbedingt gemeinsam, sofort und entschieden handeln« müssen, dass es nun Zeit sei, »endlich vom Reden zum Handeln zu kommen«, haben vor allem Bekenntnis-, Erlebnis- und Beruhigungscharakter. Sie bedienen moralische und psychologische Bedürfnisse, beruhen aber auf einem völlig unzureichenden Verständnis spätmoderner Gesellschaften. Bereits in den achtziger Jahren beschrieb Ulrich Beck dieses Dilemma als das »System der organisierten Unverantwortlichkeit«, dessen Merkmal gerade dieser Widerspruch »zwischen systemimmanent erzeugten und systemimmanent nicht zurechenbaren, nicht verantwortbaren, nicht bearbeitbaren Gefahren« ist.[7] Dieser Widerspruch bedeutet, dass solche Appelle nicht nur auf ihren Erlebniswert und ihre Beruhigungsfunktion beschränkt bleiben, sondern durch stetige Wiederholung – Aufrufe, Weckrufe, Notrufe – letztlich Überforderungs- und Erschöpfungssyndrome erzeugen. Denn in der spätmodernen Konstellation sind die Rahmenbedingungen für eine sozialökologische Transformation, wie viele Bewegungen und Sozialwissenschaftler sie weiterhin einfordern, noch sehr viel ungünstiger, als sie es schon damals waren.
Zerplatzte Illusionen
Damit wird deutlich: Auch – oder gerade – wenn man die pessimistische Rhetorik vom Untergang der Menschheit und die Hoffnungserzählungen der vielen »Umweltschriftsteller«[8] gleichermaßen skeptisch sieht und sich stattdessen bemüht, »eine undogmatische und differenzierte Perspektive zu entwickeln«, hat die aktuelle Krise eine besondere Qualität. Sie liegt darin, dass sich in der spätmodernen Gesellschaft nicht nur insgesamt die Hoffnung als unhaltbar erweist, dass in den vielen Krisen auch eine Chance für eine sozialökologische Transformation liege, sondern dass ganz konkret auch zahlreiche Annahmen und Glaubenssätze zerfallen, die für das ökoemanzipatorische Projekt konstitutiv waren und die die sozialen Bewegungen seit den siebziger Jahren breitenwirksam gesellschaftlich verankert hatten. Diese Annahmen und Glaubenssätze erscheinen mit einem Mal als überholt, naiv, idealistisch und illusionär. Damit zerbricht ein komplettes Identitäts-, Lebens-, Gesellschafts- und Weltverständnis.
Tatsächlich erscheint die gesamte Palette der Ideale der ökoemanzipatorischen Bewegungen heute plötzlich als Illusion, und ein Narrativ bekommt Konjunktur, das zur Legitimation und Sicherung der nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit dringend benötigt wird: Als im Herbst 2019 die Gruppe Fridays for Hubraum gegen die Fridays-for-Future-Bewegung polemisierte, war dieses Narrativ noch eine Randerscheinung und fand wenig gesellschaftliche Akzeptanz. Ein Jahr später, im Vorfeld der deutschen Bundestagswahl 2021, bei der über alle Parteigrenzen hinweg die Frage der Sicherung des Wohlstands einen zentralen Stellenwert hatte, fand die liberale Sorge, die Grünen wollten »unsere Industrienation zu einem Bullerbü mit Lastenfahrrädern machen«, bereits sehr viel breiteren Widerhall.[9] Wiederum ein Jahr später zeigte die breite gesellschaftliche Kritik am »Klimaterror« der Aktivistinnen und Aktivisten der Letzten Generation, wie grundlegend der gesellschaftliche Diskurs sich verändert hatte – wobei freilich oft betont wurde, die Klimaaktivisten hätten in der Sache sicher recht, die gewählten Mittel seien aber inakzeptabel. Wer dem Projekt einer SÖT gegenüber schon zuvor ambivalent gewesen war oder die Forderung nach einem grundlegenden gesellschaftlichen Strukturwandel aus der neuen Situation heraus zunehmend skeptisch sah, nutzte die Gunst der Stunde – in jeder Krise liegt eben eine Chance – für die Verbreitung und Verankerung vermeintlich »zeitgemäßerer« und »realistischerer« Vorstellungen, die für die Verteidigung des Status quo dringend benötigt werden. Für sie hatte die breite Kritik an den Aktionen der Letzten Generation etwas Erleichterndes, Entlastendes, Erlösendes, Befreiendes:[10] Endlich gab es einen gesellschaftlich akzeptierten Grund, sich von der Klimabewegung zu distanzieren. Wer hingegen versucht, an den Hoffnungen, Glaubenssätzen und Prinzipien des ÖEP festzuhalten, macht die traumatische Erfahrung, dass dieses Projekt nicht nur von seinen politischen Gegnern demontiert wird, sondern wegen seiner inneren Widersprüchlichkeit auch aus sich selbst heraus immer brüchiger wird.
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine und der von Bundeskanzler Scholz ausgerufenen »Zeitenwende« war in Deutschland zunächst die Abkehr vom Pazifismus der Boomer-Generation die Speerspitze dieser Diskurswende. Die Kritik an der NATO, die Forderung nach umfassender Abrüstung sowie die drastische Beschränkung der Verteidigungsausgaben, der Rüstungsindustrie und der Rüstungsexporte hatten seit der Friedensbewegung der frühen achtziger Jahre ebenso zum Grundbestand des ÖEP gehört wie die Dimensionen der Ökologisierung, der Emanzipation und der Demokratisierung. Schwerter sollten zu Pflugscharen werden. »Frieden schaffen ohne Waffen!« Bereits seit dem Kosovokrieg (1998/99) stand dieser Pazifismus in der Kritik. Später kritisierte Donald Trump, gerade die Deutschen hätten es sich unter einem militärischen Schutzschirm bequem gemacht, zu dessen Finanzierung sie wenig beitrügen, in dessen Schutz sie aber umfassende Handelsbeziehungen zu Ländern entwickelt hätten, die dem Westen feindlich gegenüberstünden. Im Zeichen des russischen Angriffs auf die Ukraine wurde dieser Pazifismus – ähnlich wie in Österreich der Neutralitätsstatus – zum Gegenstand heftiger Kritik. Vollmundig verkündete etwa Armin Nassehi mit Verweis auf all diejenigen, »die in den 1980er Jahren auf Sitzdemos gegen den NATO-Doppelbeschluss demonstriert haben und das vorherige Antigewalttraining für eine sicherheitspolitische Aktion gehalten haben«: »Biografisch schäme ich mich für kaum etwas mehr, als mit Anfang zwanzig bei solcher Verblendung mitgemacht zu haben.«[11] Was für eine ganze Generation identitätsstiftend und der Ausdruck einer tieferen Einsicht gewesen war, wurde plötzlich also zur »Verblendung« erklärt – und zwar von einem der führenden Soziologen der Gegenwart.
In der ökologischen Dimension des ÖEP erweist sich angesichts der jüngsten Entwicklungen zum Beispiel der Glaube als Illusion, das Ökologiethema könne ein einendes, kollektivierendes Menschheitsthema sein. Die Bewegungen hatten stets geglaubt und gehofft, auch eine pluralisierte, differenzierte und multikulturelle Welt werde – und müsse – in globalen Risiken und Bedrohungen wie dem Klimawandel einen gemeinsamen normativen Bezugspunkt erkennen, zu einer gemeinsamen globalen Vernunft finden und zu einer Risikogemeinschaft verschmelzen.[12] Angesichts der identitären, spaltenden und radikal polarisierenden Verschwörungs-, Querdenker-, Diversitäts- und Cancel-Kulturen innerhalb spätmoderner Gesellschaften; angesichts der Handlungsschwäche und des Zerfalls der EU oder der UN und vor dem Hintergrund eines neuen kalten Krieges mit China erscheint dieser Glaube allerdings als vollständig illusorisch. »Von der Natur zu sprechen heißt nicht, einen Friedensvertrag zu unterschreiben«, schrieb Bruno Latour ernüchternd richtig. »Die Natur eint nicht, sie trennt.«[13] Auf den jährlichen UN-Klimakonferenzen wird der Interessenkonflikt zwischen den verschiedenen Ländern immer sichtbarer und unversöhnlicher. Und auch innergesellschaftlich ist gerade das Thema der sozialökologischen Transformation längst zum großen Polarisierungs- und Spaltungsthema avanciert. Während für manche Teile der Gesellschaft die eigene Solaranlage und das Elektroauto ein Mittel der ökologischen Distinktion und Ausdruck des ökologischen Bemühens sind, kritisieren andere – keineswegs nur am rechten Rand – das Projekt der sozialökologischen Transformation als antisoziale Agenda privilegierter Eliten.[14]
Damit erweist sich auch der Glaube an eine vernunft- und moralgeleitete, kollektive Selbstbegrenzung zugunsten eines »guten Lebens für alle« als Illusion. Sie kann schon deshalb nicht gelingen, weil inzwischen auch der Glaube an die informierten, urteilsfähigen, mündigen und verantwortlichen Bürgerinnen und Bürger, die im zivilgesellschaftlichen Zusammenschluss das gute Leben für alle organisieren könnten, brüchig geworden ist. Hatten die ökologisch-emanzipatorischen Bewegungen seit den siebziger Jahren noch fest an das Projekt der wahrhaft aufgeklärten, vernünftigen, partizipativen und kollektiv verantwortlichen Selbstregierung geglaubt, die ganz wesentlich auch eine vernunftgeleitete gesellschaftliche Selbstbegrenzung organisieren sollte, stecken die Umweltbildung und -erziehung heute in einer tiefen Krise. Gegenwärtige Freiheits-, Identitäts- und Emanzipationsbewegungen – ob marktliberaler, rechtspopulistischer oder »querdenkerischer« Provenienz – verfolgen mitunter gänzlich andere Agenden. Sie alle sind Teil der Zivilgesellschaft und verstehen sich als »emanzipatorisch«, aber keineswegs im Sinne des ÖEP.
Ebenso erweist sich die Überzeugung als unhaltbar, dass mehr Demokratie unbedingt zu mehr Nachhaltigkeit führe. In der Annahme, die Zivilgesellschaft und insbesondere sie selbst würden das wahrhaft Vernünftige vertreten, hatten die Bewegungen immer fest daran geglaubt, dass eine Ausweitung der Möglichkeiten zur politischen Partizipation und insgesamt eine Demokratisierung der Demokratie der aussichtsreichste Weg zu einer umfassenden Nachhaltigkeitswende seien. Inzwischen erhärtet sich aber der Verdacht, dass dies bestenfalls eingeschränkt der Fall ist. Stattdessen spricht viel dafür, dass gerade der politische Druck für mehr demokratische Teilhabe immer schon ein wesentlicher Motor der fossilen Wachstumswirtschaft war sowie auch der fortgesetzten Externalisierung sozialer und ökologischer Kosten.[15] Umgekehrt gilt zwar auf keinen Fall, dass der Abbau demokratischer Rechte und Institutionen eine Nachhaltigkeitswende begünstigen würde. Tatsächlich sind aber Demokratien qua Demokratien in besonderem Maße verantwortlich für die rasante Beschleunigung des Rohstoffverbrauchs und der Umweltzerstörung seit den fünfziger Jahren. Der emanzipatorische Kampf für mehr Gleichheit, Teilhabe und Selbstbestimmung ist eine wesentliche Ursache für die davonlaufende Umweltkrise. Und gerade im Strudel der aktuellen Krisen wird die Demokratie zur »gläsernen Decke«[16] der transformativen Politik und zum wesentlichen Legitimationsinstrument für die fortgesetzte Nicht-Nachhaltigkeit.[17]
Die Liste dieser traumatischen Desillusionierungen ließe sich fortsetzen. Aber die angeführten Beispiele illustrieren bereits hinreichend, in welchem Maße in der Spätmoderne grundlegende Glaubenssätze des ÖEP unhaltbar geworden sind. Immer offensichtlicher wird stattdessen, dass die ökoemanzipatorischen Bewegungen die sozialökologische Krise nicht nur nicht lösen können, sondern sie in verschiedener Hinsicht sogar selbst verschlimmert haben: Die demokratischen Öffnungen, die sie erkämpft haben, haben die politische Gleichheit und Repräsentation zu ihren eigenen Gunsten verzerrt.[18] Gegenüber ihrer identitätspolitischen Agenda der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung haben sie die Agenda der sozialen Gerechtigkeit und materiellen Umverteilung immer zurückgestellt und damit unbeabsichtigt der Konjunktur des Rechtspopulismus Vorschub geleistet.[19] Aufgrund ihrer hoch entwickelten Verständnisse von Freiheit und Selbstverwirklichung und ihrer tendenziellen Zugehörigkeit zu bildungs- und einkommensstarken Milieus haben Bürgerinnen und Bürger mit einem großen Nachhaltigkeitsbewusstsein oft einen überdurchschnittlich ressourcenintensiven Lebensstil und großen ökologischen Fußabdruck.[20] Bestimmte Segmente der ökoemanzipatorischen Bewegungen haben in einer »unheiligen Allianz« gemeinsame Sache mit dem Neoliberalismus gemacht.[21] Und als politische, journalistische oder akademische Aktivisten haben sie mit ihren vor allem auf Mobilisierung zielenden Hoffnungsgeschichten von der großen Transformation – vielleicht unabsichtlich – zu der gefährlichen Erzählung beigetragen, moderne Gesellschaften hätten den Ernst und die Dringlichkeit der Lage voll erkannt, seien fest entschlossen, eine strukturelle Transformation zur Nachhaltigkeit einzuleiten und seien dabei auch bereits auf dem richtigen Weg. Doch genau wie in der spätmodernen Konstellation der Mythos der globalen Führungsrolle und Überlegenheit moderner westlicher Gesellschaften zusammenbricht, zerfällt innerhalb dieser Gesellschaften eben auch der Mythos von der Führungsrolle und Überlegenheit der Pioniere des ÖEP.
Damit stehen spätmoderne Gesellschaften an einem kritischen und höchst verunsichernden Punkt. Zwar beschleunigt sich die Nachhaltigkeitskrise in allen ihren Dimensionen, aber das friedensbewegte, zivilgesellschaftliche, ökologische, basisdemokratische Alternativprojekt erscheint auffällig erschöpft. Spätmoderne Gesellschaften erfahren also nicht nur konkreter denn je die Unhaltbarkeit der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung in ihren ökonomischen, sozialen, politischen, ökologischen und kulturellen Dimensionen. Sondern gleichzeitig erfahren sie auch die Unhaltbarkeit dessen, was sie bisher für die Alternative gehalten haben: das ökoemanzipatorische Projekt. Diese doppelte Grenzerfahrung ist tatsächlich ein Abgrund. Und gerade angesichts des von den progressiven Bewegungen stetig forcierten Selbstbestimmungs-, Gestaltungs- und Steuerungsversprechens ist der Blick in diesen Abgrund traumatisch.
Fußnoten
- Ian Gough, Defining Floors and Ceilings: The Contribution of Human Needs Theory, in: Sustainability: Science, Practice and Policy 16 (2020), 1, S. 208–219, hier S. 216.
- Edward Goldsmith, A Blueprint for Survival, London 1972, S. 5.
- Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation, Opladen 1986.
- Vgl. dazu auch Armin Nassehi, Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft, München 2021.
- Zu diesem Narrativ vgl. Kapitel 3.5.
- Luhmann, Ökologische Kommunikation.
- Ulrich Beck, Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, Frankfurt am Main 1988, S. 104.
- So bezeichnete Niklas Luhmann zuweilen die vielen Autorinnen und Autoren, die sich der Krise moderner Gesellschaften mit großem moralischem und politischem Engagement, aber mit einem beschränkten gesellschaftstheoretischen Verständnis nähern (Luhmann, Ökologische Kommunikation; ders., Das Trojanische Pferd. Ein Interview, in: Kai-Uwe Hellmann (Hg.), Protest, Frankfurt am Main 1986, S. 64–74.).
- Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner im Interview mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ am 1. September 2021.
- Laut einer Umfrage des „Spiegel“ waren im November 2022 große Mehrheiten der Befragten der Ansicht, die Protestformen der Klimabewegung wie Straßenblockaden oder Kunstwerkbeschmutzung gingen zu weit und sollten stärker als bisher strafrechtlich sanktioniert werden (Der Spiegel 46/2022, S. 32–39; vgl. auch »ZDF-Politbarometer« vom 3. Mai 2023).
- Armin Nassehi, Die Rückkehr des Feindes, in: Zeit Online, 25. Februar 2022.
- Vgl. dazu Kapitel 4.4.
- Bruno Latour / Nikolaj Schulz, Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Ein Memorandum, Berlin 2022, S. 10.
- Vgl. z. B. Sahra Wagenknecht, Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt, Frankfurt am Main / New York 2022.
- Vgl. z. B. David Shearman / Joseph Wayne Smith, The Climate Change Challenge and the Failure of Democracy, Westport 2007; Timothy Mitchell, Carbon Democracy. Political Power in the Age of Oil, London 2011; Andreas Malm, Fossil Capital. The Rise of Steam Power and the Roots of Global Warming, London 2016.
- Daniel Hausknost, Die gläserne Decke der Transformation. Strukturelle Blockaden im demokratischen Staat, in: Ingolfur Blühdorn, Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit: Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet, Bielefeld 2020, S. 161–189; ders., Zur Zukunft der Umweltpolitik. Die gläserne Decke der Transformation, in: Politische Ökologie 168 (2022), 1, S. 78–83.
- Vgl. Ingolfur Blühdorn, Nicht-Nachhaltigkeit auf der Suche nach einer politischen Form. Konturen der demokratischen Postwachstumsgesellschaft, in: Berliner Journal für Soziologie 28 (2018), S. 151–180; ders., Demokratie der Nicht-Nachhaltigkeit. Begehung eines umweltpolitischen Minenfelds, in: ders., Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit: Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet, Bielefeld 2020, S. 303–343; siehe auch Kapitel 3.3 und 6.4.
- Vgl. z. B. Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2016; Armin Schäfer / Michael Zürn, Die demokratische Regression, Berlin 2021; Lea Elsässer / Svenja Hense / Armin Schäfer (2021), Not just Money: Unequal Responsiveness in Egalitarian Democracies, in: Journal of European Public Policy 28 (2021), 12, S. 1890–1908.
- Vgl. z. B. Luc Boltanski / Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003; Nancy Fraser, Vom Regen des progressiven Neoliberalismus in die Traufe des reaktionären Populismus, in: Heinrich Geiselberger (Hg.), Die große Regression: Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Berlin 2017, S. 77–92..
- Vgl. z. B. Silke Kleinhückelkotten / Peter H. Nietzke / Stephanie Mose, Repräsentative Erhebung von Pro-Kopf-Verbräuchen natürlicher Ressourcen in Deutschland (nach Bevölkerungsgruppen), 39 (2016), Dessau-Roßlau 2016; Stephanie Moser / Silke Kleinhückelkotten, Good Intents, but Low Impacts: Diverging Importance of Motivational and Socioeconomic Determinants Explaining Pro-Environmental Behaviour, Energy Use, and Carbon Footprint, in: Environment and Behaviour 50 (2018), 6, S. 626–656..
- Nancy Fraser / Lara Monticelli, Progressive Neoliberalism Isn't the Solution. We Need a Radical Counter-hegemonic and Anti-capitalist Alliance. A Conversation with Nancy Fraser, in: Emancipations: A Journal of Critical Social Analysis 1 (2021), 1, Art. 2, S. 14; Carolin Amlinger / Oliver Nachtwey, Gekränkte Freiheit. Aspekte des Libertären Autoritarismus, Berlin 2022.
Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut von Karsten Malowitz.
Kategorien: Gesellschaft Gesellschaftstheorie Kapitalismus / Postkapitalismus Kommunikation Konsum Lebensformen Moderne / Postmoderne Ökologie / Nachhaltigkeit Politik Sozialer Wandel Zeit / Zukunft Zivilgesellschaft / Soziale Bewegungen
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